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Im Hintergrund: Oder – Neiße

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Man hat so oft Warschau ein Paris des Ostens genannt. Heute scheint es nicht selten dazu berufen zu werden, die Rolle eines Gegenstücks zur Seinemetropole zu spielen. Zwei Tage bevor sich die Außenminister der Westmächte zu Füßen des Eiffelturms versammeln, sind die des sozialistischen Lagers in der Sirenenstadt an der Weichsel zusammengetreten. Mit dem offenkundigen Zweck, der Welt die Einigkeit der UdSSR, Chinas und der Volksdemokratien darzutun — im Gegensatz zum zersplitterten Westen — und um die Einzelheiten eines gemeinsamen Vorgehens für die nächsten sehr bewegten Monate zu verabreden. Vielleicht noch wichtiger als diese eifrig betonten Aufgaben einer Konferenz, bei der die übrigen Teilnehmer doch nur die zwischen Moskau und Peking vereinbarten Beschlüsse zu erfahren und jeder die ihm zugedachten Leistungen zu versprechen hat, sind die Begleitumstände dieses Treffens und das Leitmotiv, das sich immer deutlicher aus dem vielen Lärm um Berlin heraushebt.

Drei Tage vor Beginn der Gespräche im Kandelabersaal des polnischen Ministerratprä- sidiums ist in Warschau eine vielköpfige Delegation der chinesischen Wehrmacht angelangt, geführt vom Minister und stellvertretenden Vorsitzenden der Pekinger Regierung, Marschall Peng Ten-huai. Ihr gehören ferner an: Vizeminister Armeegeneral Wang Shu-sheng, der stellvertretende Generalstabschef und drei weitere Generalobersten samt einer Schar Generale und höherer Offiziere. Tags darauf entstieg der Vorsitzende des Präsidiums der Höchsten Koreanischen Nationalversammlung, Zoj Jen- Gen, dem Flugzeug, das ihn zu einem Staatsbesuch nach Polen brachte. Etwa zu derselben Stunde wurden in Peking Delegierte der polnischen Marxistenpartei PZPR mit strahlendem Lächeln begrüßt, die während des Volkskongresses in China weilen. Die Gleichzeitigkeit dieser Begegnungen ist selbstverständlich kein Zufall. Polen hat es erreicht, mit der ostasiatischen Welt, vor allem mit der kommunistischen Weltmacht unter Mao Tse-tung und Liu Schao-tsi, engen und freundschaftlichen Kontakt wiederherzustellen. Die chinesische Diplomatie aber wendet mit Vergnügen einem nicht mehr des Titoismus verdächtigen Polen ihre Gunst zu, um in Europa außer der UdSSR noch einen zweiten einigermaßen wertvollen Verbündeten zu besitzen. Wie sich derlei auswirkt, das sei daran ermessen, in welchem Grade China die Oder-Neiße-Grenze zur eigenen Sache macht. Schon am Tag nach seiner Ankunft in Warschau begab sich Marschall Peng nach Stettin, wo er durch seine Anwesenheit den Reden des polnischen Verteidigungsministers, General Spychalski, und des sowjetischen Oberbefehlshabers über die Unantastbarkeit der Oder-Neiße-Grenze Nachdruck verleihen sollte.

Diese Grenzlinie und das mit ihr verknüpfte Problem der durch sie von der DDR geschiedenen, ostwärts gelegenen Territorien sind jenes Leitmotiv, das wir bereits betont haben. Darum kreisen die der Regelung eines echten Friedens in Europa geltenden Betrachtungen sowohl im Westen wie im Osten, nicht nur die der vordringlich interessierten Deutschen und Polen. Es ist ja jedem Einsichtigen klar, daß eine durch einen formellen Vertrag zu erzielende Beendung des zwischen Deutschland und seinen vormaligen Feinden bestehenden abnormalen völkerrechtlichen Zustands, daß eine Wiedervereinigung der BRD und der DDR nicht erfolgen können, ehe nicht über die deutsch-polnischen Grenzen ein von allen Beteiligten anerkanntes Abkommen geschlossen ist; sei es auch, daß dieses zunächst einen das Meritum nicht entscheidenden vorläufigen (und vermutlich langfristigen) Zustand schafft. Durch diese nicht hinwegzuschwatzende, nicht hinwegzuschreibende Gegebenheit üben sowohl die Westmächte als auch die Sowjetunion einen ständigen Druck auf die beiden Nächstbetroffenen aus. In Westdeutschland hegen die Maßgebenden, allem Ableugnen zum Trotz, stets die Besorgnis, von einem oder mehreren ihrer Alliierten im Stich gelassen zu werden, insoweit es sich um die Öder-Neiße-Linie dreht. In Polen befürchtet man wiederum, ebenfalls entgegen den offiziellen Beschwichtigungen, daß die Sowjetunion die Rückgliederung eines Abschnitts der Ostseeküste und Niederschlesiens an Deutschland, und zwar an die DDR, erwägen könnte.

Ueber diese zweite Eventualität waren in der Woche vor der Warschauer Konferenz konkrete Gerüchte im Unlauf, zu deren Sprachrohr sich der Pariser „Combat” gemacht hatte. Sie wurden vom polnischen Außenminister Rapacki sofort am ersten Tag der Zusammenkunft des Ostblocks energisch zurückgewiesen. Die vorerwähnte Manifestation in Stettin steht damit im Zusammenhang. Derzeit sind diese Nachrichten über eine Modifizierung des Moskauer Standpunkts in bezug auf die deutsch-polnischen Grenzen ohne Substrat. Weder Moskau noch gar Warschau — auf das man im Kreml behutsam Rücksicht nehmen muß und in Peking Rücksicht nehmen will — haben Anlaß, verfrüht Konzessionen anzubieten, von denen man gar nicht sicher ist, ob sie für den wichtigsten Gegenspieler von Belang sind.

Anders verhält es sich mit der Stellungnahme der Westgroßmächte zur Frage der östlich der Oder-Neiße liegenden Gebiete. Von den drei nicht-kommunistischen Hauptwidersachern des Dritten Reiches hat Frankreich den polnischsowjetischen Standpunkt sich in aller Form zu eigen gemacht. An den darüber gesprochenen Worten de Gaulles vom 25. März 1959 ist nicht zu deuteln. Großbritannien hat bisher offiziell zu der ominösen Grenzlinie keine Stellung bezogen. Dennoch ist die öffentliche Meinung und sind die meisten Politiker, fast der gesamte Labour, viele Konservative, die Katholiken, schließlich alle, in denen sich noch Ressentiment gegen die „Jerries” regt, eher dem polnischen Standpunkt geneigt.

Es hat in westdeutschen leitenden Sphären einigen Unmut geweckt, daß Präsident Eisenhower in der Television vor einer Landkarte auftrat, die ebenfalls die Oder-Neiße-Grenze zeigte. Daraus eine den britischen und fran- įZOsfscihen Ansichten gleiche Auffassung heräüfc- zuhtsew, wä-er’ibrfg: Das offizielle Amerika hat: wenigstens unter Dulles, nicht beabsichtigt, einen Territorialstatus anzuerkennen, dem nicht Westdeutschlands Regierung formell zugestimmt hätte. Die öffentliche Meinung der USA ist zwiespältig. Sie stellt mehrheitlich die Forderung voran, daß man die sowjetische Machtsphäre einschränken und nicht für Verbündete Moskaus Partei ergreifen dürfe. Anderseits bestehen Sympathien für die Polen als Volk, denen jedoch, mit mindestens gleicher Kraft, die für das heutige Deutschland gegenübertreten. Ob künftig das Argument „Polen ist Vasall der UdSSR, Deutschland unser bester Alliierter” allein den Ausschlag geben wird, bleibt abzuwarten.

In Paris hegt man von den amerikanischen abweichende Gedankengänge. Dort erhofft de Gaulle offenbar, in Polen das einzige Argument zu entkräften, das dort zugunsten der Sowjetallianz sich auswirkt, und ein deutsch-polnisches Gespräch vorzubereiten, dabei dennoch mit der Sowjetunion nicht zu brechen. Der langen Audienz des polnischen Botschafters beim französischen Präsidenten, der eine nicht minder bemerkenswerte des eigens berufenen französischen Botschafters in Polen voranging (21. April), kann nicht genug Beachtung gezollt werden. Alles das beharrt in Konnex mit der Warschauer und natürlich auch mit der Pariser Außenministerkonferenz.

Eines heißt es dabei festzuhalten. Eine Lockerung der sowjetisch-polnischen Beziehungen, die sich naive Gemüter von französischen oder britischen Aktionen, von der — durch Rapacki höflich und dankbar registrierten — französischen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie erwarten, ein unmittelbarer negativer Umbruch im Verhältnis Polens zur UdSSR und zum Ostblock die Oder-Neiße-Grenze, ihr möglichstes, um die enge ideologische und weltpolitische Bindung an Moskau zu unterstreichen.

Jedenfalls bietet der Ostblock, von Warschau her gesehen, jene monolithische Festigkeit dar, die das im üblichen Stil gehaltenen Schlußkommunique am Vorabend der Pariser Konferenz widerspiegeln will. „L’ordre (communiste, sovietique) regne ä Varsovie.”

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