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Im sozialen Chaos der Gegenwart

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Die Wirkungsgebiete der Caritas sind die Räume menschlicher Hilfbedürftigkeit, die Randstreifen des menschlichen Lebens:

Säuglinge, Kleinkinder und Kinder, Alte und , Gebrechliche, auch Kranke und Gefangene. Gesunde Verhältnisse können diese Grenzen verengen, in Zeiten der Not aber weiten sich diese Gruppen, neue Bereiche der Not öffnen sich, sprungartig wachsen die Aufgaben der Caritas: so war in unserer Zeit aus den Notständen des Krieges, seinen Folgen, den Maßnahmen und Geschehnissen der Nachkriegszeit, aus krisenhaften Entwicklungen sozialer und meist noch mehr moralischer Art ein soziales Chaos entstanden:

Die Zahl der österreichischen Kriegsversehrten, die heute zur Gänze oder zum Teil erhalten werden müssen, beträgt 167.0, die der Kriegshinterbliebenen 212.0 und die Zahl der Angehörigen vermißter österreichischen Soldaten 120.000.

Die Gesamtzahl der Österreicher, die im Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen staatliche Unterstützungen erhalten, macht rund eine Million aus, etwa ein Sechstel der Gesamtbevöike- rung.

Die Zahl der deutschsprachigen Heimatlosen in Österreich macht rund 370.0, die der fremdsprachigen 120.0 aus.

Die Zahl der weiblichen venerisch Erkrankten liegt vier Jahre nach Kriegsende noch zwischen 40.000 und 50.000, wovon 91 Prozent auf Mädchen unter 24 Jahren und unter allen .Mädchen 51 Prozent auf solche unter 21 Jahren entfällt.

Die Kirche, die eben erst wieder aus Gefängnissen, Sakristeien, den Trümmern ihrer, zerstörten Kirchen und aus Gefangenenlagern in die Freiheit hinaustrat, begann in diesem Chaos sofort wieder mit ihrer caritativen Tätigkeit, trotz den unsäglichen Schwierigkeiten, die ihr entgegen- standen:

Rund 55 bis 70 Prozent ihrer Heime und Anstalten sind selbst vier Jahre nach Kriegsende noch nicht zurückgegeben; für eigenen Grund, Besitz und Boden muß an die Erben jener, die die Beschlagnahme durchführten, Miete bezahlt werden; nach langwierigen Kämpfen übergebene Heime sind ausgeplündert, leer und verwahrlost.

Etwa fünf Prozent der Heim sind durch Bomben und Kriegsereignisse zerstört. Die gegen die Kirche und ihre caritativen Werke gerichtete nationalsozialistische Gesetzgebung besteht vor allem auf dem Gebiet des Steuerwesens weiter, verschärft durch kleinliche Auslegung; der Begriff der Gemeinnützigkeit wird in beschämender Weise gedeutet.

Von den rund 15.000 geistlichen Schwestern, die zu 75 Prozent caritativ tätig sind, waren bis 1945 9,5 Prozent an Überanstrengung gestorben, 15 Prozent nicht mehr einsatzfähig.

Gegen diese zweifache Not und Bedrängnis ankämpfend und ohne im wesentlichen an Organisationsformen aus der Zeit vor 1938 anknüpfen zu können, schuf sich die katholische Kirche in ihrer Caritas ein modernes, anpassungsfähiges Instrument.

In der Praxis wird die Hilfstätigkeit etwa derart durchgeführt, daß rund 50 bis 60 Prozent aller Einnahmen durch die Pfarrcaritasstellen an Einzelunterstützungen und für örtliche Caritaszwecke (Pfarr- caritaskindergarten, Pfarraltersheime usw.) ausgegeben werden, während 40 bis 50 Prozent von der Diözesanoaritas für über- pfarrliche Zwecke Verwendung finden, k der Diözese Linz wurde zum Beispiel im Jahre 1948 von 450 Pfarrcaritasstellen 2,3 Millionen Schilling ausgegeben, während die Diözesanoaritas für ihre Zwecke 1,95 Millionen zur Verfügung hatte. Indes aber 90 Prozent der Ausgaben der Pfan -

und Caritasstellen auf Einzelunterstützungen entfallen, werden 80 bis 90 Prozent der Ausgaben der ‘Diözesanoaritasstellen für überpfarrlidie Belange und Werke verwendet und nur 10 bis 20 Prozent auf Einzelu nterstützungevn.

Eine getrennte Aufstellung der Caritasarbeit der geistlichen Orden und der bischöflichen Caritas ist nicht mehr möglich, da diese Arbeit sehr weitgehend und auf fast allen Gebieten ineinander ü’bergeht. In den kirchlichen Kindergärtera sind Schwestern fast sämtlicher in österneich tätigen Orden beschäftigt; das Caritvas kin der dorfin Hart wird zum Beispiel von den Schwestern des hl. Vinzeniz von Paul geleitet, während an der Lancieshilfsschule des Heimes besonders ausgebiltiete Schwestern des hl Karl Borromäus wirken.

Der Schwerpunkt der ‘Tätigkeit der caritativen Orden liegt in der Krankenpflege. Von den caritativ tätigen Schwestern sind ziemlich genau 6 0 Pnozent in Krankenhäusern und Spitälern beschäftigt, fast 50 Prozent in der eigentlichen Krankenpflege.

Das zweite bedeutende Feld der caritativen Arbeit der Orden bildet die Betreuung der Altersheime (in ganz Österreich mehr als 185!); hiezu tritt noch die Führung von Kinderheimen und Kindergärten hinzu.

Für die bischöfliche Caritas der einzelnen Diözesen besteht nicht eine solche Kosnzen- tration wie bei den Orden, aber eine sehr weitgehende Auflockerung und Anpassungsfähigkeit. Geführt werden Spezialheime für verwahrloste und schwererziehbare Kinder, Heime für geistig und körperlich behindert Kinder, Kindergärten, Tagesheimstättew, Heime zur Heranbildung körperbehinderte ;, schulentwachsener Jugendlicher …

Einen bedeutsamen Faktor in dieser Arbeit stellt das Laienelement. Hier ist det Unterschied zwischen Ordens- und bischöflicher Caritas nicht unwesentlich: In der Ordenscaritas ist die Zahl der Ordensmitglieder und der weltlichen Kräfte fast gleich groß, abgesehen von den Ärzten der Krankenhäuser, bekleiden die Laien jedoch nur untergeordnete Posten. In der bischöflichen Caritas haben sie zum Teil 70 Prozent der hauptberuflichen Stellen — darunter sehr verantwortliche — inne; die rund 20.000 ehrenamtlichen Kräfte sind ausschließlich Laien.

Trotz dieser Vielfalt, die daran erinnert, daß Caritasarbeit wesentlich mehr ist als etwa nur die Verteilung amerikanischer Konserven oder die Durchführung von Kindertransporten ins Ausland, heben sich sehr deutlich gewisse Gefahrenmomente für die kirchliche Caritasarbeit von heute ab, zunächst geschaffen durch die Beschränkung auf jene Arbeits- und Betreuungsgebiete, die der nationalsozialistische Staat gerade noch geduldet hatte: die Krankenpflege, die Betreuung Verkrüppelter und Zurückgebliebener, die Betreuung von Siechenhäusern und Asylen. Die andere Gefahr besteht darin, daß zuweilen nur die alten Wege der Vorkriegszeit — besser gesagt nur diese — beschritten werden. Daß diese kritische Stelle wenigstens teilweise überwunden ist, geht aus der Tatsache hervor, daß in fast allen Diözesen Gründungen höchst zeitgerechter Art, Heime für berufstätige Mädchen, Tagesheimstätten für Kinder berufstätiger Mütter, Heime für Lehrlinge, Erholungsheime usw., entstanden sind. Vielenorts bestehen soziale Krisenherde, die noch besonderer Obsorge verlangen: Die gleichzeitige Berufstätigkeit der Frau unterhöhlt den Zusammenhalt der Familie und begründet eine Jugendverwahrlosung, die kaum geringer ist, als sie zu Kriegszeiten war. Rund 25 Prozent der Heimatlosen wohnen in Baracken, zum Teil sogar is Gemeinschaftsräumen und Massenunterkünften. Die Zahlen der unehelichen Geburten erreichen gegenüber 7 Prozent vor dem Krieg derzeit 20,2 Prozent (Vorarlberg 10,9, Wien 14, Kärnten 31,9 Prozent).

Die Caritas steht hier an einem Grenzpunkt, an dem Ihr von zwei — innerkirch- lichen — Seiten Vorwürfe gemacht werden. Die einen, vorwiegend Theoretiker, erklären, die Caritas habe bereits jetzt das ihr zustehende Wirkungsgebiet überschritten und soll sich auf rein caritative Aufgabengebiete beschränken. Andere erheben den Vorwurf, die Caritas sei noch zu wenig zu den tiefsten und schwerwiegenden sozial- caritativen Problemen vorgedrungen. Diese Kritik argumentiert: gesunde Wohnungen an Stelle von Barackenlagern ersparen Tbc- Heilstätten und Krankenhauszubauten; gerechte Löhne für Landarbeiter vermindern die hohen Zahlen der unehelichen Kinder; frühzeitiger Kampf gegen Alkoholismus, Ersatz von Alkoholgetränken durch Süßmost, Eheberatung durch katholische Ärzte ersparen Heime für geistig und körperlich zurückgebliebene Kinder; Eltern, die Zeit zur Betreuung und Erziehung ihrer Kinder haben, machen Heime für verwahrloste Kinder unnötig; ein sauberes Elternhaus und geordnete Familienverhältnisse ersparen Jugendgefängnisse, Jugendrichter, Sonderabteilungen für geschlecbtskranke Jugend.

Es ist klar, daß diese Forderungen das ganze weite Feld christlicher Erziehungsarbeit, katholischer Sozialarbeit und kirchlieber Caritas umreißt, und sicher sind hier Wegweiser für Caritasarbeit gegeben. Aber modernste Sozialgesetze und Fürsorgestellen allein können Familien nicht gesund machen, Kinderverwahrlosung verhindern und Geschlechtskrankheiten unterbinden; Gesetze allein können das Gewissen nicht ersetzen.

Wenn Carl Sonnenschein in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen erklärte, ein modernes Wohnungsgesetz mache hundertfältige Caritasarbeit unnötig, so kann man aber auch sagen: Werktätige christliche Liebe, ein waches Caritasbewußtsein des ganzen Volkes erspart eine Reihe sozialer Gesetze und kostspieliger Maßnahmen.

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