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Interregnum im Außenhandel

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Nach der Unterbrechung der Verhandlungen Großbritanniens mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft befindet sich der Kontinent in einer reichlich verworrenen handelspolitisehen Lage. Einige Prinzipien und Verordnungen des neuen Gemeinsamen Agrarmarktes erschweren anscheinend eine tragbare Regelung der Agrar-importe aus dem Commonwealth, so daß niemand eine Voraussage wagt, ob Brüssel im Spätherbst der endgültige Kompromiß gelingfeicadee, swh Großbritarftriettc“trötz dem-Omsk'oder Vereinigten Staaten einfach mit einem erweiterten Wirtschaftsabkommen begnügt. Österreich steht jedenfalls vor einem längeren Interregnum. Bis zur endgültigen Klärung und zum Inkrafttreten einer Assoziierung der Neutralen darf Wien jedoch in keine Passivität verfallen, sondern muß die Bemühungen um eine Festigung seiner handelspolitischen Position fortsetzen. Das lebhafte Interesse, an einem „Arrangement“ mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erscheint als natürliche Folge der dichten Verflechtung des Warenverkehrs mit dem Ausland“, aber auch der seit zwei Jahren bestehenden Diskriminierung aller Exporte nach Westdeutschland und Italien, Holland, Belgien und Frankreich. Gleichzeitig ist eine Flüsterpropaganda im Gang, die an allen Fronten und in allen Tonarten die Prognose stellt, Österreich werde in schwere Krisen geraten, wenn es nicht umgehend dem Römer Vertrag beitrete. Die Politisierung der EWG, die in Westeuropa eine zunehmende Verwirrung stiftet, wirft auch sichtbare Schatten auf die innere Politik. Zwar ist das Schlagwort vom „Hungertod in der Neutralität“ verstummt, aber trotz der Konjunktur wird an manchen Orten ein künstlicher Negativismus gezüchtet.

Diese Stimmungen lassen eine Analyse der augenblicklichen Situation

* Das Sekretariat der Europäischen Freihandelszone in Genf veröffentlichte in seinem zweiten Jahresbericht neue Angaben über die Verflechtung der einzelnen Staatengruppen mit dem Welthandel, berechnet nach der Einwohnerzahl. Darnach verzeichnete die EFTA vom 1. Juli 1961 bis 30. Juni 1962 pro Kopf der Bevölkerung einen Import von 259 Dollar und einen Export von 214 Dollar. Die analogen Zahlen betrugen bei der EWG 188 Dollar und 189 Dollar, bei den Vereinigten Staaten 78 Dollar und 112 Dollar. Der Bericht kam daher zur Schlußfolgerung, daß die EFTA als Wirtschaftseinheit viel stärker mit dem Welthandel verbunden ist als die EWG und die Vereinigten Staaten.

“ Den „Statistischen Nachrichten“ zufolge, wurden von Jänner bis Mai 1962 insgesamt 39.585 Pkw importiert, gegen 32.592 Pkw in der gleichen Zeitspanne des Vorjahres.

erwünscht erscheinen. Darnach ist der Gesamtexport noch immer im Steigen begriffen (im Vorjahr + 7,3 Prozent, Jänner bis Mai + 6,2 Prozent). Allerdings erfuhr die Richtung der- Warenströme eine leichte Korrektur. Von Jänner bis Mai entfielen nämlich auf die überseeischen Länder einschließlich der Vereinigten Staaten 13,7 Prozent, den Ostblock ohne Jugoslawien 14,1 Prozent, die EFTA ohne Finnland 15,6 Prozent und die EWG ohne Griechenland 49,3 Prozent des Gesamt^ exportes. Gemessen an der analoge Zeitspanne des Vorjahres, errielten von Jänner bis Mai die höchsten Zuwachsraten Dänemark (+ 26,7 Prozent), Norwegen (+ 27 Prozent) und die Schweiz (+ 39,4 Prozent); in den niederen Rängen verharrten immerhin Kanada (+10,5 Prozent), die Vereinigten Staaten (-f-11,3 Prozent), Frankreich (+12,5 Prozent) und Finnland (+ 19,4 Prozent). Zugleich gerieten einige osteuropäische Länder infolge der Agrarkrise und dem Mangel an Konsumgütern in die Zwangslage, ihr Handelsregime lockern zu müssen, so daß in diesem Sektor plötz-liche-Exportsteigerungen an der Tagesordnung waren. Auch die meisten Warenkategorien registrieren Fortschritte beim Export nach den anderen Staaten der EFTA; Einbußen beim Export nach der EWG erlitten nur Holz, Papier und Zellulose, Textilien und elektrischer Strom. Der Ausfall bei lebenden Tieren war eine Begleiterscheinung der vorübergehenden Einfuhrsperre Italiens, deren Folgen heute schon behoben sind. Der Reichtum an Holz und Wasserkräften, die hohe Produktion von Eisen, Stahl und Walzmaterial, der weitreichende Absatz von Stickereien, Papier und Zellulose, Magnesit und NE-Metallen sind dauernde Aktiven, die nicht über Nacht in Verlust geraten können. Vorerst besteht überhaupt kein Anlaß zum Pessimismus.

Aber auch der Import zeigte während den vergangenen Monaten manche Veränderung. Nachdem schon im Vorjahr die Zuwachsrate (+4,9 Prozent) kleiner war als beim Export, erlitt sie von Jänner bis Mai einen weiteren Rückfall. Natürlich erlauben diese Daten noch keine endgültigen Schlußfolgerungen über den Verlauf des Jahres, aber alle neuen Tendenzen sind schon immer in den ersten Monaten erkennbar. Von den Importen entfielen von Jänner bis Mai auf den Ostblock 9.2 Prozent, die EFTA 13,3 Prozent, die überseeischen Länder 14.2 Prozent und die EWG 58,9 Prozent. Unter den Ursprungsländern verzeichneten Dänemark (+ 72,2 Prozent) einen großen Fortschritt und die Vereinigten Staaten (—17,7 Prozent) einen ernsten Rückschlag. Bei den Warengruppen mußte besonders die abermalige Zunahme -der Kraftfahrzeuge'“ auffallen. Die Stabilität bei Maschinen darf als Symptom gelten, daß sich die Ära des forcierten Importes von Investitionsgütern ihrem Ende nähert. Der wichtigste Fortschritt lag jedoch bei den Agrarprodukten. die — mit Ausnahme von Eiern, Obst und Gemüse — aus den vorderen Rängen

irerschwunden sind, weil der stetige \ufstieg der eigenen Landwirtschaft iie Selbstversorgung erleichtert. Das Ergebnis der Umgruppierungen bei Im-jort und Export war zunächst eine Besserung der Handelsbilanz.

Ein Beitritt Österreichs als vollwer-:iges Mitglied der EWG stand niemals :ur Diskussion, weil der Inhalt des tömer Vertrages den völkerrechtlichen 1

Pflichten widerspricht, die sich aus der Neutralitätsäkte ergeben. Darüber hinausgehend gibt es aber auch einige ernste ökonomische Hindernisse. Die EWG umfaßte bisher Staaten mit hohen Lebensmittelpreisen, die im Rahmen des Gemeinsamen Agrarmarktes besonders nach den äußerst komplizierten Brüsseler Agrarverordnungen keine Herabsetzung erfahren. Das System der Abschöpfungen bezweckt vielmehr die Schaffung eines gemeinsamen Meliorationsfonds und eine Angleichung der Agrarpreise zwischen den einzelnen Mitgliedern. Während der nächsten acht Jahre wird weder den Produzenten noch den Konsumenten ein Vorteil erwachsen, sondern manche Staaten werden sogar neue Subventionen ausschütten müssen zwecks Verhinderung einer Teuerung. Wie die Bergbauern Österreichs und (Ter Schweiz, die ein wichtiges Element der Bodenständigkeit darstellen, im Gemeinsamen Markt untergebracht werden könnten, ist vollkommen unklar. Dagegen dürfte eine Assoziierung oder ein anderweitiges „Arrangement“, das sich nicht in Utopien und einem doktrinären

Dirigismus erschöpft, zweifellos eine zweckmäßige Verteidigung der bäuerlichen Interessen ermöglichen. Da Österreich, gemessen an den Verhältnissen in Westeuropa, ein Land mit billigen Lebensmitteln, aber hohen Preisen für Schuhe und Textilien ist, führt anderseits jede Assoziierung in erster Linie zu hcjhen Importen von Schuhen, Kleidung und Textilwaren. Die merkantilen Bedingungen, die bei den eigentlichen Verhandlungen zur Assoziierung festgelegt werden müssen, dürften große Schwierigkeiten bereiten, so daß keinesfalls rasche Ergebnisse zu erwarten sind.

Anderseits kann niemand leugnen, daß die handelspolitische Lage einige Gefahrenmomente birgt. Selbst im günstigsten Fall, wenn nach einem vollwertigen Beitritt Großbritanniens zur Wirtschaftsgemeinschaft eine Assoziierung der drei Neutralen gelingt, die natürlich den Parlamenten aller beteiligten Staaten zur Ratifikation vorgelegt werden muß, dürften bis zum Inkrafttreten der bilateralen Verträge annähernd zwei Jahre vergehen. Während dieser Periode nimmt der interne Zollabbau zwischen den Sechs ebenso seinen Fortgang wie die Zollreduktion zwischen den EFTA-Staaten. Brüssel hat die Neigung, jede Erweiterung seiner Staatengruppe so lange als möglich zu verzögern, um Störungen und Hemmungen der inneren Konsolidierung durch äußere Einflüsse zu verhindern. Auf diplomatischem Weg liegt die Lösung in einer Beschleunigung des Verfahrens, die jedoch von der Neutralen allein kaum erzwungen werden kann, wenn Brüssel auf seine Überlastung hinweist. Anderseits steht Österreich nicht allein, sondern bildet in der Integrationsfrage eine gemeinsame Front mit Schweden und der Schweiz, die von der ganzen Welt als die konsolidiertesten Staaten Europas eingeschätzt werden. Der von Brüssel unternommene Versuch, einen Keil zwischen die Neutralen zu treiben, ist mißglückt. Die tendenziöse Behauptung, Österreich hätte die Chance versäumt, bei einem isolierten Vorgehen sehr rasch gute Bedingungen als vollwertiges oder assoziiertes Mitglied der EWG zu erhalten, entspricht dagegen nicht den Tatsachen, weil eine solche Möglichkeit niemals vorhanden war.

Die Überbrückung der augenblicklichen Lage verlangt eine sinnvolle Exportförderung. Die erste These versichert, man müsse alle Anstrengungen unternehmen, um trotz der schweren Last der Diskriminierung vor allem den Absatz in Holland, Italien und Westdeutschland zu verteidigen und zu erhöhen. Die zweite Doktrin erklärt, man sollte die Bemühungen auf Skandinavien und die Schweiz, Asien und Australien, Kanada und die Vereinigten Staaten konzentrieren, aber auch alle Chancen nützen, die sich in Polen und einigen Donauländern bieten. Der richtige Kurs liegt in der Mitte. Gefährlich wäre eine Zersplitterung der Kräfte, da die Produktion der meisten Wirtschaftszweige an der Kapazitätsgrenze angelangt ist. Außerdem handelt es sich gar nicht um eine weitere Expansion mit hohen Zuwachsraten, sondern um eine Konsolidierung der gegenwärtigen Lage und eine rechtzeitige Sicherung gegen etwaige Rezessionen, die anscheinend schon im Anzug sind. Die Durchführung dieser Aufgaben, die letzten Endes mit der Erforschung und Erschließung neuer Absatzmärkte verbunden bleibt, ist nur möglich bei einer Erweiterung des Netzes der kaufmännischen Vertretungen, besonders der Handelsdelegierten der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft.

Zweifellos befindet sich Österreich auf dem richtigen Weg. Aber noch muß das größte psychologische Hindernis überwunden werden, weil Negativismus und Pessimismus die unvermeidliche Neuorientierung erschweren, die mit dem Übergang vom traditionellen ,,Nachbarhandel“ zu einem echten Welthandel verbunden ist.

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