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Israel und die Wüste Sinai

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Am 2. November 1917 schrieb der britische Außenminister Lord B a 1 f o u r an Lord Rothschild einen Brief folgenden Inhalts: „Lieber Lord Rothschild! Ich habe das große Vergnügen, Ihnen im Namen der Regierung Seiner Majestät die folgende Sympathieerklärung mit den jüdischen zionistischen Wünschen, die dem Kabinett vorgelegt und von ihm gebilligt worden war, mitzuteilen. Die Regierung Seiner Majestät betrachtet die Schaffung eines Nationalheimes für das jüdische Volk in Palästina mit Wohlwollen und wird die größten Anstrengungen machen, um die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, wobei Klarheit darüber herrschen soll, daß nichts getan werden soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der in Palästina bestehenden nichtjüdischen Gemeinschaften oder die Rechte und politische Stellung der Juden in irgendeinem anderen Staat beeinträchtigen könnte. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diese Erklärung der zionistischen Föderation zur Kenntnis bringen würden. Ihr ergebener Arthur-James Balfour.“ Bei der Uebertragung des Palästinamandats an Großbritannien am 24. Juli 1922 wurde diese Erklärung des LorJ Balfour zur völkerrechtlichen Basis für die zionistische Einwanderung nach Palästina. Jeder, der sie aufmerksam liest, wird sofort erkennen, daß sie mit wenigen Worten die Quadratur des Kreises anstrebt. Für das Judentum hörte Palästina nie auf, „Land Israel“ zu heißen, und aus dem nie wirklich aufgegebenen Anspruch auf das Land schöpft der Zionismus bis heute noch seine Lebenskraft. Demgegenüber können auch die Araber denselben, subjektiv berechtigten Anspruch auf Palästina erheben, zumal die islamische Theologie die Verheißung des Landes an Abraham nicht dem Isaak, sondern dem Erstgeborenen Ismael, dem Sohn der Magd Hagar und Stammvater der Araber, erben läßt. Die Erfüllung der Balfour-Erklärung setzt also ein Einverständnis zwischen Juden und Arabern voraus, das zu fördern oder herzustellen Großbritannien, wie die Geschichte bewies, nicht imstande war.

Aber auch in Wien, der Geburtsstätte des modernen politischen Zionismus, war man nicht untätig geblieben, trat aber leider zu spät mit einem eigenen konstruktiven Plan vor die Oeffentlichkeit. Als Ergebnis langer Vorarbeiten erklärte 14 Tage nach der Balfour-Erklärung, sichtlich unter ihrem Eindruck stehend, der österreichisch-ungarische Außenminister Graf C z e r n i n in einem Interview, daß seine Regierung die türkische Regierung dahingehend beeinflussen wolle, daß sie der freien Einwanderung der Juden nach Palästina unter türkischer Patronanz ihre Zustimmung erteile.—Sechs Wochen später kam die positive Antwort aus Konstantinopel. Die Türkei als die Großihacht des Nahen Ostens, die auch der wirkliche Souverän über die arabischen Länder war, war von ihrer bisher antizionistischen Linie abgewichen.

Großbritannien erklärte sich im ersten Weltkrieg nicht nur zur Schutzmacht der Juden in Palästina, sondern es schützte auch den Aufstand der Araber gegen die Türkei, um dadurch die Mittelmächte zu schwächen. Die profilierteste Persönlichkeit des Araberaufstandes war Emir Faisal, Sohn des Hussein, Sheriffs von Mekka, Großvater des jetzigen Königs Faisal vom Irak und Bruder des 1951 ermordeten Abdallah von Jordanien. Dieser war von einer Begegnung mit Prof. Chaim Weizmann im Herbst 1918 derart beeindruckt, daß am 3. Jänner 1919 in London das sogenannte Faisal - Weizmann - Abkommen unterzeichnet wurde, in dem es unter anderem heißt, daß der neugegründete palästinensische Staat so aufgebaut werden soll, daß die Durchführung der Balfour-Erklärung garantiert wird und daß alle Maßnahmen getroffen werden sollen, um die jüdische Einwanderung nach Palästina zu fördern und zu beschleunigen. Dafür sollte die zionistische Organisation ihre Experten und ihre Erfahrung bei der Kultivierung des Landes dem neu zu gründenden arabischen Staat zur Verfügung stellen. Somit schien es Großbritannien gelungen zu sein, innerhalb seines neuen Einflußbereiches die Gegensätze ausgeglichen zu haben; doch in der Praxis ging die Entwicklung andere Wege.

Die ersten arabischen Angriffe auf die zionistischen Siedler begannen schon 1920/21 und haben seither nie prinzipiell aufgehört, wenn sie auch durch arabische taktische Erwägungen Unterbrechungen erfuhren. Seit 1920 ist der jüdische Bauer in Palästina bei der Feldarbeit mit dem Gewehr auf dem Rücken häufig und allenthalben zu sehen. Schon die diesbezügliche Resolution des 12. Zionistenkongresses, der vom 1. bis 14. September 1921 in Karlsbad tagte, zeigt dieselbe politisch hilflose Haltung gegenüber der arabischen Politik, die auch den neuesten Erklärungen des Ministerpräsidenten David ben Gurion und des Außenministers, Frau Goldä Meir, zu entnehmen ist.

Wer die Verhältnisse in Israel kennt, wird zugeben, daß es durch seinen militärischen Angriff auf die Sinaihalbinsel keinen Krieg mit den arabischen Staaten wollte, sondern sie dazu zu bringen versuchte, mit Israel endlich Frieden zu schließen. Der ägyptische Diktator, Oberst Abdul Nasser, suchte — wie jeder Diktator — durch außenpolitische Erfolge die Bevölkerung von den ungelösten innenpolitischen Problemen abzulenken. Der natürlichste Sündenbock für dieses Manöver ist Israel. Obwohl ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Aegypten und Israel schon seit 1949 besteht, in dessen erstem Abschnitt es heißt, daß es mit der Absicht geschlossen werde, um zu einem endgültigen Friedensschluß zu führen, verkündigte Nasser aller Welt laut und zu wiederholten Malen, daß sich Aegypten mit Israel im Krieg befinde. Am 29. Oktober 1956 sagte der stellvertretende Sekretär der Arabischen Liga, Raif Abu el-Lama, im Radio Kairo: „Ich bin sicher, daß keine arabische Regierung und keine arabische Nation einem Frieden mit Israel zustimmen wird.“ Am 1. September 1951 verlangte der Sicherheitsrat von Aegypten, auch israelischen Schiffen die Durchfahrt durch den Suezkanal zu gestatten. Aegypten setzte sich mit dem Bemerken darüber hinweg, daß es sich mit Israel im Krieg befinde. Nasser organisierte die berüchtigten • feddain-Einheiten, dank deren Tätigkeit Israel allein in der Woche vor dem Angriff auf' die- Sinaihalbinsel 24 Opfer an Toten und Verwundeten zu beklagen hatte. Je resignierter Israel schwieg, desto großsprecherischer wurde Nasser, der die faktische Schlagkraft seiner Armee weit überschätzte. Israel griff an, um ihm die Grundlosigkeit dieses Vertrauens zu beweisen und ihm vielleicht dadurch zur Besinnung und sich zu einem Friedensschluß zu verhelfen. Binnen acht Tagen konnten die israelischen Truppen weitaus überlegene ägyptische Landstreitkräfte auf der Halbinsel Sinai und im Gazagebiet vollkommen in die Flucht schlagen oder gefangennehmen. Allerdings bedeutete die anglo-französische Aktion zur AusSishaltung der ägyptischen Luftwaffe eine bedeutende Hilfe für Israel, das nicht wie Aegypten mit neuesten MIG-Düsenjägern ausgerüstet war. Trotzdem zeigte aber der Verlauf der Kämpfe dem ägyptischen Diktator, wie wenig ' er sich wirklich auf seine Armee verlassen könne. Das beweist auch ein Ereignis, das sich am 31. Oktober vor der Küste Israels bei Haifa zutrug und das wohl einmalig in der Kriegsgeschichte dasteht. Der ägyptische Zerstörer Ibrahim el-Auwal beschoß Haifa und wurde dabei von israelischen Hafenschutzbooten aufgebracht und in den Hafen von Haifa gebracht. Die 200 Mann starke Besatzung des Zerstörers geriet in israelische Kriegsgefangenschaft. Der Zerstörer wird jetzt in den Haifaer Docks repariert und nach Angabe des israelischen Marinehauptquartiers noch heuer unter israelischer Flagge wieder einsatzbereit sein. Kurz nachdem die israelische Operation am 29. Oktober begonnen hatte, waren der Hauptstützpunkt der Faddai'n, Gaza, und ihre Ausbildungsstätten in der Wüste Sinai bereits in israelischem Besitz. Am 2. November, 14.30 Uhr, kapitulierten auch die ägyptischen Garnisonen von EI Arisch an der Mittelmeerküste der Sinaihalbinsel und von Abu Agela. Allein im Gazastreifen fielen mehr als hundert schwere russische T-34-Tanks samt reichen Munitionsvorräten unzerstört in die Hände der Israelis, und im Sinaigebiet konnten die Israelis mit den erbeuteten ägyptischen Tanks russischer Herkunft gleich selbst weiterfahren. Trotzdem kam es noch am 4. November, etwa 70 Kilometer östlich des Suezkanals, im Mittelabschnitt der Front, zu einer schweren Panzerschlacht. Aber auch hier errangen die Aegypter keinen Erfolg, denn schon am 5. November erreichten die Israelis die Südspitze der Halbinsel Sinai gegenüber dem Golf von Elat-Akaba. Als am 6. November die Feuereinstellung angeordnet wurde, teilte das israelische Oberkommando mit, daß das erbeutete Kriegsgerät 50 Millionen Dollar wert sei.

Der Verlauf der Kämpfe, an sich uninteressant, zeigte aber, wie sehr sich heute die Fronten gegenüber 1945 gewandelt haben, denn die kommunistische Sowjetunion ist schon lange nicht mehr so unversöhnlich gegenüber dem Faschismus wie ehedem. Seit einem Jahr ist es wohl niemandem mehr verborgen, daß die Sowjetunion gerade das faschistische Züge zeigende Militärdiktaturregime Nassers nach Kräften — und auch mit gutem Erfolg —.fördert. In den von den Israelis erbeuteten ägyptischen Panzern russischer Herkunft saßen ägyptische Offiziere, zu deren privater, weltanschaulicher „Ausrüstung“ eine illustrierte arabische Ueber-setzung von Hitlers „Mein Kampf“ gehörte. Diese israelische „Kriegsbeute“ dürfte bestätigen, was schon vielfach vermutet wurde, nämlich, daß ehemalige NS-Größen in Aegypten nicht nur Asyl, sondern auch ein neues Betätigungsfeld gefunden haben. Daneben nehmen sich auch jene israelischen Pressenachrichten gut aus, nach denen unter den gefangenen „Aegyptern“ auch solche russischer Herkunft sind, die als Instrukteure bei der ägyptischen Panzerwaffe eingesetzt waren.

Welche neue Situation ist für Israel nunmehr entstanden? Der einzige, schon jetzt klar zu erkennende Vorteil ist, daß die Wüste Sinai und das Gebiet des Gazastreifens nicht mehr als Operationsbasis für die Faddain dienen können, auch dann nicht, wenn Israel das Gebiet der Sinaihalbinsel einer internationalen Polizeitruppe überläßt. Ein zweiter nicht zu übersehender Vorteil, der sich aber erst in späteren Jahren auswirken wird, ist die Vertreibung der Aegypter von den Tiraninseln am Eingang vom Golf von Akaba, dem einzigen israelischen Hafen am Roten Meer, dessen Benützung die Befahrung des Suezkanals israelischen Schiffen ersparen könnte. Bisher machten die ägyptischen Geschütze auf den Tiraninseln Israel den wirklichen Ausbau dieses Hafens so gut wie unmöglich. Ein drittes Ergebnis ist die Besetzung des Gazastreifens, doch wird sich noch herausstellen, ob dies für Israel von Nutzen ist. Im Gazastreifen leben 200.000 Araber, davon etwa 80.000 Einheimische und 120.000 Flüchtlinge. Die bisherige arabische Bevölkerung .Israels beträgt 198.5 56. Ob Israel um des kleinen Gewinnes des Gazastreifens seine arabische Minorität wird verdoppeln wollen, ist heute noch nicht abzusehen. Im Rahmen eines wirklichen Friedensvertrages mit den arabischen Staaten dürfte es wohl sehr möglich sein, daß Israel auf diese Weise seinen Beitrag zur Lösung des arabischen Flüchtlingsproblems wird leisten wollen und sich bereitfinden wird, auch die 120.000 Flüchtlinge in sein Staatsgebiet aufzunehmen. Wird es aber zu diesem Frieden kommen? Wird die UNO die Macht und den Einfluß haben, den Frieden in Nahost wiederherzustellen oder wird sie sich wieder mit einem „kalten Waffenstillstand“ begnügen müssen, weil die Großmächte noch uneiniger sind als die beiden Gegner in Nahost?

MUT ZUM SCHWEIGEN. Auf den Strafen der ungarischen Hauptstadt liegen die unbeerdigfen Kämpfer beider Parteien, in den Kellern sehen die Massen der Werktätigen bei minimaler Verpflegung einem ungewissen Winfer entgegen, der ihnen eine Neuauflage jenes Winters bringen wird, der uns nach elf Jahren noch in schrecklicher Erinnerung isf. Noch stehen wir unter dem Eindruck des Schocks vom 4. November und bangen um den Frieden, zittern vor dem Ausbruch eines totalen Krieges, der keine Insel der Seligen ausgespart lassen würde. Sollte man da nicht annehmen, dafj gewisse politische Auseinandersetzungen, die an sich

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