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Indiens anderes Gesicht

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Gandhis geistige Erben an der Macht.

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Gandhis geistige Erben an der Macht.

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In Nummer 42 der FURCHE kennzeichnete Dr. Hans Penzel, Gauting, mit seinem Aufsatz „Ein Volk widersagt dem Krieg“ die Philosophie der „aktiven Gewaltlosigkeit“ des Hinduismus, deren Anwendung auf das Staatsleben und auf die großen Schicksalsangelegenheiten der Völker, auf Krieg und Frieden, von dem staatsmännischen heutigen Führer Indiens, Pandit Nehru, vor den Vereinten Nationen eindrucksvoll wie eine religiöse Lehre vertreten wurde. Bringt mit dieser Absage an das Schwert Asien der Welt eine erlösende Botschaft? Der Verfasser des nachstehenden Aufsatzes, der Indien auf großen Reisen gründlich kennenlernte, zeigt eine Zweigesichtigkeit des modernen, zur Macht gelangten Hinduismus, die vor Illusionen warnt. Der Beitrag unseres hochgeschätzten New-Yorker Mitarbeiters und Vertreters der FURCHE in Lake Success traf gleichzeitig mit dem Aufsatz Dr. Hans Penzels ein. Wir glauben, beide publizieren zu müssen, da gerade die aufgezeigten Gegensätze die Problematik des indischen Wesens und der Rolle Indiens in den großen Auseinandersetzungen im asiatischen Räume deutlich machen.

Nach einer vielverbreiteten Meinung ist den Führern Indiens die Einigung eines großen Landes und Volkes gelungen. Indien ist kein Land und die Inder kein Volk — sie waren es hie und können es noch lange nicht sein. Zwischen dem Himalaya und Ceylon sind die Unterschiede in Sitte, Wirtschaft, Recht, Sprache, Farbe und Abstammung größer, als sie vor 50 Jahren zwischen Petersburg und San Franzisko, vor 25 Jahren zwischen Warschau und Buenos Aires waren. Der Unterschied zwischen einem Basler Aristokraten und einem Hafenarbeiter Rios ist wesentlich geringer als zwischen einem Bombayer Parsi und den Angehörigen eines der beinahe vorsintflutlichen Stämme an der Nordostgrenze Indiens. Die Einheit Indiens wird von einer Gruppe von zwei bis fünf Prozent seiner Bevölkerung dargestellt, die den starken Wunsch hat, diesen Subkontinent nach ihren Wünschen und Interessen zu lenken. In ihr sind viele Teile der 340 Millionen gar nicht, andere nur durch Höflichkeitsrepräsentanten vertreten.

Nur auf dieser meist verkannten Grundlage kann man die Politik der indischen Führer verstehen. Man muß diese Tatsachen mit ihren Worten vergleichen. Und man muß ihre Worte mit ihren Taten vergleichen.

Worte Nehrus: „In vergangenen Zeiten konnte man daran denken, ein Land zu erobern und zu behalten. Heutzutage denkt man an so etwas gewöhnlich nicht mehr ... Wenn ein militärisches Problem entsteht, steckt ein Fehler dahinter. Wenn Krieg kommt, erhebt sich eine zweite Gefahr. Der Krieger oder der Feldherr versteht nicht haltzumachen. Er geht bis ans bittere Ende und zerstört alle politischen Ziele.“

Die Tatsachen: Indien hat heute eines der größten stehenden Heere der Welt, eine halbe Million unter den Waffen. Wozu, da es nicht einmal so viel Truppen wie Holland nach Korea schicken kann? Die Besetzung Heidarabads, das mit Mysore zu den bestverwalteten Gebieten gehörte, vollzog sich bis ins Detail nach dem Muster der Besetzung der Tschechoslowakei durch Hitler. Ein Militärregime wurde eingesetzt, das vor Leben, Freiheit und Vermögen der Bevölkerung nicht haltmacht. Politische Gegner werden in Schau-und Scheinprozessen verurteilt, das Vermögen aller Verwandten und Verschwägerten der gegnerischen Gruppen wird rückwirkend konfisziert, einschließlich jener, die der Militärgouverneur nach Willkür zu Mitgliedern dieser Gruppen ernennt. Der Nyzam Spielt dieselbe Rolle wie Hacha. Die Begründung: Die Mehrheit des Volkes Heidarabads sei mit der Indiens religionsverwandt und daher der Wille der Minderheit und des Fürsten unbeachtlich. Wozu bedurfte es dann eines Vertragsbruches und der Besetzung statt der Verhandlungen, die angeboten, und der Abstimmung, die leicht zu erzielen war?

In Kaschmir rief der Fürst und die Minderheit die Inder gegen die Mehrheit herbei, und sie marschierten ein, genau wie in Heidarabad, und so weit, wie Pakistan sie ließ, das Heidarabad nicht zu Hilfe eilen konnte. Wenn man ein Prinzip vertreten will, muß man vor allem eines haben.

„Der Grundgedanke des Gandhismus besteht darin, nicht Böses zu tun, selbst wenn es zeitweilig Gutes bringen sollte, denn in der Gegenwirkung muß es mehr Übel erzeugen.“ Mit diesem Argument empfahl Gandhi den Japanern, keinen Widerstand zu leisten, wenn sie ins Land dringen sollten — sie würden schon ihr Unrecht selbst einsehen. Trotzdem ist Nehru der Apologet des asiatischen Nationalismus. Der von wilder Gewalt begleitete Nationalismus Indiens und Pakistans, Burmas und Indonesiens hat mehr Menschen das Leben gekostet, als Österreich bevölkern, mehr zu Krüppeln und Kranken gemacht, als die Donaumonarchie bewohnten, mehr heimatlos gemacht als die „Umsiedlung“ der Deutschen und Ungarn aus der Tschechoslowakei und Polen, mehr Vermögenswerte zerstört, als ganz Italien besitzt. Geburtswehen junger Staaten? Welch stümperhafte Hebammen! Der asiatische Nationalismus, mit religiöser Intoleranz gepaart, wird den Völkern Asiens die Wohltaten der Religionskriege und der Nationalkriege Europas bescheren, statt daß ihre Führer gelernt hätten, sie davor zu bewahren. Er wird den einen unter den neuen Herrschern Landgewinn, den anderen Landverlust bringen, aber von den Völkern Asiens mit dem größten Menschenopfer der Weltgeschichte und von der Welt mit einem Verlust vieler Hunderte von Milliarden Dollars bezahlt werden. War es mit dem Nationalismus Japans nicht genug? Die Politik Indiens wird noch einige Überraschungen bereiten. Warum kämpft Pandit Nehru für einen Sitz Peipings am Lake Success nicht neben, sondern statt Formosas? Warum befürwortet er die Aufgabe des Grundsatzes, daß Gewalt kein Recht schafft? Hitler hat den Kommunismus zu Hause unterdrückt und sich im Ausland mit ihm verbündet, solange es ihm nützlich schien. Nehru verbindet sich nicht mit ihm, aber er verbeugt sich vor ihm. „Ich bin ein Revolutionär, aber kein Marxist. Ich halte den Marxismus aber für sehr hilfreich.“ Er ist für eine Fusion widersprechender Ideologien, aus der „etwas Neues, Unbestimmtes, Hoffnungsreiches“ entstehen mag. Ob das Recht oder die Gewalt siegt, er möchte der Verbündete des Siegers bleiben.

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