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Indiens Eiterherd

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800 Streiks, 140 Aussperrungen, 180 geschlossene Fabriken, mehr als 10 Millionen verlorene Arbeitstage und schließlich mehr als eine halbe Million Beschäftigungslose sind die erschütternde Bilanz des indischen Bundesstaates Westbengalen seit März 1969. Noch vor vier Jahren das industrielle Aushängeschild der Union, mit mehr Produktivkapital als der Bombay-Staat Maharashtra, einer relativ ausgezeichneten Infrastruktur, in der Nachbarschaft von „Indiens Ruhrgebiet“ Chota Nagpur und im Besitz des Welthafens Kalkutta, betrug der Anteil des heutigen Sorgenzentrums bei elektrischen Ventilatoren 75 Prozent, bei Nähmaschinen 66 Prozent, bei Motorrädern 59 Prozent, bei Roheisen 35 Prozent, bei Fertigstahl 29,5 Prozent und bei Kohle 28 Prozent der indischen Gesamtproduktion.

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800 Streiks, 140 Aussperrungen, 180 geschlossene Fabriken, mehr als 10 Millionen verlorene Arbeitstage und schließlich mehr als eine halbe Million Beschäftigungslose sind die erschütternde Bilanz des indischen Bundesstaates Westbengalen seit März 1969. Noch vor vier Jahren das industrielle Aushängeschild der Union, mit mehr Produktivkapital als der Bombay-Staat Maharashtra, einer relativ ausgezeichneten Infrastruktur, in der Nachbarschaft von „Indiens Ruhrgebiet“ Chota Nagpur und im Besitz des Welthafens Kalkutta, betrug der Anteil des heutigen Sorgenzentrums bei elektrischen Ventilatoren 75 Prozent, bei Nähmaschinen 66 Prozent, bei Motorrädern 59 Prozent, bei Roheisen 35 Prozent, bei Fertigstahl 29,5 Prozent und bei Kohle 28 Prozent der indischen Gesamtproduktion.

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1967 brachten die Wahlen eine Regierung der „Vereinigten Front“ an die Macht, in der unter kommunistischer Vorherrschaft nicht weniger als 14 Parteien mit zum Teil völlig entgegengesetzten Zielsetzungen das Geschick des 65-Millionen-Landes lenken sollten. Dieses multifraktionelle Irrsinnsexperiment erwies sich schon nach neun Monaten als politische Totgeburt, hatte es' jedoch in dieser kurzen Zeit fertig gebracht, den Grundstein für das Chaos zu legen. In Westbengalen selbst neigen allerdings viele Leute dazu, der Zentralregierung in New Delhi wegen ihrer saumseligen Haltung die Hauptschuld an der Misere zu geben. Die damals wenigstens nach außen hin noch geeinte Kongreßpartei zauderte aus verständlichen taktischen Gründen. Erst als auch im Landtag Westbengalens die Zustände denen im Gebiet um Kalkutta glichen, griff der vor wenigen Wochen von Indira Gandhi auf ein Nebengeleise abgeschobene Innenminister Cha-van, der von führenden indischen Kommentatoren als der einzige ernsthafte Rivale der Nehru-Tochter innerhalb des „neuen“ Kongresses angesehen wird, energisch durch. Der Auflösung des Landesparlamentes schickte er unter Hinweis auf Beweismaterial für illegale Verbindungen der bengalischen Kommunisten zur Volksrepublik China die Drohung voran, die Organisation der Mao-Freunde zu verbieten. Diese hatten im Sommer 1967 in einem der strategisch heikelsten Gebiete Indiens, dem schmalen Flaschenhals nach Assam, Bauernaufstände entfesselt, die unter den primitiven Santhal-Stämmen am erfolgreichsten gediehen und bei dem Dorf Naxalbari sogar zu einer temporären illegalen Parallelregierung der Linkskommunisten ausarteten. Dieses Ereignis gilt als die Geburtsstunde der „Naxalisten“, die heute fast täglich für die Schlagzeilen der indischen Presse sorgen. Bezeichnenderweise entstanden wenige Monate später auch in anderen, südindischen Staaten gleichartige Terror-bewegungen, deren Fußvolk sich hauptsächlich aus den Dschungelstämmen Keralas und Andra Pra-desh' rekrutiert, deren in Mao-Bildern und Mao-Schriften in Landessprache bestehendes, bei Polizeiaktionen tonnenweise aufgebrachtes Propagandamaterial einen überdeutlichen Hinweis auf das chinesische Informationsamt liefert. Diesen zeitgeschichtlichen Hintergrund muß man sich vor Augen halten, wie die charaktermäßige Sonderstellung, die den Bengalen innerhalb der indischen Völker historisch nachzuweisen und auch heute von entscheidender Bedeutung ist. Sie spielten im indischen Unabhängigkeitskampf eine führende Rolle, ihr Nationalismus brachte mit Subhas Chandra Bose, dem ehemaligen Bürgenmeister von Kalkutta, eine noch dieser Tage glühend verehrte Heldenfigur hervor, und in Bengalen sympathisierte man immer mehr mit aktivem Widerstand als mit Gandhis passiver „nonviolence“. In diesem Sinn sind sde am wenigsten Hindus unter den Indern. Außerdem fällt es ihnen offenbar nicht leicht, Lehren aus der Geschichte zu ziehen, denn der verunglückten ersten „Vereinigten Front“-Regierung folgte nach den Früh jahrswahlen eine zweite unter gleich unglücklicher Konstellation. Ihre Lebensdauer betrug 13 Monate, und ihre Bilanz ist am Beginn dieses Berichtes ersichtlich. Einer Aussage des Ex-Innenministers Chavan zufolge ereignete sich während der Verantwortlichkeits-perdode des Kommunisten Jyoti Basu von März 1969 bis März 1970 die horrende Zahl von 914 Morden, deren prominentestes Opfer die Gattin des französischen Generalkonsuls in Kalkutta war. Auch 117 Fälle von Kidnapping wurden im gleichen Zeitraum registriert. Seit der Wie-derverhängung von „President's Rule“ Anfang April greift die Polizei schärfer durch: Tausende von Verhaftungen förderten innerhalb eines Monats 1569 Bomben und zahlreiche Waffen, meist nichtindischen Ursprungs, zutage. Dennoch gingen auch unter der Aufsicht New Delhis 80 Menschenleben gewaltsam verloren. Die wirtschaftlichen Auswirwirkungen dieses labdien politischen Zustandes sind ungeheuer; verständlicherweise wurden private Investitionen weitestgehend gestoppt und eine Reihe von Industriebetrieben in ruhigere Gebiete verlegt, was zu der Spitzensrbeitslosenzahl von über einer halben Million führte. Ob diese Pulverfaßstimmung mit der Abhaltung von Zwischenwahlen aus der Welt geschafft werden kann oder ob**unter „President's Rule“ bis zu den nächsten allindischen Wahlen 1972 wieder Ruhe und Ordnung in Westbengalen einkehren werden, wagen selbst die wenigen Optimisten nicht mit Sicherheit vorauszusagen.

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