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Immunität — überholt?

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Die Problematik der außerberuflichen Immunität ist anläßlich des Verfahrens gegen den Abgeordneten Prinke der Öffentlichkeit wieder einmal bewußt geworden. Der folgende Beitrag von Dr. Manfried W elan dient der Einführung in diesen Problemkreis.

* I' Auf Grund der von der Verfassung den Abgeordneten gewährleisteten außerberuflichen Immunität darf kein Abgeordneter wegen einer strafbaren Handlung — den Faul der Ergreifung auf frischer Tat bei Verübung eines Verbrechens ausgenommen — ohne Zustimmung des allgemeinen Vertretunigskörpers, dem er angehört, verhaftet oder sonst behördlich verfolgt werden (Art. 57, 58 und 96 B-VG).

Der Parlamentarier ist von Verfassungs wegen ein unabhängiger, unverantwortlicher und unverletzlicher Organwalter. Durch diesen Sonderstatus ist er nicht nur Im Vergleich zu den anderen Staatsorganen, sondern — vor allem durch die außerberufliche Immunität — {gegenüber den übrigen Staatsbürgern privilegiert. Der Abgeordnete hat zwar wie jeder Staatsbürger die Pflicht, die staatlichen Gesetze zu befolgen, die Staatsorgane haben aber nicht das Recht, ihn strafrechtlich zu verfolgen. Das Gesetz des Handelns liegt diesbezüglich beim Parlament. Es trägt allein die Verantwortung und Entscheidung darüber, ob sein Mitglied „ausgeliefert“ wird und verfolgt werden darf oder nicht. Aus diesem Grund bezeichnen manche Staatsrechtslehrer die außerberufliche Immunität als Recht des Parlamentes als Ganzes, nicht des einzelinen Abgeordneten.

Geschichtliche Hintergründe

Die außerberufiiche Immunität hat ihre historische Wurzel in der Tendenz des frühen Konstitutionaliismus, die Parlamentsmitglieder als Individuen und das Parlament als Institution vom Einfluß des „Staates“ (Monarch und Vollziehung) zu emanzipieren.

Erstmals findet sich die außerberufliche Immunität in England. Dort war den Mitgliedern des Parlaments schon im Jahre 1298 vom König freies Geleit für die Reise zum Parlament und zurück in ihren Wahlbezirk gewährleistet. Anders war die Situation auf dem Kontinent. Jahrhundertelang das herrschende politische System, gab der Absolutismus der Krone und der mit ihr verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Schichten sein politisches Machtmonopol erst nach langen Kämpfen auf. Diese Kämpfe blieben in dauernder Erinnerung. Dies dürfte der Grund dafür sein, daß die parlamentarischen Privilegien und Immunitäten noch in einer Zeit normiert wurden, in der sie ihren ursprünglichen Sinn weitgehend verloren hatten. Sie gehörten eben zum eisernen Bestand einer „ordentlichen“ Verfassung. Tatsächlich finden sich diese Vorrechte in fast allen Verfassungen der westlichen Welt.

In Österreich fand das Institut der außerberuflichen Immunität — vom Kremsierer-Entwurf und dem Februarpatent abgesehen — seine effektive Verankerung erst und erstmals im Staatsgrundgesetz über die Reichsvertretung 1867. Die Verhaftung und die gerichtliche Verfolgung von Abgeordneten ohne Zustimmung des Vertretungskörpers waren ausgeschlossen. Die nach der Revolution von 1918 improvisierte Verfassung kannte keine Immunitätsnormen. Erst das Gesetz über die Volksvertretung vom 14. März 1919 enthielt solche Bestimmungen; sie dehnten die Immunität im Vergleich ur Monarchie aus: Jede behördliche Verfolgung ohne Zustimmung des Hauses war ausgeschlossen. Das B-VG 1920 erweiterte das Institut noch mehr: Die Verhaftung bei Ergreifung auf frischer Tat durfte nur noch im Falle der Verübung eines Verbrechens erfolgen, also nur im Falle, daß das verhaftende Organ ein Verbrechen im engeren Sinne und nicht nur ein Vergehen oder eine Übertretung (wie bisher) annehmen zu müssen glaubte. Die BundesverfassungsnoveBe 1929 modifizierte das Immunätätsrecht, indem sie die Pflicht des Nationalrates normierte, über ein Ersuchen der zuständiigen Behörde um Zustimmung zur Verfolgung binnen sechs Wochen zu beschließen. Wenn der Nationalrat auf ein Auslieferungsbegehren innerhalb dieser Frist nicht reagiert, gilt der Satz: qui tacet consentire vddetur. In dieser Form ist das Immunitätsrecht heute in Geltung.

Ein Paradoxon?

Aus dieser oberflächlichen Darstellung läßt sich ein scheinbares Paradoxon albleiten: In der Ära der konstitutionellen Monarchie, als eine möglichst große Unabhängigkeit des Parlaments gegenüber den anderen Machtträgern, vor allem gegenüber der Regierung des Monarchen, eine politische Notwendigkeit war und die Einrichtungen des Rechtsschutzes des einzelnen zum Teil noch nicht voll entwickelt waren, war die außerberufiiche Immunität in ihrer SAutzfunktion wesentlich beschränkter als in der demokratischen Republik, in der regelmäßig Parlamentsmehrheit und Regierung politisch identisch sind, daher keine politische Notwendigkeit besteht, das Parlament vor der Regierung zu schützen und überdies eine zusätzliche Perfektion der Rechts-schutzeinrichtungen erreicht worden ist.

Daneben ist der Strukturwandel der tatsächlichen politischen Ordnung zu beachten: In der politischen Ordnung der konstitutionellen Monarchie spielten die politischen Parteien keine ausschlaggebende Rolle. Das Parlament verkörperte die „Elite der Nation“, das Wahlrecht war ursprünglich in der Hand von Besitz und Bildung, der Gewählte war eine unabhängige Einzelpersön-ldchkeit, die gewissermaßen „besser“ war als die übrigen Staatsbürger, als Abgeordneter repräsentierte er das ganze Volk und mußte daher die „Qualitäten eines Herrn und nicht eines Dieners besitzen“ (Leibholz). Unter diesem Aspekt ist der Sinn des Sonderstatus des Abgeordneten einleuchtend. Die allmähliche Demokratisierung des Wahlrechts auf die damit entstehende Organiisations-bedüirftigkeit der Massen rief die politischen Parteien auf den Plan. Zunächst in Machtkonkurrenz mit dem Monarchen errangen sie nach dessen Albgang von der politischen Bühne das Machtmonopol und beherrschen die politische Szenerie. Das Parlament veränderte dementsprechend seinen Charakter. Es vereinigt nun in sich weniger die „Honoratioren der Gesellschaft“ als die Honoratioren und Funktionäre der Parteien und der diesen nahestehenden Verbände. In der parteienstaatlichen Massendemokratie ist das Parlament (nach Leibholz, der sich diesbezüglich auch auf Duverger beruft) eine Stätte geworden, „an der sich gebundene Parteibeauftragte treffen, um anderweitig bereits getroffene Entscheidungen registrieren zu lassen“. Demgegenüber heben manche Staatsrechtslehrer allerdings hervor, daß der liberalrepräsentative Parlamentarismus noch immer das Struktur-prinzip der Verfassungsordnung sei. Auch aus der Rechtsprechung des

Verfassungsgerichtshofes läßt sich dies ableiten.

Vielleicht kann folgende Feststellung getroffen werden: In der politischen Realität von heute ist es die Regel, daß der Abgeordnete als abhängiger Parteibeauftragter handelt, in Ausnahme- und Konfliktsituationen wird er als unabhängiger Repräsentant des ganzen Volkes behandelt, so wie es die Verfassung befiehlt.

Die Gegner

Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, daß Hans Kelsen und Carl Schmitt — sonst erbitterte methodologische und ideologische Gegner — beide die sachliche Berechtigung der außerberuflichen Immunität in der demokratischen Republik leugnen. Schmitt meint, daß die geschiichtlichen Anlässe dieser Sonderstellung heute keine ausreichende Rechtfertigung für ein derartig „erstaunliches“ Privileg seien. Kelsen meint, daß es wohl wenig Sinn habe, in einer parlamentarischen Republik, wo die Regierung nichts anderes als ein Ausschuß des Parlaments ist und unter der Kontrolle der Opposition und der öffentMchfeeit steht, die Unabhängigkeit der Gerichte aber garantiert ist, das Parlament vor seiner eigenen Regierung schützen zu wollen. Aber auch als Schutz der Minorität gegen Willkür der Majorität könne das Privileg nicht ernstlich in Betracht kommen, weil ein solcher Schutz gegen die Majorität solange unmöglich ist, als diese die Auslieferung der Abgeordneten an die verfolgende Behörde beschließen kann.

Wäre ein Schutzanspruch des Abgeordneten tatsächlich nicht mehr sachlich und rational begründbar, so wäre man im Hinblick darauf, daß das Prinzip der Gleichheit ein Wesenselement der Demokratie ist und dem Wert nach eine höhere Verfassungsnorm ist als die Immunitätsnormen, geneigt, diese inhaltlich (nicht formell) als „verfassungswidrige Verfassungsnormen“ zu qualifizieren.

Aus dem System und dem Inhalt unserer Verfassung läßt sich aber auch heute noch die Sachgerechtigkeit der Vorzugsstellung des Abgeordneten begründen. Nach der Verfassung darf die Vollziehung nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden (Legalitätsprinzip). Die Staatsfunktionen Verwaltung und Justiz sind dem Gesetz unterworfen, der Gesetzgebung nachgeordnet. Dieses Prinzip läßt es nicht zu, daß Justiz und Verwaltung eine politische Eigenständigkeit entfalten. Politische Wertentscheidungen zu treffen, ist allein Sache der Gesetzgebung. Der Sonderstatus der Abgeordneten dient weniger dazu, diese als Individuen zu schützen oder die politische und rechtliche Unabhängigkeit des Parlaments zu wahren. Vielmehr ist davon auszugehen, daß die Verfassung die rechtliche und politische Abhängigkeit der übrigen Staatsfunktionen von der Gesetzgebung normiert. Diese Abhängigkeit fordert eine permanente Funktionsbereitschaft des Gesetzgebers. Dem Vorrang des Gesetzes vor den übrigen Rechtserscheinungen entspricht eine Vorrangstellung der Gesetzgebungsorgane gegenüber den übrigen Staatsorganen. Unter diesem Aspekt erhält die Privilegierung der Parlamentsmitglieder einen besonderen Sinn. Die Abgeordneten sind den übrigen Staatsbürgern gegenüber also nicht deshalb bevorrechtet, weil sie diesen gegenüber einen Mehrwert besitzen. Die Vorzugsstellung ist nur Mittel zum Zweck: Die Funktionsfähigkcit der Legislative besonders zu garantieren.

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