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Im Schatten von „München”

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In der mit viel Bitterkeit von der tschechischen Presse geführten Debatte um die Verantwortung für den 29. September

1938 und der damaligen Preisgabe des Masarykschen Staates durch die Westmächte greift ein kurz vor Jahresschluß erschienenes Buch des Präsidenten der Republik Dr. Benesch, „Erinnerungen. Von München zum neuen Krieg und zum neuen Sieg klärend ein. Der Geist jenes Münchener Mächteübereinkommens dunkelte, wie aus dem Buche des tschechoslowakischen Präsidenten hervorgeht, schon lange drohend über der Republik. Sie verdankte ihre Existenz den Pariser Friedensverträgen und als der Kampf um die Revision von Versailles schon bald nach Kriegsende begann, konnte wohl, wie Dr. Benesch von sich gesteht, ihn, einen der Mitbegründer dieses Staates, die Sorge angehen, daß jedes Übereinkommen zwischen Sieger und Besiegten und ein neuausbrechender kriegerischer Konflikt zwischen ihnen auf Kosten des jungen aus dem Kriege geborenen Staates ausgetragen werden würde. Der Verfasser des Memoirenbuches schildert nun, wie die Prager Politik aus diesem Aspekt heraus auf eine Sicherung des eigenen Staates durch militärische Aufrüstung und ein ausgebreitetes Bündnissystem gerichtet ge- wesen sei. Unbeantwortet bleibt die Frage, warum der Sicherung des inneren Friedens nicht die gleiche Energie mit allen zulässigen Opfern zugewendet worden sei und ob die Politik des Ministerpräsidenten Dr. Hodža, der deutlich auf eine dauernde Verständigung mit der deutschen Minderheit abzielte, bei allen berufenen Faktoren des Staates die notwendige Unterstützung gefunden hat. Mit der Machtergreifung Hitlers in Deutschland sieht Dr. Benesch den „Kampf auf Leben und Tod” nahen und als dann jenes Münchner Abkommen vom 29. September 1938 einen scheinbar friedlichen Ausgang einleitet und die Tschechoslowakei von ihren Verbündeten verlassen ist, weiß er die große Krise ausgebrochen. Mit Recht ironisiert Dr. Benesch die Tatsache, daß damals viele Menschen in Frankreich und England es nicht begriffen, daß es um mehr ging, als um das Verbleiben der Sudetendeutschen bei der Republik. Die Besetzung Prags im März 1939 war nur der folgerichtige Akt.

Den folgenden Abschnitt in der Schilderung Dr. Benesch’ bilden außerordentlich interessante Beiträge zum Verständnis der politisch-psychologischen Hintergründe jener ereignisreichen Zeit und ihrer Folgeerscheinungen.

Das Mächteabkommen von München war von Hitler durch die Errichtung des Protektorats über die Tschechoslowakei zerrissen worden; die anderen mußten jetzt ihre Fehlrechnung erkennen. Dennoch konnten sie sich zu einer vollen Abkehr von München nicht entschließen. Das Bemühen der von Dr. Benesch geführten tschechischen Emigration während der ersten Jahre des zweiten Weltkrieges war auf die Anerkennung des Grundsatzes gerichtet, daß „Mündaen” ungültig sei und folglich die Tschechoslowakei in ihren Vormünchener Grenzen nie aufgehört habe zu bestehen. Aber die Durchsetzung dieser Ansichten auf internationalem Gebiet dauerte lange. Einerseits war es nicht klar, ob alle jene Staaten, die nach dem 15. März 1939 die tschechoslowakischen Gesandtschaften weiteramtieren ließen, deshalb auch schon „die Kontinuität der Republik anerkannten” und nicht doch noch auf München beharrten. Dann, viele der Männer, die München geschaffen hatten, waren noch am Ruder — blieben es vielfach durch den ganzen Krieg — und wollten nicht oder nur ungern mit dem Manne, der eine Personifikation der Vormünchener Republik war — mit Dr. Benesch —, verhandeln. Die Sowjetunion machte seit ihrem Vertrag mit Hitler eine Politik auf der Anerkennung des Protektorats. Innerhalb der Emigration waren — wie Dr. Benesch berichtet — die Verhältnisse auch unerfreulich. Ehrgeizige Politiker. Generale und Gesandte versuchten für persönliche Zwecke die Situation auszunützen und diese in den Vordergrund zu schieben. Wohl war „der Kriegsbeginn der erste Schritt zur Selbständigkeit”, aber es dauerte Monate, bis ein Nationalausschuß von Frankreich und dann von Großbritannien anerkannt wurde, an dessen Spitze Doktor Benesch stand. Knapp vor Beginn des Frankreichfeldzuges versuchte Dr. Benesch durch die britische Regierung die Anerkennung einer provisorischen Regierung zu erreichen. Der Zeitpunkt war vorteilhaft. Frankreich war zusammengebrochen und England bereit, seine Hand jedermann zu reichen, der sich an seine Seite stellte. Am 18. Juli 1940 sprach die britische Regierung die Anerkennung einer provisorischen tschechoslowakischen Regierung mit Doktor Benesch als Präsidenten, Monsignore Schramek als Vorsitzenden und Jan Masaryk als Außenminister aus. Dr. Benesch versuchte sofort noch einen Schritt vorwärts zu kommen: Die Umwandlung der provisorischen in eine definitive Anerkennung und den Widerruf „Münchens” durch England zu erreichen. Und nun begann ein langer und zäher Kampf zwischen der tschechoslowakischen Auslandsregierung und dem Foreign Office. England zögerte, den tschechoslowakischen Standpunkt zu dem seinen zu machen. Wohl trat schon am 18. Juli 1941 die britische Regierung dem Vorschlag Dr. Benesch bei und wandelte die provisorische Anerkennung in eine definitive um, so daß die Errichtung von beiderseitigen Gesandtschaften geschehen konnte — Fürst Lobkowicz wurde tschechoslowakischer Gesandter am Hof von Saint James, Mister Nichols löste Bruce Lockhart bei der tschechischen Exilregierung ab, der bisher die Stelle eines „Beraters” gehabt hatte. Doch bezüglich der Rechtskontinuität und der Vormünchener Grenzen verschob die britische Regierung- die Entscheidung immer noch auf später. Erst nach neuerlichen langen Verhandlungen ließ Eden sich zu einem Kompromiß herbei: am 5. August 1942 ließ er mit einer Rede im Unterhaus die Anerkennung „Münchens” fallen, sagte, daß sie durch Hitler selbst vernichtet worden sei, schwieg jedoch über die begehrte „Kontinuitäts”-Erklärung und sagte über die Grenzfrage nur, daß Großbritannien keine Änderungen anerkennen werde, die durch das Jahr 1938 herbeigeführt worden seien. „Es war dies der letzte Akt der Münchener Tragödie, an der die britische Regierung und das britische Parlament teilnahmen”, schreibt Dr. Benesch mit leisem Groll. Die Londoner tschechoslowakische Exilregierung sah die Nutzlosigkeit ihrer Bemühungen ein und versuchte, während es ihr im Laufe der Zeit gelang, sowohl von seiten Rußlands als auch der USA und dem Frankreich de Gaulles einen ausdrücklichen Widerruf Münchens und auch eine Anerkennung der Kontinuität und der Vormünchener Grenzen zu erhalten, keinerlei Änderung des britischen Standpunktes mehr herbeizuführen.

Der nächste Schritt der tschechoslowakischen Auslandsregierung ging dahin, schon während des Krieges alles zu unternehmen, um ein kommendes München auszuschließen. „Denn geben wir acht”, schreibt Dr. Benesch, „auch nach dem zweiten Weltkrieg kann sich der ganze Vorgang” — der Revisionismus der Zeit nach dem ersten Weltkrieg — „wiederholen. München kann immer wieder s e i n.” Diese Angst vor einem neuen „München” bewog die tschechoslowakische Regierung in London zu zwei folgenschweren Schritten: zum Abschluß eines besonderen Freundschaftsvertrages mit Rußland und zu dem verhängnisvollen Beschluß, nach Kriegsende alle Deutschen aus der Re publik auszusiedeln. Die Frage der Minderheiten war ja wohl im Staate Masaryks das schwierigste Problem. „Unser Staat wurde mit dieser Frage geboren”, schreibt Doktor Benesch, „und mußte sie lösen oder untergehen.” Konnte die,in Aussicht genommene Austreibung der Sudeten’deutschen wirklich als eine Lösung gelten? Der Prager Staatsmann versichert, die nationale Frage habe „den Vorrang vor allen sozialen gehabt”.

„Seit der Rückkehr nach der Befreiung 1918 verging kein Tag, da ich nicht mit Masaryk darüber sprach und eine Kämpfe mit D r. K r a m a f, den Nationaldemokraten und den Agrariern diskutierte. Besonders als Außenminister verursachte sie mir über zehn Jahre mehr Sorgen als die ganze innere Politik. Was gab es da für Reden und Verhandlungen mit unsern Politikern und Parteien, damit sie diese Dinge von einem höheren internationalen Standpunkt begriffen. Was spielten sich da für Kämpfe abl”

Dr. Benesch erklärt, schon nach München sei es ihm klar gewesen, „die Frage der Minderheiten, insbesondere die Frage der Deutschen, muß für uns endgültig gelöst werden”. Wenn die Deutschen im Land verblieben, „taucht immer wieder die Gefahr eines neuen München auf…” Eine endgültige Lösung kann nur darin bestehen, daß „beide Völker endgültig auseinandergehen. Dies ist eine bessere Lösung als blutige Massaker und Bürgerkriege, als blutige Rache und neue jahrhundertelange nationale Kämpfe”. — Hier ist wohl die Randbemerkung am Platze: Wenn es sich um ein endgültiges Auseinandergehen und nicht um Rache handelte — war dann jenes schauerliche Austreibungsdrama zuzulassen und hätte nicht vielmehr in richtiger Ausdeutung des von Dr. Benesch aufgezeigten Zieles alles getan werden müssen, den bedeutungsschweren Akt in geordneten, mit dem Kulturrang des eigenen Staates und der Menschlichkeit ver- einbarlichen Bahnen zu vollziehen?

Die zweite Folgerung, die Dr. Benesch aus dem schweren Erlebnis ziehen zu müssen glaubte, war der Abschluß des Freundschaftsbündnisses mit der Sowjetunion am 12. Dezember 1943. Zu diesem Vertrag kam es nicht nur, weil Dr. Benesch die Ansicht vertrat, daß „in einem Krieg der Sieg sich jener Seite zuwenden muß, auf der Rußland kämpft”, sondern auch, weil die Nachbarschaft Rußlands zur Tschechoslowakei — zum Unterschied von den Westmächten — die Einhaltung des gegebenen Wortes leicht mache. „Hauptaufgabe und Ziel des neuen Vertrages soll sein, daß wir ein- für allemal geschützt seien gegen eine Wiederholung Münchens”, erklärte damals Dr. Benesch in einer Rundfunkrede. „Wir proklamieren”, fuhr er fort, „die ständige Freundschaft unserer Nationen für alle Zukunft, die gleich nach dem Kriege eine gemeinsame Arbeit auf wirtschaftlichem Gebiet hervorrufen wird. Dies aber wird zahlreiche Änderungen in unserer bisher gültigen Industrie- und Handelspolitik notwendig machen.”

Im Schatten von „München” hatte so die Tschechoslowakei nicht nur ihre Wiederauferstehung gefeiert, sondern auch ihr neues Gesicht bestimmt.

1 Dr. Eduard Benes: „Pameti”, Band II, Teil 1. Orbis-Verlag, Praga 1947.

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