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IM DIENSTE ÖSTERREICHS

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Wenn vom alten Österreich und speziell von der Literatur und Kultur der Jahrhundertwende die Rede ist, so muß auch der Name Leopold Andrians genannt werden. Andrian heißt ein Ort bei Meran, und auf ein uraltes Tiroler Adelsgeschlecht führt der Freiherr Leopold von Andrian zu Werburg seine Abkunft zurück. Aber in Wirklichkeit ist er der Nachkomme lombardischer Stadtpatrizier, die über Istrien und Krain im 17. Jahrhundert in die Steiermark ein- wanderten und später in Wien ansässig wurden. Bereits sein Urgroßvater, Ferdinand von Andrian-Werbung, war bayrischer Regierungspräsident und Staatsrat, ein Großonkel, Viktor Franz, war als Politiker und Publizist bekannt, sein vielgelesenes und diskutiertes Buch „Österreich und dessen Zukunft“ mußte allerdings 1841 im Ausland und anonym erscheinen. Leopold Andrians Vater war der Gründer und Vorstand der Geologischen Gesellschaft und Autor einer Studie über „Die Altausseer“; auch stand er dem Kronprinzen Rudolf nahe.

Mütterlicherseits war Leopold Andrian ein Enkel des Komponisten Giacomo Meyerbeer. Cäcilia Meyerbeer wurde 1839 in Paris geboren und starb 1931 in Salzburg. Leopold Andrian kam am 9. Mai 1875 in Berlin zur Weit. Aber das wollte er nicht wahrhaben und gab stets als Geburtsort Wien an — wohin er in der Tat gehörte und zuständig war. Horst Schumacher, der unter dem Titel „Werk und Weltbild eines österreichischen Dichters“ Leopold Andrian eine sehr übersichtliche und viele kulturhistorische Details erhellende Studie gewidmet hat, die vor kurzem im Wiener Bergland-Verlag erschienen ist, meint, daß Andrians Abneigung gegen das preußische Berlin kein Ausnahmefall sei und daß er mit der Ableugnung seines Geburtsortes gleichzeitig auch seine dort ansässige jüdisch-deutsche Familie zu „verdrängen“ trachtete. — Anderseits war Andrian auch auf diese Wurzel seiner Herkunft stolz — und hatte allen Grund, es zu sein. Die Beers waren aus Frankfurt an der Oder nach Berlin eingewandert. Einer seiner Onkel war der Dramatiker Michael Beer, der andere der Astronom Wilhelm Beer. So vereinigten sich in Leopold Andrian nicht nur vielerlei Blutströme, sondern er war auch der Erbe eines vielfältigen Kulturbesitzes...

Andrian besucht zunächst das Jesuitenstift Kaliksburg (daher das böse Wort von Karl Kraus: Andrian sei „mit Kalksburg übertüncht“). Im Jahre 1888 wird Oskar Walzel, der spätere Germanist, Andrians Hauslehrer, in dessen Elternhaus in der Habsburgergasse er von 1890 an mehrere Jahre wohnte. In jener Zeit besuchte er das Schottengym- -nasium. 1893 lernte er Hugo von Hofmannsthal kennen, 1894 begegnete er in München, im Cafe Luitpold, Stefan George. Mit Hofmannsthal verband ihn eine Lebensfreundschaft, die bis zum Tod des letzteren im Sommer 1929 währte. Von George trennte er sich bald, nachdem er in dessen „Blättern für die Kunst“ mehrere Gedichte veröffentlicht hatte. Im Jahre 1894 erschien durch Vermittlung Hermann Bahrs Andrians Erzählung „Der Garten der Erkenntnis“ in dem damals schon renommierten Fischer-Verlag. Auf dieses schmäle Bändchen gründet sich Ändrians literarischer Ruhm, worauf wir noch zurückkommen werden. Seit 1895 studierte Andrian an der Wiener Universität Jus, unmittelbar nach Beendigung des Studiums trat der vielfach Protegierte 1899 in den diplomatischen Dienst, zunächst als Attache in Athen, Petersburg, Bukarest, Rio und Buenos Aires. 1912 wurde er Konsul in Warschau, nach 1915 außerordentlicher Gesandter beim Kommissariat Ober-Ost in Polen. 1918 war er wenige Monate lang Generalintendant der Hoftheater, nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie zog er sich ins Pri- vatieben zurück. Was er in diesen späteren Jahren schrieb, war nicht mehr „Dichtung“, „Literatur“ und ist über einen engen Kreis nicht hinausgedrungen.

Mit seinem einzigen Werk, das wirklich zählt, dem „Garten der Erkenntnis“, später „Fest der Jugend“ umbenannt und in der 6. Auflage nicht mehr als 40 Drudeseiten umfassend, ist Andrian zwar nicht, wie sein Biograph meint, „eine Schlüsselfigur der europäischen Literatur um die Jahrundertwende“, sondern eher ein Außenseiter, der aber im kulturellen und öffentlichen Leben Österreichs- eine Rolle spielte, mit vielen namhaften Künstlern befreundet war und von so verschiedenen wie Hofmannsthal und George, Maeterlinck und Bor- chardt, Carl Burckhardt und Thornton Wilder — aus der jüngeren Generation —, sehr geschätzt wurde. In Frankreich setzten sich besonders Charles du Bos und Jacques Maritain für ihn ein.

Bis zum Jahre 1901 veröffentlichte er nur noch einzelne Gedichte, die, wenn wir nüchtern urteilen, ohne Bedeutung -und Originalität sind, und zu Hofmannsthals 50. Geburtstag schrieb er ein Sonett. — Mit seiner Geschichte vom Erwin und seinen Gedichten stand Andrian i-n einer Reihe mit allen jenen europäischen Künstlern, die den damals herrschenden Naturalismus abdehnten. Die Namen seiner deutschen und österreichischen Freunde haben wir bereits genannt. Über die Grenzen hinweg fühlte er sich mit Walter Pater, Oscar Wilde, Hermann Bang, Jens Peter Jacobsen, Maurice Barrės, Maurice Maeterlinck, Stephane Maliarmee, Paul Verlaine und Gabriele d’Annunzio verbunden. Es gab auch Fäden herüher und hinüber zur bildenden Kunst, besonders zu Arnold Böcklin, Anselm Feuerbach und Hans von Marėes.

Die auffallende Wertschätzung seiner ersten frühen Prosa und die ihr gespendeten überschwenglichen Lobsprüche dankt Andrian auch dem Umstand, daß er so früh als Dichter verstummte. Was blieb da seinen Freunden und allen andern, die Andrian, den sensiblen Menschen, den Diplomaten und den glühenden Österreicher, hochschätzten, anderes übrig, als immer wieder auf „Das Fest der Jugend“ zurückzukommen. So schrieb ihm Hofmannsthal: „Es macht mir jedesmal nach einer Pause wieder einen frischen und stärkeren Eindruck. Der diesmalige war der eines großen ungeteilten Vergnügens an einem gelungenen Kunstwerk nach drei Seiten: was die Disposition des Ganzen, was die geheimnisvoll anziehende jugendlich suchende Atmosphäre und was die Schönheit, Gewalt und Distinktion der vorkommenden Gleichnisse betrifft. Immer wieder kann ich es mir nicht glaubhaft machen, daß die Kraft, die das hervorgebracht hat, sich sollte vollkommen in innere Höhlungen zerstäuben und nichts mehr nach außen bewirken.“

Erinnern wir noch an die Wertschätzung Ferdinand von Saars, an Stefan Georges Gedicht „Den Brüdern“ in den „Liedern von Traum und Tod“ und an die Tafel aus dem „Siebenten Ring“ Georges mit dem Titel „Bozen — Erwins Schatten“ sowie daran, daß der dem George-Kreis verbundene Alfred Schuler Andrian als „Substanzträger“ bezeichnete, in dem „die Wiener Essenz, die schöpferische Substanz der Hofburg“ am gewichtigsten und am deutlichsten ausgeprägt sei. Die für das Fin-de-siėcle charakteristische Grundstimmung des „Gartens der Erkenntnis“ hat folgende Komponenten: Unwirklichkeit, Erwartung und Erinnerung, Ichbefangenheit (das Büchlein trägt das Motto „Ego Narcissus“), Schwermut und Sensiblität.

Während vieler Jahre seines Lebens, besonders intensiv, nachdem er aus' dem öffentlichen Dienst ausgeschieden war, arbeitete Andrian an einem umfangreichen Werk, das er „Die Ständeordnung des Alls — Rationales Weltbild eines katholischen Dichters“ nannte, und das 1930 bei Kösel und Pustet in München erschien. Damals stand Andrian -in regem Verkehr und Gedankenaustausch mit einigen Theologen der an der Sprachgrenze gelegenen Schweizer Universität Fribourg, mit Pater Lippert und dem Beuroner Benediktinerpater und späteren Salzburger Universitätsprofessor Daniel Feuling. Dieser — und Andrians halbtheologisches Werk — basiert auf der Tradition Thomas von Aqudns, und das verband Andrian auch mit Jacques Maritain und anderen Bannerträgern des Renouveau catholique in Frankreich, zu denen Charles du Bos die Verbindung hergestellt hatte (übrigens waren auch Marcel Brion und Andrė Gide Bewunderer Andri-ans, letzterer freilich nur des Jugendwerkes). Die großen Ordnungsmächte, von denen in diesem gewichtigen, aber schwer lesbaren Buch die Rede ist, sind Kosmos, Kirche, Aristokratie und Vaterland.

Ihm ist die letzte Schrift Andrians gewidmet: ein Manifest des Austriazismus und des Legitimismus. Es führt den Titel „Österreich 1m Prisma der Idee — Katechismus der Führenden“, das der mutige Grazer Verleger Schmidt-Dengler 1937, also kurz vor Torschluß, herausbrachte. Es sollte das Geschichts- und Selhstbewußtsein der Österreicher stärken und den Anschlußbestrebungen entgegenwirken. — Hauptsächlich wegen dieses Buches mußte Andrian Österreich 1938 verlassen. Nach Kriegsausbruch emigrierte er über Frankreich und Portugal nach Rio — wo sich damals übrigens auch Bernanos und Stefan Zweig aufhielten. Andrian kehrte 1946 nach Europa zurück, wurde Liechtensteinischer Staatsbürger und starb am 19. November 1951 in Freiburg in der Schweiz.

Andrian besaß ein ungemein scharfes kritisches Urteilsvermögen und war ein großer „Anreger“. So ermutigte er Robert Michel, der i-m Kommissariat des Oberkommandos Ober-Ost in Warschau und später zur Zeit seiner Tätigkeit als Generalintendant der Hoftheater sein Sekretär war, die bosnischen und herzegowinischen Geschichten aufzuschreiben. Andrian war auch einer der Initiatoren der Salzburger Festspiele, die als österreichisch-patriotische Kunstmanifestation das Selbstbewußtsein des kleingewordenen Staates stärken und dessen Prestige in der Welt festigen sollten. — Wie wir aus vielen Briefen wissen, war Andrian auch ein großer Hypochonder, der „eingebildete Kranke“ wie er im Buch steht — womit er seinen Freunden zuweilen das Leben schwer machte.

Zu Hofmannsthals 50. Geburtstag schrieb Andrian ein Sonett — das letzte Gedicht von seiner Hand —, das vom Lebensgefühl der beiden Dichter mehr aussagt als lange Kommentare.

Besinnst du dich, wie einst im Abendwind Schwarzgelb die Fahnen uns entgegenwehten Da wir von Versen und vom Duft des späten Augusttags trunken ausgegangen sind.

In Österreichs Landschaft, unser Angebind Von Gott, der lieben hieß des vielgeschmähten Und vielverratnen Reiches Antlitz die Poeten Wie eine Mutter liebt das fromme Kind?

Wir waren reich, wir konnten unser sagen So wie der Kaiser! Was in Österreich lebte Arm sind wir jetzt, denn unsre Welt entschwebte.

Dir aber, Dichter, ward hinauszutragen Der Reize Übermaß, der sie durchbebte Zu fernen Ländern und zu fernen Tagen!

Zur Illustration und Charakterisierung jener „Welt von Gestern“, vor und nach dem großen Zusammenbruch, teilen wir zwei Briefe an und von Andrian mit, die Walter F. Perl vor kurzem im S.-Fischer-Verlag veröffentlicht hat:

HUGO VON HOFMANNSTHAL AN LEOPOLD ANDRIAN

Aussee, 24. VIII. 1913

Mein lieber Poldy,

Dein Brief kam an, zugleich das kleine Buch, das ich anhänglich liebe, das ich fast in jedem Jahr einmal durchlese — der Brief, Deine Klagen haben mich sehr bewegt. Bei mir wohnt der junge österreichische Dichter Max Mell, ich brachte das Buch und Deinen Brief zu ihm hinunter, wir sprachen bis in die Nacht hinein über diese Dinge, die Dich und uns bekümmern. i .„Skm .

Mein Lieber, mich bekümmert und bedrücken sie so, daß ich sie manchmal für Zeiten von mir abtun und vergessen muß, um mich nur zu erhalten — denn mein Gemüt ist zwar der Fröhlichkeit fähig, aber leicht auch der Verdüsterung zugänglich, und was hilft es, sich der unfruchtbaren, völlig ohnmächtigen Trauer und Bitterkeit hinzugeben. Sie zerstören ans Wien, erhebt man seine Stimme, so nützt es nichts nichts nichts — wie ich Dir das sage, wirds Dir der alte Wilczek sagen, der Fürst Alfred Windischgrätz, Schönburg oder jeder Professor an der Akademie der Künste, jeder Mann von Namen oder Stellung — Wien ist einer Pöbelherrschaft ausgeliefert, der schlimmsten, die es gibt, der des boshaften, stupiden, niederträchtigen Kleinbürgertums, dies ist eine Bande, für die es keinen Namen gibt, nichts erkennen sie über sich, keine Autorität gibt es für sie, nicht das erzbischöfliche Ordinariat vermag etwas über sie, nicht der hohe Adel, nicht die öffentliche Meinung — die sie, halb mit Recht, als Judenmeinung verschreien — nichts ein Rector oder ein Professorencollegium, nichts ein einzelner, nichts eine Petition mit tausenden von Unterschriften. Die Judenschaft ist mächtig genug, aber sie drückt sich vor Autorität, vor dem Ausland, vor bekannten Namen: sie ist aber stark nur zum Bösen, zum Guten ohnmächtig in Wien. Kommt aber ein einziger auch jüdischer Bodenwucherer, so wird er schon die Richtigen im Magistrat und Stadtrat herumkriegen, die Bande von Lieferanten, den Troß von Zwischenträgern und Machern und man wird eine Straße durchs Winterpalais des Prinzen Eugen legen oder eine alte Kirche umreißen. Macht aber einer von uns den Mund auf, ein Bildhauer, ein Aristokrat, ein Großindustrieller, ein altes Herrenhausmitglied, wer immer — so tun sies justament, denn sie hassen die besseren Meuchen und freuen sich, ihre Obmacht fühlen zu lassen, auch gegen einen Bischof, einen Grafen, mit Freude: das ist das neue daran für Wien: diese Pöbelherrschaft ist nicht mehr bedientenhaft, sondern rücksichtslos, unbedingt.

Der Einzige der immer noch durchgreifen könnte, wäre der Erzherzog Franz: aber welcher Eigenschaften bedürfte es dazu, von denen er, fürchte ich, nicht eine hat: ausdauernde Hingabe an ein Ziel, Consequenz, Geschicklichkeit gegenüber Leuten aller Stände, eines großen, beweglichen Weltver- standes, verbunden mit dem festesten Charakter. „Große Herren aber“, sagt Goethe, „große Herren und Gauner wollen immer Vieles mit Wenigem erreichen.“

Dieses Jahr hat mich Österreich sehen gelehrt, wie 30 vorhergehende Jahre es mich nicht sehen gelehrt hatten. Auch das muß ich Dir sagen, wie ich es neulich Feri Kinsky sagte: ich habe das Vertrauen vor dem obersten Stand, dem hohen Adel, das ich hatte, das Zutrauen, er habe, gerade in Österreich, etwas zu geben und zu bedeuten, völlig verloren, und damit meine Achtung vor dem Stand als solchem — die ich, Gott weiß woher, hatte. Ich sehe jetzt die Rolle die dieser Stand bei allen Katastrophen Österreichs gespielt hat, 1805, 1809 wie 1848, wie 1859 — mit anderen Augen als vorher — und ich fürchte, mit klareren. Aber ich gewahre nirgends den Stand, ja nicht einmal die Elemente des Standes, welche diesen in der Führung ersetzen könnten.

Wir müssen es uns eingestehen, Poldy, wir haben eine Heimat, aber kein Vaterland — an dessen Stelle nur ein Gespenst. Daß man für dieses Gespenst vielleicht einmal das

Blut seiner Kinder wird hingeben müssen, ist bitter zu denken.

Nicht als ob mir der Gedanke erwünscht oder auch nur erträglich wäre, dieses alte Reich auseinanderfallen zu sehen. Aber für ein bloßes Bestehen, ohne jede Idee, ja ohne Tendenz über den morgigen, ja den heutigen Tag hinaus — für die bare Materie, nach außen und innen — kann man seine Seele nicht einsetzen, ohne an der Seele Schaden zu leiden. Hiergegen war die Metternichische Epoche beseelt: denn reactionär oder nicht, sie diente einer Idee. Welcher aber wir?

Sei mir nicht bös, wenn ich Dich traurig mache. Wir wollen einander nichts von unserer Gesinnung verhehlen, aber einander, die wir Menschen sind und Freunde, so viel, so eifrig helfen als möglich. Es ist rührend, daß Menschen wie wir in diesem Österreich von 1890 aufgewachsen sind und einander gefunden haben. Unseresgleichen, oder Verwandte, gibt es da und dort vereinzelte.

Was wir aus uns hervorbringen, oder an uns selber bilden und wirken, ringen wir schwereren Umständen ab als jeder Franzose, jeder Russe, ja als ein Grieche oder Bulgare oder Ruthene. Was wir im Geist, der mit der Sittlichkeit übereinstimmt, werden vor uns gebracht haben, wird da sein — und Wird mehr sein als wenn wir Häuser vor dem Niederreißen geschützt hätten, wo eine große Stadt sich in ihre Erniedrigung, ja Vernichtung hineinstürzt. Wir müssen trachten, etwas zu sein, dann ist in diesem etwas auch Österreich. Vielleicht kommen bessere Zeiten und andere Generationen.

Leb wohl. Denk gut an mich wie ich an Dich.

Dein Hugo

LEOPOLD ANDRIAN AN HUGO VON HOFMANNSTHAL

Altaussee, 13ten Februar 1919

Mein lieber Hugo,

Dein letzter Brief hat mir durch seinen eigentümlichen Ton — er klingt zurückhaltend, geniert, wie innerlich durchkältet und deroutiert — einen stärkeren Eindruck gemacht, als schriebst Du lange über das Ungeheuerliche, das wir durchleben. Auch ich bin in keiner einheitlichen Seelenverfassung gegenüber den Ereignissen, meistens sogar ganz guter Dinge infolge von ununterbrochener Beschäftigung, freilich etwas in der Art, wie ein energischer Mensch, blindgeworden, sich nicht untergehen läßt. Daher ist das characteristische des ungeheuren Schicksalsschlages, daß er einem immer stärker ins Bewußtsein kommt, immer stärker, je mehr Zeit zwischen jetzt und den Zeiten sich einschiebt, wo man noch ein Vaterland hatte, um das man bangen konnte, immer stärker, je mehr in immer neuen Einzelheiten die Vielfältigkeit des Verlustes, den wir erlitten, sich aufdrängt. Auch die Verachtung, die man für seine Landsleute — oder die es waren — empfindet, kann Einem nicht das Gefühl einer Befriedigung über den Tod des schon so lange schwerkranken Vaterlandes geben.

Dazu die Ungewißheit der Zukunft. Wo wird man morgen zuhause sein? Und wo immer auch, wie systemathisch auch das Land, das man sich als Heimat wählen wird — man wird dort ein Fremder sein — am fremdesten wohl im „stammverwandten“ Deutschland — weil man eben nichts als ein Österreicher ist oder wrvr. Ich glaube'nicht, daß die Neuteit ein ähnliches Gesdhick kennt, wie unseren durch eirie sociale Umwälzung verschärften Untergang. Das ähnlichste ist WöM noch die Auflösung der Stadt-Staaten im Altertum, wo die

Bürger gleichzeitig mit der Unabhängigkeit auch die Freiheit ganz oder teilweise verloren. Si la honte n’est pas encore consommėe, wenn auch viele von uns noch mit den Flügeln gegen das Netz schlagen, scheint es sich doch durch die veulerie der Österreicher und die Phantasie- und Energielosigkeit der westlichen Diplomatie immer fester um uns zu- sammenzuziehn. Wenn Zolas „reve“, wie A. France irgendwo sagt, dadurch so merkwürdig ist „quHl arrive d ėtre sl lourd en ėtant si creux“, so sind unsere Compatrioten mir deswegen so unbegreiflich, weil sie einerseits so ideal- und würdelos und anderseits so unpractisch und unpolitisch wie nur denkbar sind. Merkwürdige Combination! Der Schrei nach Hinwerfen seiner Selbständigkeit, der masochistische Drang nach Vereinigung mit Deutschland verhindert die Herren Politiker des neuen Regimes nicht, zu stöhnen, daß die Entente zugibt, daß unsere Valuta devalorisiert wird, daß unsere Bilder geraubt werden etc. etc. Tu Vas voulu, Georges Dandin! Nie ist eine bei allem Unglück noch günstige internationale Position so versaut worden, wie die unsere von den improvisierten Machthabern. Sogar wenn man den Anschluß an Deutschland gewollt hätte, hätte man sorgfältig darüber schweigen müssen. Die Hast der sectirerischen Tyrannen Österreichs erklärt sich eigentlich nicht einmal aus ihrer Unerfahrenheit, sondern am ehesten daraus, daß sie ahnten, der Anschluß werde ihnen, wenn nicht brusquiert, überhaupt nicht gelingen, weil der Österreicher und besonders der Wiener ja mit der Zeit einsehen muß, daß die ganze Affaire durchaus g e g e n s ein I nt e r e s s e ist.

An dieses Interesse, ’das wie immer seit fast hundert Jahren identisch ist mit dem der Westmächte, hätten letztere apel- lieren müssen, denn das staatliche Ehrgefühl, bei den romanischen Völkern so empfindlich, existiert bei uns nicht, sonst hätte Weißkirchner nicht letzhin den Wienern sagen können, zur Entschädigung dafür, daß sie nicht mehr Hauptstadt sein würden, würden: sie eine Musikhochschule von den Preußen bekommen! Nein, die Entente hätte zunächst einen tüchtigen Diplomaten herschicken müssen und durch den allen nicht von vornherein aus Klassen-Partei- und persönlichen Interessen unwiderruflich auf den Anschluß festgelegt ein positives Programm — ökonomisches und politisches — entwik- keln sollen, welches einem freien Österreich gegeben würde. Wirtschaftlicher Wiederaufbau, politische Freiheit, Sicherheit gegenüber den Nachbarn — mehr braucht und will die österreichische Bevölkerung nicht. Wenn dann ein Jahrzehnt über die Wunden des Zeitalters seit 1867 dahingegangen wäre, würde sich wahrscheinlich der geschichtliche Gedanke des Donaureiches und die habsburgische Mission der Cooperation unserer Völker zum Zwecke von Macht und Freiheit für diese kleinen Nationen und Nationensplitter verwirklichen lassen. Wird das Werk von vier Jahrhunderten annulliert, so wird es noch weit mehr Unterdrückung, Jammer, Cultur- losigkeit geben als in dem bekanntlich vom österreichischen Ideal bedenklich entgleisten francisco-josephinischen Österreich nach Königgrätz. — Du solltest diesen Dingen mit Ferdsch besprechen und vielleicht können wir dann darüber reden, wenn ich Mitte April nach Wien auf 14 Tage komme, um meine Freunde zu sehen, nach meiner Rückkehr aus der Schweiz, wohin ich auf sechs Wochen möchte. Sehr schön wäre es, wenn Du dann im Mai mit mir nach Aussee kämest. Überleg Dir das, mein guter Hugo, und vergiß nicht ganz Deinen alten Freund

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SöfüfSl l JTiMX HOTIATSB BK

Anm.: Die Schreibweiße der hier abgedruckten Briefe folgt genau dem Originaltext. . - . v ' -

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