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Integral

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Von der „neuen Regierung“, nicht von „seiner Regierung“ sprach Bundeskanzler Dr. Gorbach, als er sich am 19. April dem Nationalrat vorstellte. Und er ließ keinen Zweifel daran, daß dieses Kabinett, das voraussichtlich bis zu den nächsten, hart akzentuierten Wahlen arbeiten wird, ein Koalitionskabinett sein wird. Wem das nicht von vornherein klar war, dem wurde es durch die Tatsache, daß die Regierungserklärung in den Etappen einer harten Nachtsitzung zwischen den Partnern abgestimmt werden mußte, drastisch vor Augen geführt. Und doch weist diese Deklaration, deren einzelne Punkte hier noch nicht analysiert werden können, ihrer Art nach einen neuen Zug auf, eben die Handschrift Gorbachs.

Die Regierungserklärung ist keine Aneinanderreihung von Ressortprogrammen, verlesen durch einen geschäftsführenden Berichterstatter. Sie ist auch nicht ein ausgehandeltes Kompromißdokument, das nach dem Regiekonzept des alten Brahm: „Was gestrichen ist, kann nicht durchfallen“, erarbeitet wurde. In der Auffassung Gorbachs ist die Von. ihm nachdrücklich bejahte Koalition keine verwaschene Alleinheit, aber auch keine Delegationskonferenz, bei der die eine Regierungspartei Arbeitgeber und Bauern, die „andere“ dann eben die Arbeiterschaft zu vertreten hat. Die grundsätzlichen und wegen ihres Weltänschäuungscharakters unüberbrückbaren Gegensätze zwischen christlicher Demokratie und demokratischem Sozialismus werden unbeschönigt einbekannt, aber sie werden von einer höheren Zielsetzung, dem Fluchtpunkt einer entfernteren Perspektive'aus integriert. Das heißt: Österreich empfindet sich nicht als Selbstzweck, nicht als Träger einer sagenhaften Mission, sondern als ein Land, das einen ganz bestimmten und konkret faßbaren Teil der Zukunftsaufgaben der freien Menschheit mit zu übernehmen hat. Genau das ist es, was Altbundeskanzler Raab mit seinem Wort meinte, daß unser Land keine großmannssüchtige Außenpolitik zu „machen“, wohl aber Haltung zu bewahren habe.

Diese österreichische Haltung — durch Karl Renner, Theodor Körner, Leopold Figl und Julius Raab oft aus dem rein Persönlichen heraus vorgelebt — ist es, die Gorbach zum Programm der neuen Regierung erhoben hat. Er betont, daß es sich dabei um ein Ganzes, um einen Guß handeln muß, und daß die Ressorts aufeinander und auf den gemeinsamen Zielpunkt hin bezogen und geordnet sein müssen. Der Kanzler setzt vor die einzelnen, selbständigen Elemente das schwungvolle Integralzeichen. Dieses Zeichen ist etwas grundsätzlich anderes als die resignierte Unterschriftsparaphe hinter einem ausgehandelten Kompromißdokument.

Die Regierungserklärung kann also nicht auf ' ihre „schwarzen“ oder „roten“ Bestandteile hin untersucht werden. Maßstab bleibt, wieweit ihre Elemente zur Erreichung der Zielvorstellung beitragen. Diese ist der wirtschaftlich stabile, soziale Rechtsstaat, den das neutrale Österreich vor Ost und West zu repräsentieren hat. Die geistig-kulturelle Basis hätte man sich tragender vorstellen können. Ein Wort über die öffentliche und erzieherische Aufgabe der Kirchen (im Plural) hätte schon gesagt werden dürfen. Hoffen wir, daß es der Sprecher der ÖVP in seiner parlamentarischen Antwort findet. Daß der neue Regierungschef die Gesinnung des Koalitionspartners respektierte, die diesem ein klares Ja zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen unmöglich macht, spricht für seine nüchterne und faire Korrektheit.

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