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Immer noch: „Wiener Krankheit”

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Aus dem Referat des Amtsführenden Stadtrates für das Gesundheitswesen bei den Beratungen des Wiener Gemeinderates über den Voranschlag 1957 geben wir nachstehend die aufschlußreichen Darlegungen über den Kampf gegen die Tuberkulose in Wien wieder.

Die „Furche”

Unter den Infektionskrankheiten verdient die Tuberkulose noch immer besonderes Interesse. Wenn die Tuberkulose auch auf der ganzen Welt ständig zurückgeht, sowohl was die Zahl der Erkrankungen als auch die Zahl der Todesfälle betrifft, so muß diese Bewegung doch aufs genaueste überprüft und ständig verfolgt werden. Die Ursache dieser Entwicklung liegt in der Aenderung der Eigenschaften des Tuberkelbazillus — eine Erscheinung, die man ja auch bei anderen Krankheitserregern erkennen kann —, in der verbesserten Behandlung und auch verschiedenen anderen Umständen, wie zum Beispiel der Hebung des hygienischen Niveaus, des Lebensstandards u. a.

In den Jahren 1901 bis 1905 starben in Oesterreich auf dem heutigen Staatsgebiet durchschnittlich jährlich 19.900 Menschen, 1954 nur 2400 an Tuberkulose.

In Wien starben im Jahre 1900 7767 Menschen an Tuberkulose, davon 6267 an Lungentuberkulose, 1955 nur noch 67 6, davon 5 89 an Lungentuberkulose. Anders liegen die Dinge allerdings bei alten Menschen: 1900 starben 137 Personen über 70 Jahre an Tuberkulose, 1955 dagegen 236. Auf je 100.000 Menschen gerechnet, starben 1900 noch 463,7 Personen, 195 5 nur noch 42. Besonders auffällig ist die Abnahme der Tbc-Sterblichkeit in der Jugend. 1953 sank die Sterblichkeit zwischen Geburt und Ende des 5. Lebensjahres gegenüber 1911 von 100 auf 1,6, jenseits des 70. Lebensjahres aber nur von 100 aüf 72,9. International gesehen freilich schneidet Oesterreich viel schlechter ab, was, im Hinblick auf das Vorhergesagte, auf die bekannte Ueberalterung unserer Bevölkerung zurückzuführen ist. So zum Beispiel nennt die Ziffer für 100.000 Menschen nach der letzten Statistik in Dänemark 13,8 Todesfälle, in Oesterreich dagegen 50.

Die Tubetkulosestatistik. von.. Jänner bis Oktober 1956 :für Wien zeigt uns. idaß die G e-b s amt z a h l der B e Ti c h e r in den Tuber- kulosenfürsorgestellen in dieser Zeit 1 1 2.1 9 5 betrug. Davon waren an Neuzugängen insgesamt 20.928, an aktiver Tuberkulose waren 2129 erkrankt, davon an aktiver Lungentuberkulose 1783. An Todesfällen waren vom Jänner bis Ende Oktober 1956 487 zu zählen gegenüber 589 im ganzen Jahr 1955.

Die Sputumuntersuchung mit Kulturverfahren, wie sie die hygienisch bakteriologische Untersuchungsanstalt seit Jahren durchführt, stellt eine wichtige Maßnahme zur Erfassung von tuberkulös erkrankten Menschen dar.

Nachweisbar ist nach wie vor der wichtigste Teil der Lungenuntersuchung die Röntgenuntersuchung. Es wird daher notwendig sein, für jene Tbc-Fürsorgestellen,, die für eine Aufstellung von Röntgenapparaten nicht die geeigneten Räume haben, neue Räume zu beschaffen, um auch diese Stellen dann mit den erforderlichen Röntgenapparaten ausstatten zu können. Derzeit handelt es sich um die Tuberkulose-Fürsorgestellen für den 12., 17., 18. und 19. Bezirk. Vielleicht wird es im Rahmen des in Aussicht genommenen Bauprogrammes doch möglich sein, in dem einen oder anderen Bezirk auch dieses Problem zu lösen.

Wiederholt schon wurde auf die große Bedeutung der Schirmbilduntersuchungen hingewiesen und darauf, daß von dieser fahrbaren Station leider viel zuwenig Gebrauch gemacht wird. Wie notwendig diese Untersuchungen sind, ist aus einem Bericht über die Ergebnisse der Schirmbilduntersuchungen der Stellungspflichtigen des Jahres 1956 zu erkennen. Insgesamt wurden 5967 Personen mit Schirmbild- Mittelformat untersucht. Sämtliche Fälle, bei denen am Schirmbild Befunde erhoben wurden oder sich der Verdacht auf pathologische Veränderungen ergab, wurden zu einer Kontroll- untersuchung mit, Durchleuchtung und Großaufnahme bestellt. Ebenso wurden alle Fälle mit technisch nicht völlig einwandfreien Schirmbildern einer Wiederholungsuntersuchung zugeführt. Die Schirmbildbefunde sämtlicher Untersuchten, auch der mit negativen Befunden, wurden, soweit sie in Wien wohnhaft waren, der zuständigen Tuberkulose-Fürsorgestelle übermittelt, um festzustellen, ob die betreffenden Personen der Tuberkulose-Fürsorgestelle bekannt waren. Auf diese Weise konnte die Zahl der bekannten und unbekannten Fälle fes gestellt werden.

Insgesamt wurden 20 behandlungsbedürftige Fälle von Lungentuberkulose gefunden, von denen fünf bereits bekannte und 15 neuentdeckte Fälle waren. In zehn Fällen wurde sofortige Krankenhausaufnahme veranlaßt, in drei Fällen Heilstättenaufnahme, ein Fall hat Heilstättenaufnahme abgelehnt, ein Fall steht in ambulatorischer Behandlung. Bei den in den Anstalten aufgenommenen Fällen wurde in fünf Fällen röntgenologisch eindeutig nachweisbarer Zerfall, in vier Fällen Verdacht auf Zerfall und in vier Fällen ein positiver Sputumverdacht erhoben.

Weiter wurden insgesamt 56 Beobachtungsfälle gefunden, bei denen es sich um 38 neuentdeckte Fälle handelt. 27 Fälle mit fraglicher Aktivität, -die eine kurzfristige Beobachtung erfordern, wurden den zuständigen Tuberkulose- Fürsorgestellen gemeldet. Besiduen nach abgeheilten Primäreffekten wurden in 164 Fällen gefunden. Ferner ergaben sich in 28 Fällen Veränderungen am knöchernen Thorax, darunter sechs schwere Skoliosen, sowie 16 Fälle von Veränderungen des Herzschattens, darunter Herzklappenfehler, Dextrokardien sowie auffallend große als auch auffallend kleine Herzschatten, und in zehn Fällen nichttuberkulöse Lungenveränderungen. Insgesamt ergaben sich somit nahezu 300 krankhafte Veränderungen.

Wenn man die Bedeutung und Schwere einer Krankheit nur nach der Zahl der Toten, die diese Krankheit fordert, beurteilt, dann ist die in weiten Kreisen gestellte Frage „Ist die Tuberkulose überhaupt noch eine Volkskrankheit und lohnt es sich überhaupt noch, im Budget größere Geldmittel für ihre Bekämpfung zur Verfügung zu stellen?” verständlich. Aber nicht die Zahl der Toten, die die Tuberkulose fordert, ist entscheidend für die Höhe der Geldmittel, die ein Land zur Bekämpfung dieser Krankheit zur Verfügung zu stellen hat, sondern wie viele Rentner, wie viele arbeitsunfähige Menschen, die von der Allgemeinheit erhalten werden müssen, hinterläßt die Tuberkulose.

Ihre genaue Zahl ist nicht bekannt, aber Jeder Fachmann kann bestätigen, daß diese Zahl im ständigen Ansteigen begriffen ist. Und unter diesem Gesichtspunkt istdieTuberkulose heute noch als Volkskrankheitanzusehen. Man kann sogar behaupten, daß die Tuberkulose unter den derzeitigen Behandlungsmethoden oder, besser gesagt, unter dem derzeitigen Behandlungsmodus nur noch chronischer geworden ist. Da heute der Tuberkulosekranke länger lebt, sind wir vor neue Aufgaben gestellt: Erstens, diese Kranken zu erhalten und,zweitens, entsprechende Maßnahmen zu treffen, um das Weiterumsichgreifen der Krankheit zu verhindern und durch geeignete Vorkehrungen dafür zu sorgen, daß die Zahl der Arbeitsunfähigen, die diese Krankheit zurückläßt, nicht allzu groß wird (Rehabilitation, Beschäftigungstherapie, Schaffung geschützter Betriebe).

Diese Maßnahmen stellen gerade im Zeitpunkt der Hochkonjunktur unseres Landes bei dem’ bestehenden Mangel an Arbeitskräften eine zeitgemäße und wichtige Forderung dar.

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