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In die Welt im Gewände der Welt

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Es gehört zu den größten Merkwürdigkeiten, daß die Filmindustrie, zumindest die europäische, über ihr Publikum fast nichts weiß. Man beruft sich auf Kassen-rapporte und auf den Publikumsgeschmack, aber wer dieses Publikum ist, wie diese Kassenrapporte zustande kommen, darüber zerbrechen sich die Fachleute nur selten den Kopf. Sie haben „eine Nase dafür“, sie haben Vermutungen und Schätzungen, aber daß nach fünfzig Jahren Film Produzenten und Autoren in Deutschland kürzlich zur Erkenntnis kamen, man brauche ein Institut für Psychologie des Filmpubli-kums, erweist, daß die Industrie über das Publikum, das doch die Existenzgrundlage des Films ist, nichts oder zu wenig weiß. Wenn wir also die Frage, die der Untertitel nennt, untersuchen, so begeben wir uns auf eine terra incognita.

Natürlich kennen wir Zahlen. Wir wissen, daß im Jahre 1949 rund hundert Millionen Menschen in Österreich ins Kino. gegangen sind und im Jahr 1950 nur 92,350.000. Das heißt statt 270.000 täglich im Jahre 1949 nur 252.000 täglich im Jahre 1950. Wer aber die 18.000 Menschen sind, die 1950 jeden Tag weniger, ins Kino gingen, wissen wir nicht. Wer ins Kino geht, wenn die Besucherzahl eines Films über den Durchschnitt steigt, wissen wir auch nicht.

1,924 hat Cecil de Mille erkannt, daß der religiöse Film ein Geschäft sein könne. Es entstanden „Die zehn Gebote“, „König der Könige“, „Im Zeichen des Kreuzes“. Trotz der großen Herstellungskosten wurden mit diesen Filmen ungezählte Millionen verdient. Diese Filme waren als Attraktionen gemacht, die auch ohne das religiöse Thema die Massen angelockt hätten. Sie brachten aber durch das religiöse Thema auch jenes Publikum ins Kino, das sonst nicht ins Kino ging.

Im gleichen Jahre, als „König der Könige“ erschien, im Jahre 1927, entstand auch der Film des Dänen Dreyer „Jean d'Arc“, der erste große religiöse Film, der gleichzeitig einen Vorstoß der Film k u n s t bedeutete. Er ist für die Weiterentwicklung der Filmkunst von großer Bedeutung, geschäftlich war er eine Niete, die sich die Herstellerfirma einfach leistete. Dieses Beispiel zeigt, daß der Durchschnittsfilm und der künstlerische Film unter völlig verschiedenen Voraussetzungen entstehen und aufgenommen werden.

Der übliche Unterhaltungsfilm begegnet schon bei seinem Erscheinen einer breiten Publikumsschicht, die er anspricht, die aber schon kurze Zeit danach zahlenmäßig abnimmt und bald ganz gering wird. Der künstlerische Film und ebenso der gehaltvolle religiöse Film aber veraltet nicht oder wenigstens lange nicht und könnte mit der Zeit immer größere Publikumskreise ansprechen, wenn dem nicht die industrielle, auf rasche Amortisation der angelegten Beträge eingestellte Struktur des Films entgegenstünde. Die wesentlichen Werke des religiösen Films wurden daher gegn die Filmindustrie geschaffen. Sie wenden sich nur zum Teil an die Kinobesucher, die der Film bereits hat, zu einem großen Teil wenden sie sich an ein zusätzliches Publikum, das durch eine Werbung für diese Filme gewonnen werden muß. Es ist dies ein Besucherkreis, der der üblichen Filmwerbung schwer zugänglich ist. Ein weiterer zusätzlicher Besucherkreis für diese Filme kann natürlich auch dadurch gewonnen werden, daß er anderen Filmenweggenommen wird. Da bedeutet dann eine Lenkung des Publikums.

Der Film „Das Lied von Bernadette“ hat seit seinem Erscheinen in Österreich bis zum 31. März dieses Jahres 1,119.682 Besucher gehabt. Der Film .Nachtwache“ wies zum selben Zeitpunkt 980.000 Besucher auf und hat seither die Million überschritten. Der Film „Monsieur Vincent“ hatte 235.000 Besucher. Das sind drei religiöse Filme, die in Österreich beachtliches Echo fanden. Wem diese Zahlen imponierend erscheinen, der vergleiche damit den .Hofrat Geiger“ mit 2,3 Millionen, den „Engel mit der Posaune“ mit 1,5 Millionen, „Die kleine Melodie aus Wien“ mit 1,2 Millionen Besuchern bereits im Juli 1950. Also jeder dritte Österreicher sah den „Hofrat Geiger“, jeder sechste etwa „Bernadette“ und „Nachtwache“. .Nachtwache“ war einer der stärksten Filmerfolge in Deutschland und erreicht fast die Zehnmillionengrenze. Das ist imponierend. Aber „Der dritte Mann“, .Frauenarzt Dr. Prätorius“ und „Gabriela“ liegen ganz in der Nähe in der Publikumsgunst. Das heißt also: der religiöse Film ist die Ausnahme. Das Publikum geht auch in einen religiösen Film, wenn er so gestaltet ist, daß er dem Publikum etwas gibt, und zwar entweder das, was es will (de Mille) oder das, was es braucht (Nachtwache).

Damit ist das Problem für den Produzenten religiöser Filme fixiert: ein religiöser Film, der geschäftlich erfolgreich 6ein will, muß a) die zusätzlich für das religiöse Thema aufgeschlossenen Kreise ansprechen, b) vor dem Stammpublikum der Kinos die Konkurrenz mit Filmen wie „Der dritte Mann“, „Gabriela“ usw. aufnehmen oder c), er wendet sich von vorneherein an eine Elite und verzichtet auf die Massen. Das können sich nur gewisse Filme, welche die Breitenwirkung im eigenen Land gegen das künstlerische Echo in vielen Staaten vertauschen, erlauben.

Um eine Antwort der besonderen Publikumsschicht, an die sich der religiöse Film wendet, in Österreich zu gewinnen, haben die Veranstalter der religiösen Filmfestwoche in Wien eine Rundfrage angestellt, die von Dr. Ingrid H ü b 1 bearbeitet wurde und folgende interessante Ergebnisse brachte:

Auf die Frage „Welche Filme betrachten sie als wirklich religiös?“, werden am häufigsten vier genannt: „Das Lied von Bernadette“ (von 83,1 Prozent der Antwortenden), „M o n-sieur Vincent“ (von 64,7 Prozent), .Nachtwache“ (von 54 Prozent) und „Matthäuspassion“ (von 47,1 Prozent). Diese Reihung stimmt überein mit der Reihung, die sich auf die Frage: „Welche Filme haben Ihnen am besten gefallen?“ ergibt. Am interessantesten ist jedoch die Begründung, die auf die Frage .Warum bezeichnen Sie diese Filme als religiöse Filme beziehungsweise warum haben Sie Ihnen gefallen?“ gegeben wird.

Die Analyse dieser Antworten, die die Bearbeiterin vornahm, ergibt, daß die Einsender eine sehr bestimmte Vorstellung vom religiösen Film haben. Er soll religiöse Probleme, religiöse Wahrheiten behandeln, religiöse Empfindungen hervorrufen. Man erwartet vom, religiösen Film, daß er transzendent sei. Es zeigt sich, daß deutlich zwei Arten des religiösen Films von den Einsendern unterschieden werden: die eine, in der ein Glaubensinhalt, das Heilige und das Wunder dargestellt werden, etwa „Das Lied von Bernadette“, „Das große Geheimnis“, „König der Könige“. Die andere, in der die Auswirkung des Christentums, das christliche Leben dargestellt werden, Filme, die Probleme aufwerfen und sie auf christliche Art lösen.

Diese zweite Art wird als Ideal empfunden und verlangt. Das Beispiel, da die Antwortenden im Gedächtnis haben, ist die „Bernadette“, den Film, der ihrer Forderung entspricht, sehen sie in „Nachtwache“. Nicht Priester oder geistliche Schwestern braucht es unbedingt für den religiösen Film, nicht den Ritus und die Zeremonien, .religio ist schon ein Film, der wahr ist“, heißt es in einer Antwort. Der sittlich wertvolle Film ist besser als der religiös deklarierte Film, heißt es. Man soll Humor und Fröhlichkeit nicht vergessen, denn die Leute gehen zur Unterhaltung ins Kino. Künstlerische Gestaltung und imitatio Christi sind die beiden Elemente des religiösen Films, heißt es in den Antworten, und der Wert eines religiösen Films wird in weitgehender Ubereinstimmung nicht an dem religiösen Stoff, sondern an dem Apo-stolat, das er ausübt, nach dem missionarischen Wert, der ihm zukommt, gemessen. Eine Formulierung dieser gemeinsamen Tendenzen der Antworten besagt: Der religiöse Film soll die Realität von Gott und Christus in die Welt hinaustragen im Gewände der Welt.

Obwohl diese Ergebnisse nur auf etwa 170 ausführliche Antworten, die von den Einsendern Mühe und Beschäftigung mit der Materie verlangten, zurückgehen,kommt ihnen doch eine Bedeutung zu. Sie stammen von Menschen aller Stände und Schichten aus Stadt und Land. Die auffallende Ubereinstimmung der Richtung ihrer Antworten ist eine Forderung: der religiöse Film soll -das Ringen um das Gros des Kinopublikums aufnehmen, seine Hersteller sollen sich durch den Lärm der Schlager und der Konfektion nicht schrecken lassen, sondern mit dem „Dritten Mann“ und „Gabriela“ in Konkurrenz treten. Der Beweis, daß das mit Erfolg möglich ist, wurde seit „Nachtwache“ erbracht. Und das kann vielleicht den Wendepunkt in der Frage „Der religiöse Film und das Publikum“ überhaupt bedeuten.

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