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Digital In Arbeit

In den Archiven des Schreckens

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Seit einigen Jahren gibt es für junge Österreicher eine Alternative zum herkömmlichen Zivildienst - den Gedenkdienst an Holocaust-Gedenkstätten in aller Welt.

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Seit einigen Jahren gibt es für junge Österreicher eine Alternative zum herkömmlichen Zivildienst - den Gedenkdienst an Holocaust-Gedenkstätten in aller Welt.

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Die Rue des Tanneurs im Zentrum von Brüssel ist keine angenehme Straße. Man stolpert über unzählige grob gehauene Pflastersteine, kleine und große, die hier vor langer Zeit eingepflanzt worden und dann wie schief gewachsene Zähne kreuz und quer in alle Richtungen aufgegangen zu sein scheinen. Es ist unmöglich, auf dieser Straße einfach • spazierenzugehen. Man tritt, steigt, stolpert - und muß aufpassen, daß man nicht fällt.

Stolpersteine historischer Art verbergen sich hinter dem Haus Nummer 65 der Rue des Tanneurs: neben dem Stadtarchiv von Brüssel ist hier die „Fondation Auschwitz", auf flämisch „Stichting Auschwitz", zu deutsch „Aüschwitzstiftung" untergebracht. 1980 als Dokumentationsund Studienzentrum von ehemaligen KZ-Inhaftierten gegründet, hatte sie . zum Ziel, insbesondere Jugendliche über den Faschismus und dessen Folgen, vor allem über den Zweiten Weltkrieg und die nationalsozialistischen Konzentrationslager, aufzuklären. „Es geht darum, alle Mittel in Bewegung zu setzen, um über das Vergangene aufzuklären", beschreibt Daniel Weyssow, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung, die wesentliche Aufgabenstellung.

Ein Rundgang durch die Räumlichkeiten gibt Einblick in die Arbeit der „Stichting Auschwitz". 5000 Bücher und Zeitschriften, welche sich thematisch mit der Zeit von 1914 bis 1945 auseinandersetzen, umfaßt die angelegte Bibliothek. Auch zahlreiche Projekte der Stiftung Konferenzen, Diskussionen, Informationsseminare - haben hier in Form von Bulletins einen schriftlichen Niederschlag gefunden.

Eine der Hauptaufgaben der „Fondation Auschwitz" wird am Erziehungssektor geleistet. Überlebende der Vernichtungslager gehen in Schulen, Universitäten oder andere

Bildungseinrichtungen und sprechen dort über ihre Erlebnisse. Gerade die Tatsache, daß -Zeitzeugen auftreten, die die nüchternen Fakten der Geschichtsbücher gewissermaßen personifizieren und lebendig bezeugen, wird von den meisten Zuhörenden begrüßt. „Wenn jene, die ein KZ überlebt haben, selber kommen und erzählen, sind die Reaktionen durchwegs positiv", berichtet Daniel Weyssow. Die Begegnungen hinterließen immer einen tiefen Eindruck.

Diese positiven Erfahrungen waren Anlaß dafür, mit einer ganz spezifischen Art von Dokumentation zu beginnen: Seit 1993 werden in Zusammenarbeit mit der Universität von Yale (USA) sowie der Freien Universität Brüssel auf Video Interviews mit ehemaligen KZ-Häftlingen angefertigt.

Diese Filme - sie dauern im Durchschnitt sechs Stunden - befassen sich ausführlich mit dem Leben der jeweiligen Person. Minutiös geht der Interviewer mit einem Betroffenen jede einzelne Station - beispielsweise Herkunft, Schulausbildung, Beruf, Familie, Verhaftung, Erfah-

rungen im KZ — durch.

Nicht zuletzt wurde auch deswegen mit dem Aufzeichnen der Interviews begonnen, weil viele Zeitzeugen nicht mehr am Leben sind. Der unschätzbare Wert individueller Erlebnisse - das Fleisch am spröden Gerippe historischer Fakten - soll demnach auch für zukünftige Generationen bewahrt bleiben.

Seit 1. Juli dieses Jahres arbeitet in der „Fondation Auschwitz" ein Österreicher. Martin Skamletz, 26,

studierte in Wien Musiktheorie und Querflöte und wird nun 14 Monate lang in Brüssel seinen Zivildienst im Bahmen des sogenannten „Gedenkdienstes" absolvieren. Dieser ist ein „Ersatz für den Zivildienst in ausländischen Holocaust-Gedenkstätten", wie es der geistige Vater der Initiative, der Innsbrucker Politologe Andreas Maislinger, in einem FüRCHE-Gespräch formulierte. Mit der Zivildienst-Novelle von 1991 wurde der Gedenkdienst gesetzlich verankert. Hintergrund der Initiative ist das Bedürfnis, Österreichs Mitverantwortung für die Naziverbrechen zu übernehmen.

Die Tätigkeiten der Gedenk-dienstleistenden hängen vom Einsatzort und den vorhandenen Strukturen ab. Im „Yad Vashem", dem größten Holocaust-Institut der Welt, in Jerusalem arbeiten die Zivildiener SS-Originalunterlagen durch und speichern sie im Computer. Auch in Auschwitz sind die Gedenkdienstlei-Stenden unter anderem als Archivare tätig; hier werden beispielsweise die Daten des Sterbebuchs von Auschwitz elektronisch erfaßt. Daneben wird von den Zivildienern auch Bi-bliotheks- und Öffentlichkeitsarbeit geleistet.

Martin Skamletz, der als erster österreichischer Zivildiener in der „Fondation Auschwitz" tätig ist, wurde aufgrund seiner Fremdsprachenkenntnisse - Englisch, Italienisch, Französisch und Flämisch -mit Übersetzungsarbeiten betraut; daneben kümmert er sich um das Fotoarchiv.

Folgende Städte stehen für Ge-denkdienstleistende zur Auswahl: Brüssel, Jerusalem, Montreal, Wilna,

Symbol des Grauens, das Zeiten und

Opfer überdauert foto herder verlag

Amsterdam, Auschwitz, Warschau, Theresienstadt, Prag, Kiew, Budapest, Washington D. C, New York, und Los Angeles. Hinzugekommen sind nun auch zwei österreichische Stellen: zum einen die Wiener Initiative ESRA, ein Beratungs- und Behandlungszentrum für Menschen, die unter dem Holocaustsyndrom (das sind Störbilder, die - auch lange danach oder erst bei der Generation der Kinder - als Folge von Lagerhaft, Verfolgung et cetera auftreten) leiden; zum anderen ist in Braunau eine Gedenkdienst-Koordinati-onsstelle vorgesehen, die auch die 'Betreuung der Braunauer Zeitgeschichtetage miteinschließt. Voraussetzung für diesen Posten ist Computererfahrung. (Bewerbungen können ab sofort gerichtet werden an: GEDENKDIENST, Hutterweg 6, 6020 Innsbruck. Tel./Fax: 0512/291087.)

Der Gedenkdienst, der eine lange und schwere Geburt hinter sich hat -von der Idee 1978 bis zur Durchsetzung 1991 immerhin dreizehn Jahre - erfreut sich eines steigenden Interesses. „Durchschnittlich rufen pro Tag zwei Leute bei mir an", berichtet Maislinger. Gegen das Gerücht, wonach es wegen des hohen Andranges fast unmöglich sei, eine Stelle zu bekommen, wehrt er sich aber. „Wer wirklich Gedenkdienst leisten will, wer bereit ist, sich zu engagieren, wer ein hohes Maß an Teamfähigkeit mitbringt, der bekommt mit großer AVahrscheinlichkeit eine Stelle".

Der wunde Punkt des Projektes ist dessen Finanzierung. Der Staat kommt nur für die einzelnen Zivil-dienstpflichtigen, nicht aber für die Verwaltung und Organisation des Gedenkdienstes auf. Der Innsbrucker Politologe kämpft deswegen seit Jahren um eine staatliche Unterstützung. Anders als die deutsche Schwesterorganisation „Aktion Sühnezeichen" (sie inspirierte ihn zur Gründung des „Gedenkdienstes"), die sich von Zuwendungen der evangelischen Kirche und Spenden finanziert, will er die Republik Österreich bewußt zur Verantwortung, auch zur finanziellen, heranziehen.

Die Autorin ist

freie Journalistin.

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