6580390-1951_14_06.jpg
Digital In Arbeit

Im Banne des geschauten Lebens

Werbung
Werbung
Werbung

Die ungeheure Anziehungskraft des Films haben zuerst die Geschäftsleute erkannt und auf dieser Anziehungskraft eine weltumspannende Industrie aufgebaut. Erst spät nahm der Staat den Film zur Kenntnis. Zunächst nur rein abwehrend, verbietend. Das war etwa um das Jahr 1912. Wesentlich später dämmerte die Erkenntnis auf, daß der Film auch positive Wirkungen ausübt, daß er ein Mittel zur Verbreitung von Anschauungen und Ideen sein kann. Die Gründung der Ufa 1917, die Begründung des russischen Staatsfilms 1919, die Gründung der LUCE, des staatlichen Wochenschauinstituts in Italien 1924 zeigen, daß sich Staaten und Ideengruppen des Films als Gestalter der Vorstellungswelt der Massen zu bedienen beginnen.

Der Massen ... Seit die Welt besteht, hat noch nichts eine ähnliche Massenwirkung erzielen können wie der Film. Den größten Kinobesuch weist die nordamerikanische Union auf. In ihrem Gebiet gibt es etwa 20.000 Kinos mit einem jährlichen Besuch von 4,68 Milliarden Zuschauern. Das heißt, daß der Amerikaner im Durchschnitt das Kino mehr als einunddreißigmal im Jahr besucht. Dabei ergibt sich folgende Stufung nach dem Alter der Kinobesucher. Von 100 Personen, die regelmäßig das Kino besuchen, stehen 66 im Alter unter 35 Jahren oder 41 im Alter von 15 bis 24 Jahren. Nur ein Drittel aller Kinobesucher ist älter als 35 Jahre. Der Höhepunkt des Kinobesuchs liegt im Alter von 19 Jahren. Diese Zahlen beruhen auf Untersuchungen der amerikanischen Filmindustrie zur Struktur des Publikums. Aus dem Ergebnis geht also eindeutig hervor, daß der Film vornehmlich die jüngeren Menschen anspricht.

Gilt dieses Ergebnis nur für die Vereinigten Staaten? Im Jahre 1943 wurde in England eine auf 5639 Fragebogen aufgebaute Erhebung durch das Kriegsministerium durchgeführt, um festzustellen, welcher Prozentsatz und welche Schichten der Bevölkerung durch Pro-pagandafilme in den Kinos erfaßt werden könnten. Die Erhebung ergab, daß 70 Prozent der erwachsenen Zivilisten das Kino besuchen. Einmal in der Woche und öfter besuchen ein Lichtspielhaus 32 Prozent. Dieser Durchschnitt erhöht sich bei den 14- bis 17jährigen auf 79 Prozent, bei den 18- bis 40jährigen auf 43 Prozent, erst nach dieser Altersgruppe sinkt das Verhältnis bei den 41- bis 45jährigen auf 27 Prozent, also unter die Durchschnittsziffer, und-geht mit ansteigendem Alter immer mehr zurück. Untersuchungen aus den Jahren 1946 und 1949 in England bestätigen diese Ergebnisse. Während 1949 von 100 Engländern etwa 40 jede Woche ins Kino gehen, sind es in der Alters-grupppe von 16 bis 24 Jahren 72, in der Altersgruppe von 25 bis 34 Jahren noch 50, erst von 35 bis 44 Jahren sinkt diese Zahl auf 39 und bei den noch älteren auf 26 ab. Diese letzte Untersuchung hat die Besuchergruppen auch nach der Höhe ihres Einkommens aufgeteilt und dabei festgestellt, daß sich in der Gruppe der niedersten Einkommen auch der höchste Prozentsatz der Kinobesucher findet. Die Übereinstimmung dieser Ergebnisse in zwei Staaten so verschiedener Struktur wie die USA und England und zu so verschiedenen Zeiten gibt uns Grund zur Annahme, daß sich die Besucherstruktur auch in anderen Staaten ähnlich verhalten dürfte.

Österreich wies im Jahre 1949 rund hundert Millionen Kinobesucher auf. Der Österreicher geht jährlich etwa 13- bis 14mal ins Kino, der Wiener 27mal, also etwa alle 14 Tage, der Burgenländer nur fünfmal jährlich, also jeden zweiten Monat. Mit einem Kinobesuch von täglich 270.000 ist Österreich nach den USA und England das kinofreudigste Land der Erde. (Der jährliche Besuch jedes Einwohners beträgt in den USA 32, in England 30, in Österreich 13, in Westdeutschland 11, in Italien 9, in der Schweiz 8, in Schweden 7,5, in Finnland 7,1 mal.) Es ist richtig, daß für die Ziffer Österreichs auch der Anteil der Großstadt Wien an der Bevölkerungsverteilung eine Rolle spielt. Kommen doch 47 Prozent der Filmerträge Österreichs aus Wien. Die Gesamtzahl des Theaterbesuches hingegen ist für Wien mit etwa zwei Millionen, für die Länder etwa mit einer halben Million anzusetzen. Er beträgt also nur etwa 2,5 Prozent des Kinobesuches.

Uber eine Gliederung des Filmbesuchs der Erwachsenen haben wir in Österreich keine Zahlen und Untersuchungsergebnisse. Hingegen wurde über den Kinobesuch der Jugendlichen in Österreich von dem Verfasser im Jahre 1932 eine Untersuchung auf Grund von 10.000 Fragebogen durchgeführt. Wir teilten die Ergebnisse nach den Altersgruppen 11 bis 13, 14 bis 16 und über 18 Jahren und fanden, daß die Zahl der Jungen, die zweimal und öfter Im Monat

ins Kino gingen, von 48,2 über 58,9 auf ' 64,9 und bei den Mädchen von 38,2 über 48,2 auf 52,4 Prozent anstiegen. Wir teilten den Kinobesuch auch nach Berufsgruppen auf und fanden den häufigsten Kinobesuch bei Fortbildungsschülern und Handelsschülern, während die bäuerliche Bevölkerung den geringsten Anteil aufwies. Die kürzlich in Wien an Hauptschulen vorgenommene Befragung, deren Ergebnis in der „Furche“ veröffentlicht wurde, bestätigt, daß sich trotz eines Ab-standes von etwa 15 Jahren an der Struktur des Kinobesuches der Jugendlichen nichts geändert hat.

Somit bestätigen auch diese Zahlen, daß sich der Film vorwiegend an jüngere Menschen wendet, die in ihrem Charakter und ihrer Entwicklung noch unfertig und daher auch am meisten e i n-drucks- und aufnahmefähig sind. Es wäre also, selbst wenn sich das im einzelnen nicht beweisen ließe, naheliegend, daß der Film einen bestimmten Einfluß ausübt.

Welcher Art ist dieser Einfluß? Anlagen und Unweltseinflüsse bestimmen die Entwidclung des Menschen. Die wichtigsten Elemente dazu sind die Erlebnisse. Am Film aber reizt — wie ein namhafter Dichter vor etwa zwei Jahrzehnten bekannt hat — gerade die unerhörte Möglichkeit, Leben zu schauen. Das scheint jene Seite des Films zu sein, die vor allem Einflüsse ausübt.

Namhafte Denker haben sich um Erklärungen für den großen Einfluß des Films bemüht. Professor Cohen Seat, Ordinarius und Leiter des filmwissenschaftlichen Instituts der Universität Paris, sieht im Film ein völlig neues Phänomen, das Vorstellungen vermittelt wie die Wirklichkeit, ohne daß sie wie ■bei dieser an Kausalzusammenhänge gebunden sind, der Wiener Professor Gregor nennt den Film eine optischakustische Suggestion, Siegfried Kra-c a u e r (New York) sieht in den Motiven der Filme Symptome latenter Massenregungen, welche sie rückwirkend verstärken, Rene Fülöp-Miller sieht in ihm die Phantasiemaschine de Wunschtraums, Phantasiekonfektion der Enterbten des Lebens. Alle diese Theorien bestätigen, daß die Wirkung des Films sehr intensiv, intensiver als die des Buches oder der Bühne, ähnlich der Erfahrung und des Lebens selber ist.

Wir haben sehr wenige Untersuchungen über die Wirkungen des Films auf Erwachsene. Eine mir bekannte ist die Untersuchung über die Wirkung des Films „Gentlement Agreement“, die Irwin G. Rosen an der Universität von Pittsburg durchführte. Er unterzog 133 Studenten seines Colleges einer Befragung über ihre Einstellung gegenüber den Juden. Er führte ihnen dann den Film vor, der von einem Reporter handelt, der sich als Jude ausgibt, um festzustellen, ob in den Staaten eine antisemitische Strömung vorhanden ist und im Verlauf des Films seine Freunde, seine Stellung und schließlich seine Verlobte verliert. Einige Zeit nachher überprüfte er die Einstellung seiner Studenten zur Judenfrage durch Fragen, welche die gleichen Antworten hätten bringen müssen. Es ergab sich, daß der Film die Einstellung der Studenten den Juden gegenüber günstig beeinflußt hatte. Dieser Versuch, der nur bestätigt, was viele Regierungen bei der Führung ihrer Filmpropaganda als Tatsache voraussetzten, erweist, daß der Film einen starken Einfluß auch auf Erwachsene ausübt. Die Untersuchung von Alois Funk über Film und Jugend aus dem Jahre 1933, die Materialsammlung des britischen Soziologen J. P. Mayer aus dem Jahre 1947 und ähnliche haben eine Fülle von Selbstzeugnissen über die Art dieser Wirkungen zusammengetragen. Speziell über die Jugendfrage liegt ein Bericht eines von der britischen Regierung bestellten Komitees zum Studium dieser Frage vor, und die britische „Picture Post“ ergänzte ihn durch ein interessantes Bilddokument: sie ließ unbemerkt mit Infrarotstrahlen die Kinder, die einem völlig jugendungeeigneten Horrorfilm beiwohnten, photographieren. Das Ergebnis war erschütternd: Gesichter, in denen die Angst und das Grauen stand, Ruinengesichter, wie im Erlebnis des Krieges und der Bomben. Diese Ergebnisse zeigen, daß sich die Wirkung des Films durch sorgsame Untersuchungen auch exakt erweisen läßt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung