7117934-1996_22_20.jpg
Digital In Arbeit

Indianische Kulturgeschichte als spannende Reiseerzählung

Werbung
Werbung
Werbung

Die Urwaldzivilisation der Mayas ist jedem ein Begriff, doch gilt sie bei uns als seit Jahrtausenden untergegangen. Zu zeigen, wieviel von ihr noch vorhanden ist, und die Situation der Maya-Nachfahren in Mexiko in einer schrittweisen Einführung in den Höhepunkt der Maya-Kultur vor 1200 Jahren zu erklären, hat sich Leo Linder in seinem Buch „Unter der Jaguarsonne” zum Ziel gesetzt.

Die Zahl der heutigen Maya wird auf fünf bis sieben Millionen Menschen geschätzt, die in Mexiko, Belize, Guatemala und Honduras leben -am Rand der Gesellschaft und ohne Rechte, wie die meisten Indianer. So hat sich an den Machtstrukturen in Chiapas seit der spanischen Kolonialzeit nichts geändert.

Während im übrigen Mexiko nach der Revolution (1910 bis 1917) dank einer Landreform privater Großgrundbesitz teilweise an die Gemeinden zurückgegeben wurde, blieb in Chiapas alles beim alten. Bei den aufständischen Zapatisten vor drei Jahren handelte es sich vorwiegend um indianische Kleinbauern, Angehörige verschiedener Maya-Völker wie Tzot-ziles, Tseltales, Choles, Mames oder Lacandones - fast eine Million Menschen, ein knappes Drittel der Bevölkerung von Chiapas, die in bitterster Armut vom Ertrag dürftiger Böden oder als Landarbeiter von kümmerlichen Löhnen lebten, während sich fast alles fruchtbare Land in den Händen von 18 Familien spanischer oder deutscher Abstammung befand.

Keineswegs zufällig begann der Aufstand an dem lag, an dem das Nafta-Freihandelsabkommen in Kraft trat, das die USA mit Kanada und Mexiko ausgehandelt hatten. Damit öffnete sich Mexiko für Importe der weit überlegenen nordamerikanischen Landwirtschaft und verpflichtete sich gleicheitig, staatliche Subventionen zu streichen und Privatisierungsbestrebungen zu unterstützen - Regelungen, welche die Indios in Chiapas mit noch größerer Arbeitslosigkeit bedrohten. Linder zeigt eindringlich, warum es den Nachkommen der Maya-Hochkultur so schwer fällt, sich gegen Regierung und Großgrundbesitzer zu wehren. Ihr Weltbild ist völlig anders als das westliche.

Barbara Pfeiler, Professorin für Maya-Linguistik in Merida, hatte unter Mayas gelebt und mit ungläubigem Staunen beobachtet, wie rasch die Dorfbewohner von einer religiösen Gruppierung zur nächsten wechselten: „Meine unmittelbaren Nachbarn waren zunächst katholisch, besuchten dann plötzlich presbyteriani-sche Gottesdienste und drei Jahre später waren sie Zeugen Jehovas. Und von denen sind sie jetzt nicht mehr wegzubringen. Offenbar sucht man so lange, bis man eine religiöse Form gefunden hat, die dem eigenen Temperament entspricht.” Nordamerikanische Sekten haben großen Erfolg bei den Indios Mittelamerikas und es hieß, daß sie mit der rigorosen Ablehnung des Alkohols und sämtlicher alten Bräuche die traditionellen dörflichen Strukturen zerstören würden.

Eine andere Autorin berichtet, ein presbyterianischer Maya-Prediger habe zunächst jede Beteiligung seiner Gläubigen an heidnischen Bitualen abgestritten: „Aber ich hörte nicht auf, ihn danach zu fragen. Schließlich gab er zu, daß sie auch nach ihrer Bekehrung damit fortfahren. Ich glaube, er verhält sich wie jeder gute katholische Priester in der Vergangenheit: solange sie nicht übertreiben, läßt er sie gewähren. Aber auch Dionisio selbst hat ja keine genaue Vorstellung davon, wo die verbotene Maya-Reli-gion aufhört und wo die erlaubte weiße protestantische anfängt.”

Das Weltbild der alten Maya beruhte auf einem Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit von Menschen und Göttern, wie aus dem „Popol Vuh”, dem heiligen Buch der Quiche-Mayas, hervorgeht. Die Götter begründen darin den Beschluß, den Menschen zu erschaffen: „Schaffen wir uns jene, die uns erhalten und ernähren. Was ist zu tun, daß man uns anrufe und erinnere auf Erden? Laßt uns ein Wesen schaffen, das gehorsam sei und ergeben, das uns nährt und erhält.” Der Mensch war daher bedacht, Sorge zu tragen, daß die jenseitige Welt nicht aus den Fugen geriet.

Dafür war vor allen anderen der König zuständig - politischer Führer und Schamane in einer Person. Durch regelmäßige Blutopfer erweiterte er seine Macht in einem für uns unvorstellbarem Maß, so daß sie sich sogar ins Jenseits erstreckte. Er durfte sich als Ernährer der Götter fühlen; der jeweilige Herrscher, „kulahau”, heiliger Herr, verkörperte die Weltachse, den Mittelpunkt, um den sich alles drehte.

Leo Linder schreibt nicht trocken, sondern flüssig und locker; er fand eine spannende Art, eigenes Erleben mit dem Wissen, das er vermittelt, etwa über das May-Königtum, zu verbinden. Dieses hatte im Verlauf der letzten beiden vorchristlichen Jahrhunderte Gestalt angenommen. Rund tausend Jahre lang regierten die heiligen Herren die Maya-Reiche des Südens. Sie erreichten nie die Ausdehnung gleichzeitiger europäischer Reiche. Ihre Fläche entsprach etwa dem Staatsgebiet der alten Bundesrepublik Deutschland, mit acht bis zehn Millionen Einwohnern in der klassischen Zeit. Sie verteilten sich auf kleine Königreiche, die wie die Stadtstaaten des klassischen Griechenland durch Sprache und Kultur eng verbunden waren, ihre politische Unabhängigkeit aber hartnäckig verteidigten. Ihre Zahl wuchs von einem Dutzend um Christi Geburt auf rund 60 im achten Jahrhundert.

Trotz der Machtfülle der Könige sollte man sich diese, so Linder, weniger als Despoten denn als besonders raffinierte Manipulatoren vorstellen, die nicht auf faulen Zauber, persönliches Charisma oder den Appell an die niedrigen Instinkte setzten. Vielmehr basierte ihre Macht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Als glänzende Mathematiker und Astronomen und im Besitz eines großen Erfahrungswissens konnten sie Begen oder Dürre vorhersagen, verbargen aber ihre Kenntnisse und boten dem Volk eine magische Erklärung - ihre göttliche Abstammung. Wer sie durchschaute, mußte beseitigt oder in die Herrschaftsschicht integriert werden. So bildete sich ein Hof von Intellektuellen, Künstlern und Handwerkern, die unablässig beschäftigt waren, den Abstand zwischen dem unwissenden Volk und den Göttersöhnen zu vergrößern.

Bei aller Urtümlichkeit der technischen Mittel brachten die Maya eine hochentwickelte Zivilisation hervor. Sie konnten die Zeit erstaunlich prä-, zise messen, dachten in Millionen Jahren, verfügten über ein ausgeklügeltes Zahlensystem (ihr Koordinatensystem war dreidimensional), vollbrachten wahre Wunder auf dem Gebiet der Kunst und Architektur und gaben ihr Wissen in Form eines ausgereiften Schriftsystems weiter.

Die tiefe Zerrissenheit des heutigen Mexiko illustriert Linder mit der Aussage eines Taxifahrers, eines Mestizen aus Chiapas: „Yucatän haben sie bereist - nur um etwas über Mayas zu erfahren? Dafür hätten Sie Cancün nicht zu verlassen brauchen. Ich sage Ihnen: Den Indio lernen sie nirgendwo besser kennen als hier! Nur hier können sie erleben, wie sich so ein Bursche vom Land, aus der tiefsten Wildnis, in eine Witzfigur verwandelt. Kaum angekommen, bringt er sich vier, fünf, wenn's hoch kommt zwanzig Wörter Englisch bei, zieht sich wie ein Amerikaner an, führt sich wie ein Amerikaner auf und hält sich früher oder später auch für einen Amerikaner - aber wenn du mit ihm redest, merkst du sofort: Der denkt noch genauso wie früher in seinem Dorf. In seinem Kopf hat sich nichts verändert.”

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung