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Ist Walt Whitman Amerikas größter Dichter?

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Eine neue Ausgabe von Walt Whitmans „Leaves of Grass“ mit einem den Dichter würdigenden Vorwort Bernard Smiths hat in Amerikas literarischen Kreisen erneut einen Streit um die wahre Bedeutung Whitmans ausgelöst. Da Whitman schon immer als Sorgenkind der amerikanischen Literatur bezeichnet wurde, nimmt es weiter nicht wunder, daß die Bezeichnung, mit der Smith ihn ehrt, „ein amerikanischer Dichter, wie es keinen zweiten gibt“, verschieden aufgenommen wurde und zu entgegengesetzten Stellungnahmen führte.

Es ist meistens eine ziemlich widerliche Beschäftigung, schrieb vor kurzem der bekannte amerikanische Schriftsteller Malcolm C o w 1 e y, einer der ersten Kritiker Amerikas, zu diesem Thema in der „N e w York Time s“, im persönlichen Leben eines Dichters herumzuschnüffeln, um Geheimnisse, die er begraben wünscht, der Öffentlichkeit preiszugeben. In diesem Fall hat es aber eine gewisse Berechtigung. Whitman war nicht nur ein Poet, er wollte auch ein Nationaldichter sein, eine Persönlichkeit von der Bedeutung eines Präsidenten. Bevor wir ihm aber diese hohe Stellung einräumen, haben wir das Recht, seine Eignung dafür zu untersuchen.

Das Leben eines Sonderlings

Whitman spielt nicht nur in der Literatur die Rolle eines Sonderlings, er war es auch Zeit seines Lebens. Er wuchs in Long Island auf, wo er am 31. März 1819 als Sohn eines Zimmermanns geboren wurde, besuchte nur bis zu seinem dreizehnten Jahre die Schule, wurde dann Setzerlehrling und später Gehilfe in einer Buchdruckerei. Mit siebzehn Jahren war er Schullehrer und begann für Zeitungen zu schreiben. Später stürzte er sich in Brooklyn und Manhattan auf die Volksbüchereien und fraß in sich hinein, was er erreichen konnte. Zwischendurch erlernte er von seinem Vater das Zimmermannshandwerk. Er arbei-tete am Bau von Holzhäusern und wenn er eine Zeitlang in dieser Art und Weise tätig gewesen war, so gönnte er sich eine lange Ferienzeit, „schlenderte“ am Meere entlang, in den Wiesen, an den Ackerrainen, las und blickte in den Himmel hinauf, war ständig in Gedanken. Plötzlich aber war er wieder Landarbeiter, Zimmermann, Baupolier, gab eine kleine Landzeitung heraus, die er selbst redigierte und vertrieb, pendelte zwischen vielen Berufen umher, durchwanderte die kleinen Städte oder ging inmitten des lärmenden Gewoges der werdenden Weltstadt unter.

Im Jahre 1857, also erst mit achtunddreißig Jahren, überraschte dieser Mann, der häufig in Volksversammlungen als Redner auftrat und sich damit gelegentlich in die Politik seines demokratischen Landes einmischte, mit einer Zusammenfassung von Gedichten. Das Buch, mit dem Titel „Grashalm e“, das er selbst setzte, verlegte und vertrieb, hatte aber gar keinen Erfolg.

Trotzdem fühlte sich Whitman als Führer und Wohltäter seiner Mitmenschen. Er verstand es immer, einen Kreis von Zuhörern um sich zu versammeln, scheint aber xa jenen zu gehören, die zu vielen sprachen, aber nur von wenigen verstanden wurden. Er war, wie Schilderungen zu entnehmen ist, von auffallender männlicher Schönheit, sehr gut gebaut, Ehrfurcht gebietend von Ansehen und fast immer in die nachlässige, aber stets malerische Tracht des gewöhnlichen Volkes gekleidet. Seinen Posten als Schreiber im Innenministerium in Washington verlor er nach einem Ausbruch sittlicher Entrüstung seiner Kollegen, dessen Ursachen aber nicht bekannt sind. Im Laufe der Jahre wurde er zu einer fast mythischen Gestalt, geliebt und bewundert, wenngleich die meisten auch nicht recht wußten, warum. Er starb am 26. März 1892.

Ideenreichtum und Formlosigkeit

Nur langsam fanden sich für sein Buch nicht nur Leser, sondern auch glühende Verfechter seiner neuen Weltanschauung. Irgendetwas an ihm zog die Menschen mächtig an. Sie konnten es sich nicht erklären — aber er blieb ihnen unvergeßlich. War es die Liebe zu Amerika, dessen demokratische Staatsführung er zum Symbol er-

hob? War es die Fülle seiner Ideen, die in der Formlosigkeit seiner Gedichte Ausdruck fanden? War es die überzeugende Kraft seiner Persönlichkeit oder nur die Atmosphäre eines liebenden Menschen? Egal — sein Wort stand nun einmal fest, sein Einfluß begann.

Ferdinand Freiligrath war es, der als erster Deutscher in der „Münchener Allgemeinen Zeitung“ über die jenseits des Ozeans erfolglose Ausgabe der „Grashalme“ berichtete. Whitman wurde übersetzt und fand Nachahmer in der deutschen Literatur. Er wurde von den Engländern

entdeckt, er wurde in Frankreich positiv besprochen und in der kurzen liberalen Epoche Japans, nach dem ersten Weltkrieg, wurde dort eine „Leaves o f Grass-Gesellschaft“ gegründet. Whitman personifizierte Amerikas freien Geist. Trotzdem ist man heute daran, den Wert der Bedeutung Whitmans einzuengen.

Hat Whitman Amerika auch richtig gesehen?

„In meinen Augen ist das Amerika, das Whitman beschreibt“, erklärt Malcolm Cowley, „nichts als ein Versprechen einer Zukunft, der wir aber heute noch genau so fern stehen wie damals. Whitman, der in seinen frühen Gedichten das Amerika seiner Zeit realistisch wiedergab, hörte bald auf, seine wahre Heimat zu besingen. Er stieg, bildlich gesprochen, mit einem Ballon in die Höhe, um über das riesige Land einen Überblick zu gewinnen. Konnte er so noch den Neger als Zugführer oder den grauhaarigen Drucker mit seinem Kautabak erkennen?

Whitmans Amerika hat sich nach 1855 in einen Idealbegriff, in ein Schlagwort verwandelt. Es ist zwar noch „ma femme“, die große Mutter Union mit ihren gleichberechtigten Kindern, den Staaten, es ist noch das Land der Prärien, Wiesen, Felder, Wälder und großen Städte, aber die Heimat des einzelnen ist nicht mehr zu er-

kennen. Wohl drückt er in seinen Gedichten noch den amerikanischen Optimismus aus, den Glauben an den Fortschritt, er gibt einen Ausblick auf die Landschaft, auf Farmer, Holzarbeiter und idealisierte Stadtmenschen wieder, aber der Kampf um den Reichtum und die kalt blickenden Männer, die ihn gewonnen haben, sind nicht zu finden. Sein Amerika hat keine scharfen Farben Es erhebt, wenn man sich den Worten hingibt, aber in seiner Gesamtdarstellung ist es weich und verschwommen. Die Arbeiter, die er uns zeigt, gleichen einer Parade rauher Gesellen, die wie der Chor einer patriotischen Oper mit über die Schulter gelegten Armen dastehen.

Die Theorie vom jungen Amerika

Whitman zeigt uns nicht nur ein junges Amerika, sondern auch eine junge, barbarische und ungeschickte Gefühlswelt seiner erdichteten Personen. Er wollte eine Mitbürger vor der „Erfahrung“ bewahren und warnt mehr als einmal vor „Grazie,

Eleganz, Zivilisation und Delikatesse und allen Anzeichen des Endes der Erdgebundenheit“. Seine Theorie der ewig währenden Jugend A;m e r i k a s hat aber zu lächerlichen Irrtümern geführt, denn das Alter einer Nation ist kein Maßstab für die Kultur der einzelnen Staatsbürger.

Keiner der amerikanischen Dichter behauptete, wie Whitman es tat, daß Amerika schon eine Demokratie von Liebenden und starken Kameraden sei. Im Gegenteil — sie schildern die einzelnen Personen als verwirrt, unglücklich und einsam.

Whitmans Amerika ist trotz größter Realistik in der Darstellung kein realistisches Land und man kann sogar sagen, daß „Leaves of Grass'“ den wahren Whitman gar nicht repräsentieren. Wir wissen heute, daß der junge Brooklyner Journalist und Zimmermann seinen eigenen Seelenkampf, den Kampf zwischen Seele und Körper mit Hilfe einer erfundenen Gestalt führte. Whitman nahm eine Rolle an, stattete sie aus und spielte sie, als ob er selbst die dargestellte Figur wäre. Durch Unterdrückung gewisser Einzelheiten verstand er es, diese Rolle auch überzeugend zu gestalten. Er stellte seine Reise nach dem Süden romantisch verklärt dar und versetzte seine freiwillige Tätigkeit während des Bügerkrieges vom Spital in Washington auf das Schlachtfeld. Wenn alle Verschleierungen, falschen Darstellungen und offenkundigen Lügen, alle die

„heimlichen Seiten“ seiner Natur unser Urteil über seine Gedichte als Ausdruck seiner persönlichen Gefühlsregungen auch nicht beeinflussen dürfen, so muß man es sich doch überlegen, Whitman als „amerikanischen Dichter, wie es keinen zweiten gibt“, zu bezeichnen.

Es ist sonderbar, daß die erstaunliche Kraft und Frische der frühen Gedichte Whitmans nur so geringen Einfluß auf seine eigenen Landsleute ausübte. Die Zahl seiner Schüler war klein — und auch sie blieben für die literarische Welt Amerikas unbedeutend.

Whitman versuchte eine neue amerikanische Religion zu formulieren. Es mutet seltsam an, daß dieser Mann, der verschiedentlich als größter Dichter Amerikas bezeichnet wird, im Ausland wesentlich berühmter ist als in Amerika selbst.

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