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In die Ecke, Besen!

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Ich knüpfe an eine Arbeitstagung des Internationalen Kongresses für zivilgerichtliches Verfahren an, der kürzlich in Wien tagte. Univ.-Prof. Dr. S c h i m a erwähnte eine Aeußerung des Ersten Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, Dr. Ströbele : Die große Anzahl der Fälle, in denen der Oberste Gerichtshof sich ausschließlich mit verfahrensrechtlichen Fragen zti beschäftigen habe, sei erschreckend. Professor Doktor S c h im a erklärte, daß gerade diese Aeußerung ihn .veranlaßt habe, über das Thema „Richterliche Bindung und richterliche Frei' heit im Zivilprozeßrecht“ sprechen zu lassen. In s der Diskussion ergriff auch der Vorsitzende Rat des Oberlandesgerichts Wien, Dr. Gabler, das Wort und wies darauf hin, daß eine Bindung des Richters an verfahrensrechtliche Vorschriften nicht zu umgehen sei, daß aber die Gerichte diese Vorschriften doch auch ihrem Sinne und ihrer Bedeutung gemäß auslegen müßten. Das geschehe nicht immer.

Nun, mit den Verfahrensbestimmungen ist es einmal so. Sie haben die Aufgabe und nur die Aufgabe, der Rechtsfindung zu dienen. Sie haben keinen Selbstzweck. Aber mit diesen Dienern geht es oft wie mit dem Besen des Zauberlehrlings. Sie sind nur da, das Bad zu bereiten, gewinnen aber ein Eigenleben und verursachen dabei eine Ueberschwemmung, in der schließlich die arme Gerechtigkeit elendiglich ertrinken muß, wenn der Richter sie nicht als wahrer Zaubermeister mit dem Zauberwort: „In die Ecke, Besen!“ in ihre Schranken weist. Aber gar oft glaubt der Richter, das Zauberwort nicht gebrauchen zu dürfen, das Eigenleben der Verfahrensvorschrift als den Ausdruck eines mythischen und unerforschlichen tyrannischen Willens hinnehmen zu müssen, den man ungeachtet der drohenden Zerstörungen blind zu vollziehen habe. Immer wirkt allerdings bei diesen Unglücksfällen der Zivilgerichtsbarkeit die Unklarheit und unzulängliche Fassung der Verfahrensvorschrift selbst mit.

Dr. Gabler brachte zur Erläuterung folgendes Beispiel, einen Fall des sogenannten relativen Anwaltszwanges. Es gibt Fälle, in denen sich die Partei zwar grundsätzlich nicht eines Anwalts bedienen muß, wie beim absoluten Anwaltszwang. Sie kann wohl allein vor Gericht erscheinen und verhandeln. Sie darf aber nicht ihren Gatten, den'Geschäftsführer oder sonst einen Laien mit ihrer Vertretung betrauen. Erscheint sie nicht persönlich, so kann sie nur einen Rechtsanwalt mit ihrer Vertretung betrauen. Dieser „relative Anwaltszwang“ gilt unter anderem für die Erste Tagsatzung vor einem Gerichtshof in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Es geschieht in der Regel nicht viel bei dieser Ersten Tagsatzung, und der Anwalt kann seinerseits beruhigt eine Kanzleiangestellte entsenden, die weder von der Juristerei noch von der gerade streitigen Angelegenheit viel weiß. Die Partei aber, die die trockene Belehrung der Ladung übersieht oder nicht versteht und statt des unwissenden Mädchens der Rechtsanwaltskanzlei ihren informierten Geschäftsführer entsendet, ist als nicht erschienen zu behandeln. Kann nicht noch geschwind vom Gang ein Rechtsanwalt herbeigeschleppt werden, so ist ein Versäumnisurteil erwirkt, der Prozeß ist verloren. Jahrzehntelang ließ allerdings die Gerichtsübung in milderer, aber nicht gesetzwidriger Auslegung der Verfahrensbestimmungen eine Korrektur des in der Ver-> tretung unterlaufenen Fehlers zu. Der Richter hatte die Erste Tagsatzung zu erstrecken und der Partei damit die Möglichkeit zu geben, den unterlaufenen Fehler bei einem neuen Termin auszuwetzen. In den letzten Jahren hat der Oberste Gerichtshof allerdings ohne besondere Veranlassung seine bisherige Praxis als schwächlich bezeichnet und der Partei eine Verbesserung ihres prozessualen Versehens abgeschnitten. Sie hat also ihren Prozeß endgültig verloren, mag es sich nur um eine Kleinigkeit gehandelt haben oder um ihr gesamtes Vermögen.

Ein anderes Beispiel. Wer vor Gericht auftritt, muß sagen, was er haben will; er muß, sagt der Jurist, einen Antrag stellen. Auch wer Berufung gegen ein Urteil ergreift und die zweite Instanz um ihre Entscheidung angeht, muß das tun. Das Gesetz schreibt darum mit Recht vor, daß eine Berufung ohne weiteres zurückzuweisen ist, wenn es an einem Antrag fehlt oder wenn der Antrag unbestimmt ist. Nun ist aber meist schon aus den sonstigen Ausführungen der Berufung deutlich erkennbar, was die berufende Partei haben, was sie beantragen will. Die als Antrag bezeichnete, der Berufung vorgesetzte oder angehängte Floskel bringt also meist nichts, was nicht schon aus den sonstigen Ausführungen klar hervorginge. Der Oberste Gerichtshof hat dies erkannt und schon öfter von der Zurückweisung der Berufung abgesehen, obwohl die Antragsfloskel völlig sinnlos entstellt war. Passiert es aber einmal, daß die Antragsfloskel ganz wegbleibt, dann kümmert er sich nicht mehr darum, daß aus dem Inhalt der Berufung klar hervorgeht, was beantragt werden soll, die Berufung wird zurückgewiesen, nicht, weil der Antrag aus der Berufung nicht erschlossen werden könnte, sondern nur, weil das Wort „Antrag“ und eine Floskel fehlt, auf deren Sinn er sonst keinen Wert legt.

Es soll hier nicht einer Vernachlässigung der Verfahrensvorschriften das Wort geredet werden. An der 14tägigen Berufungsfrist zum Beispiel ist nicht zu rütteln. Auch nicht daran, daß die Revision, das Rechtsmittel gegen das Urteil der zweiten Instanz, immer bei der ersten Instanz einzubringen und daß die Rechtzeitigkeit der Revision nur nach dem Einlangen bei diesem Gericht zu beurteilen ist. Das alles muß geordnet sein, und es ist auch im Gesetz klar geordnet.

Da gibt es aber doch eine recht verwickelte Bestimmung für das Wiederaufnahmeverfahren, also das Verfahren, in dem etwa geltend gemacht wird, daß ein früheres Urteil auf Grund der Aussage eines Zeugen ergangen ist,, der jetzt wegen dieser falschen Aussage vom Strafgericht verurteilt wurde. Dieses Wiederaufnahmeverfahren ist durch eine Klage einzuleiten, und zwar unter Umständen bei dem Gericht, das früher in zweiter Instanz entschieden hat. Das frühere Gericht zweiter Instanz ist also jetzt erste Instanz, es gelten aber doch zum Teil die Bestimmungen für die zweite Instanz. Nun tritt bei dieser Zwitterstellung der Gerichte an den Rechtsbeflissenen die Aufgabe heran, zu entscheiden, bei welchem Gericht die Revision einzubringen ist: bei dem Gericht, das jetzt erste Instanz ist, oder bei dem, das früher erste Instanz war. Der Oberste Gerichtshof hat bei der Lösung der Frage öfter geschwankt, aber nur ein und das andere Mal hatte er die natürliche Einsicht, und ich muß sagen: auch den Mut, sich gegen die mythische Gewalt der Verfahrensvorschriften zu empören und zu erklären, das Rechtsmittel könne eben bei jedem der beiden Gerichte wirksam eingebracht werden. Nicht die Parteien hätten die Unklarheit des Gesetzes zu tragen. Jetzt hat der Oberste Gerichtshof in dieser Frage wenigstens dem Schwanken durch ein bindendes Judikat ein Ende bereitet.

Die schon erwähnte Vorschrift, daß gegen die Partei, die nicht erscheint, ein Versäumungsurteil zu fällen ist, das den Prozeßverlust bedeutet, ist der Partei gegenüber, die sich dem Gericht entzieht, äußerst wohltätig und gut begründet Das Nichterscheinen kann aber auch unbeabsichtigt sein. Man kann wegen dieser Möglichkeiten nicht immer erst beim Nichterscheinen Erkundigungen einziehen, ehe die Konsequenz aus seinem Ausbleiben gezogen wird. Aber das Gesetz gibt ihm die Möglichkeit, die Folgen des Ausbleibens, das Versäumnisurteil durch einen Wiedereinsetzungsantrag zu bekämpfen. Er muß ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Hindernis am Erscheinen wenn auch nicht beweisen, so doch glaubhaft machen. Das Gesetz begünstigt offenbar die Wiedereinsetzung, denn es läßt ein Rechtsmittel gegen ihre Bewilligung nicht zu. Das sollte schon ein Fingerzeig für die Praxis sein, die Voraussetzungen nicht allzu streng auszulegen, wie es leider nur allzuoft geschieht, weil der Richter sich scheut, „schwächlich“ zu sein. Aber schließlich muß zugegeben werden, daß eine aufgelegte Schlamperei, zum Beispiel ein kleiner Tratsch auf dem Weg zum Gericht, von dem man sich nicht rechtzeitig losreißen kann, nicht unter die gesetzlichen Voraussetzungen eingereiht werden kann und nicht ungestraft bleiben soll. Ist es aber wirklich angemessen, selbst eine solche Schlamperei mit dem völligen Prozeßverlust zu bestrafen, mag es um noch so viel gehen? Die Bedenken, die gegen diese allzu forsche Strenge des Gesetzes bestehen, wurden auch bei der eingangs erwähnten Tagung vom Berichterstatter, Univ.-Prof. Bruns aus Saarbrücken, hervorgekehrt.

Ich will nicht mit Mephistopheles dem Gesetz und dem Recht die üble Nachrede bereiten: „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage.“ Es gilt mir nur, dem Gesetz und der Gerichtsübung in Erinnerung zu rufen, daß die Bedeutung der Verfahrensvorschriften nur im Dienst für die Rechtsfindung gesehen werden ljann. Wo sie zu sinnlosen Ergebnissen führen, kann und soll eine sinnvolle Auslegung das Unheil abwenden, das eine allzu starre Auslegung zur Folge hätte.

„Nationalsozialisten“ zu bezeichnen. Richtiger ist es — wenn auch nicht lückenlos zutreffend —, den deutschen Nationalismus mit jenen Augen anzusehen, deren Sehweise die Sowjets leitet, mit den Maßstäben der Klassenzugehörigkeit also. Vor hier aus gesehen, gab es im deutschen Nationalsozialismus drei Gruppen. Zum ersten. Die winzige und klassenmäßig der „freischwebenden“, deklassierten Intelligenz angehörende Gruppe der Ideologen, deren Funktion mit 1945 im

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