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Im Viehwaggon in die „Lehre”

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Als „Lehrjahre” sieht der FURCHE-Mitherausgeber die zweieinhalb Jahre seiner Kriegsgefangenschaft. Unter andere lernte man, Österreicher zu sein.

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Als „Lehrjahre” sieht der FURCHE-Mitherausgeber die zweieinhalb Jahre seiner Kriegsgefangenschaft. Unter andere lernte man, Österreicher zu sein.

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Wie haben wir sie erlebt, diese Gefangenschaft - in der Sowjetunion, für „nur” zweieinhalb Jahre? 50 Jahre nach Kriegsende - wann kam das erlösende Aufatmen wirklich? Die Kapitulation am 8. Mai ist ein Stichtag. Für die Menschen im besetzten Reichsgebiet hörte das Schießen schon Wochen vorher auf. Für Hunderttausende deutscher Soldaten ging der Krieg fugenlos in die Gefangenschaft über, endete er erst Jahre später - sofern sie Frieden und Freiheit überhaupt noch erlebten.

Der erste Schock kam nach dem großen „Aus” - das Gefühl der Einsamkeit inmitten der Massen der Schicksalsgenossen. Bisher hatte die Einbindung in die Wehrmacht trotz aller Auflösungserscheinungen einen Rest von Sicherheit geboten - nun waren wir Teile einer amorphen Masse ohne den Schutz der Gemeinschaft.

Dann bewegten sich die Massen zu den Sammelstellen, von Deutsch-Brod nach Brünn, zur Aussortierung jener, die nach Ansicht der Sieger nicht mehr einsatzfähig waren - Alte (über 40jährige), Kranke, Verwundete. Ein Griff der russischen Ärztin an die Hinterbacken der nackten Männer entschied über Heimkehr oder Jahre der „Wiedergutmachung”. Dann die Verladung in Viehwaggons, je 45 Mann.

Wie lange fuhren wir? Die Zeitrechnung versagte, wenn wir tagelang nicht aus dem Waggon steigen konnten, für die körperlichen Bedürfnisse ein Trichter in der Wand genügen mußte und das Zerkauen der Hartbrotration die einzige Unterbrechung des Wartens brachte.

Bei Aufenthalten in Bahnhöfen warteten andere Züge auf den Nebengleisen. Auch aus ihren Luken starrten schmutzige, unrasierte Gesichter unter geschorenen Schädeln - nicht anders als einst die „asiatischen Untermenschen” auf ihren Transporten in deutsche Gefangenenlager. Es brauchte nicht viel, ihnen ähnlich zu sein.

Nun kamen die Feinde von einst an die Türen, wenn sie im Bahnhof geöffnet wurden, boten Machorka an, zeigten, wie man ihn in Zeitungspapier zur Zigarette dreht, und versicherten „skoro damoi!” - bald nach Hause. Und so mancher von ihnen war der Ansicht: „Vy doma - my pro-tiv Amerikanzev!” (Ihr fahrt nach Hause, wir ziehen gegen die Amerikaner.)

Ziel war Usman, nordostwärts von Woronesch. Die Ruinen eines alten Klosters sollten uns aufnehmen. 2.000 Ungarn, Überlebende der Schlacht von Budapest, hatten sich ihre Behausungen schon eingerichtet. Zwei Dutzend „Altgefangene” aus den Abwehrkämpfen in Rumänien im Herbst 1944, Deutsche, Slowaken, Rumänen, hielten die Schlüsselpositionen in der Hand.

„Osterreichische Nationalität”? Unsinn!

Offizierslager - das bedeutete, Arbeit nur „für das Lager”, auf dem Lagerkolchos im Herbst zur Kartoffelernte für die Küche, im Wald zur Brennstoffversorgung in Küche und Banja und Wachbaracken. Wovon jeweils der Großteil nach außen verschoben wurde.

Am Anfang stand der Fragebogen. „Familja, imija, otschestvo” - Name, Vorname, Vatersname —, Dienstgrad, letzte Einheit. Und dann „Nationalität, Muttersprache”. Nach den Kriterien des sowjetischen Vielvölkerstaates kein Problem. Für die Österreicher, die begannen, sich nach Landsleuten umzusehen, die erste Gewissensfrage: „österreichische Nationalität?” Unsinn! Muttersprache: „österreichisch”? Wieso? Die ersten Konflikte, als der Lagerkommandant die Bildung eigener Österreicherbrigaden zurückwies mit der Feststellung, es hätte sich ja niemand als zur „österreichischen Nationalität” gehörig bezeichnet.

War es erst hier oder schon vorher, auf dem Marsch nach Brünn oder im Viehwaggon, daß einer erzählte, wie es wirklich zugegangen war, in Dachau und Oranienburg, in Theresienstadt oder Auschwitz. Oder von den Kameraden, die in der „Weißen Rose” gegen Hitler aufgerufen hatten und hingerichtet worden waren. Ja, von Lagern, in denen Regimegegner „umerzogen” werden sollten, hatte man schon in den dreißiger Jahren gehört. Aber was wirklich geschehen war, davon hatten die wenigsten unter uns eine Ahnung gehabt. Hier brach zusammen, was überhaupt noch an Trümmern früherer Ideale übrig geblieben war.

Hungerwinter 1945/46. Morgens sieben Zehntelliter Suppe aus gefrorenem Kraut und ebenso gefrorenen Kartoffeln, mittags dasselbe nochmals plus vier Zehntelliter „Kascha”, Brei aus Buchweizen, Weizengraupen, wenn's hochkam Reis - je nachdem, was einmal im Monat an „produkty” angeliefert worden war. Einen Monat lang dasselbe. Dazu dreimal 200 Gramm dunkles, feuchtes Brot. Der Anschnitt wurde streng kontrolliert reihum verteilt. Für Offiziere bestand eine Portion aus weißem Brot.

Ungewißheit: Was ist zu Hause los?

Und zwischen den Mahlzeiten auf der Pritsche oder auf dem Weg in den Wald die Diskussionen über Luxusdiners oder Wiener Hausmannskost...

Da hatten längst diese Hungerphantasien die schüchternen Versuche verdrängt, mit Kursen und Vorträgen die geistigen Kräfte zu regenerieren, Englisch und Französisch, Geschichte und Weinbau. Oder nur die Erzählung von den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, als Österreichs Kinder gastfreundlich in Schweden und Holland aufgenommen worden waren. Wer würde unsere Kinder aufnehmen?

Die Ungewißheit - was ist zu Hause los? Keine Post, keine Zeitung, keine Nachricht. Schreiberlaubnis erstmals im August 1946, nach 16 Monaten Gefangenschaft. Die ersten Antworten trafen im Oktober ein. Karten mit 25 Worten, die sagten, daß die Eltern noch lebten, anderswo als früher, aber doch. Und andere, die berichteten, daß die Frau sich mit den beiden Kindern das Leben genommen hatte, als die Russen einmarschierten ...

Erst später, 1947, das bruchstückhafte Wissen über das Geschehen in der Heimat und das bedrückende Gefühl, nicht dabei sein zu können.

Im Frühjahr 1946 kam dann der Befehl, alle Offiziere der Wehrmacht dem Arbeitseinsatz zuzuführen - zur „Wiedergutmachung”. Dies widersprach der Genfer Konvention - aber die Deutschen hätten sich auch nicht an die Konvention gehalten, hieß die Begründung.

Also Arbeitseinsatz in Woronesch, die einen im Wiederaufbau zerstörter Fabriken, die andern im Neubau von Wohnungen. Wir bei der Eisenbahn, Strecke Moskau-Rostow, Abschnitt Otroschka. Auswechseln von Schienen und Schwellen, Ausrichten des Schienenstranges.

Mit dem Arbeitseifer und der Genauigkeit deutscher Offiziere - zur Empörung der russischen Frauenbrigaden, die vorher hier eingesetzt waren und denen nun die Deutschen die Normen verdarben. Mit einem vernünftigen „Starschi”, der wußte, daß er sich auf seine Deutschen verlassen konnte- und daß er nur dann von ihnen diese Leistungen erwarten konnte, wenn er ihnen die für die Sonderrationen nötigen „125 Prozent” der vorgeschriebenen Norm gutschrieb, egal, was die Listen vorgaben.

Zu Weihnachten 1946 kam die Weisung, die Österreicher den Ungarn gleichzustellen, die Offiziere wieder aus dem Arbeitseinsatz herauszunehmen. Nur „freiwillig” sollten wir Wiedergutmachung leisten. Aber niemand war bereit, sich zu verpflichten. Weder Drohungen noch Versprechungen zusätzlicher Verpflegung nützten. „Faschisti, sachwat-schiki, diversanti!” tobte der Politruk - aber dabei blieb es auch. Jene ungarischen Offiziere, die sich verpflichtet hatten, kamen später heim als wir.

Ein ruhiges Frühjahr 1947, im Sommer freiwillige Ernteeinsätze ohne Verpflichtung auf den großen Sowchosen - und dann über Nacht die Verlegung in ein anderes Lager, wieder über Nacht Neueinkleidung, Verladung in Viehwaggons - 10. Oktober 1947. Ein Teil der Kameraden blieb zurück: Zugehörigkeit zur SS, zu einzelnen Eliteeinheiten, ungeklärte „Nationalität” oder auch Denunziation durch Kameraden. Für viele kam die Heimkehr erst Jahre später. Für die Glücklicheren stand nach einer Woche Bahnfahrt in Siget der Transport No. 14, der am 24. Oktober in Wiener Neustadt einfuhr.

Was man alles aushalten kann...

Verlorene Jahre? Geraubte Jahre? Dokumentationen nach 50 Jahren können sie ebensowenig ausleuchten wie diese kurzen, subjektiven Reminiszenzen. Geraubte Jahre - sicher, denn es widersprach dem Völkerrecht, Soldaten nach Kriegsende noch Jahre lang festzuhalten. Verlorene Jahre? Sicher auch, es waren jene Jahre, die ' unserer Jugend, dem Aufbau von Existenz und Familie gehört hätten.

Und doch - diese Jahre haben uns geprägt. Sie sind aus unserem Leben nicht wegzudenken. Hunger, Schmutz, Enge, Ungeziefer, Demütigungen, Verrat - sie haben uns erfahren lassen, was der Mensch in Extremen aushalten kann, haben uns schätzen gelehrt, was ein Stück Brot, eine heiße Dusche, ein überzogenes Bett bedeutet, wenn man sie solange entbehrt hat.

Wir haben am eigenen Leib erfahren, wozu der Mensch fähig ist - im Guten wie im Schlechten. Wer ist nie schwach geworden in dieser Zeit?

Wir haben Russen kennengelernt, prächtige Menschen, Zivilisten, Soldaten, Offiziere, die uns bestätigten, wie falsch, wie verlogen die Propaganda vom „asiatischen Untermenschen” war. Menschen, die unter ihrem Regime ebenso litten wie wir.

Und wir kamen zurück in die Heimat, die in Trümmern lag. Die uns aufnahm und aufforderte mitzumachen, mitzuhelfen, wieder aufzubauen. Eine Heimat, die wir uns erst hinter Stacheldraht erkämpfen mußten, um nun in ihr aufzugehen.

Deswegen waren diese Jahre nicht verloren.

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