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Italienische Dolchstolegende

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Vor einem Mailänder Zivilgericht hat sich der Verfasser eines kritischen Werkes über die Seekriegführung Italiens während des letzten Krieges gegen die Anklage der Verunglimpfung der Marine zu verteidigen. Die Klage wurde von dem in der Zwischenzeit aus der Regierung geschiedenen Minister für Landesverteidigung, Randolfo Pacciardi, erhoben, und drei Admirale, die in dem Buch Angriffe auf ihre persönliche Ehre sahen, haben sich dem Verfahren angeschlossen! Gino , Pavesi, Kommandant der Insel Pantel-leria zur Zeit der Waffenstreckung dieses wichtigen Stützpunktes am 11. Juni 1943, Priamo Leonardi, dem die sizilianische Basis Auguata unterstand, als sie Mitte Juni nach kurzem Kampf in die Hände der Alliierten fiel, und Bruno Brivonesi, dem der Verfasser die Verantwortung für die Vernichtung eines großen, nach Libyen gerichteten Geleitzuges zuschreibt.

Die politische Bedeutung des Prozesses ist erheblich und reicht weit über die Person des Autors hinaus: nicht ihm, sondern der jüngsten militärischen Vergangenheit wird das Urteil gesprochen, nicht die Problematik eines polemischen Werkes, sondern die eines von der Nation nicht gewollten und — vielleicht — verratenen Krieges wird aufgerollt. Der Beklagte Antonio Trizzino war Fliegeroffizier und verbrachte nach einem Flugunfall drei Jahre im Lazarett. Nach seiner Wiederherstellung kehrte er in den aktiven Dienst zurück und erhielt das Patent für eine Erfindung auf dem Gebiete der Lufttorpedos, die Italien einen Vorsprung bei der Verwendung dieser Waffe gesichert hätte, wenn sie nicht erst in einer zweiten Phase des Krieges praktische Anwendung gefunden hätte. 1938 wurde der heute 64jährige Offizier in den Ruhestand versetzt. Seither betätigte er sich als Publizist und Militärkritiker und erfreute sich einer gewissen Wertschätzung. Diesem Umstand ist es wohl zuzuschreiben, daß er 1951 Zutritt zu den Archiven des Wehrministeriums erhielt, da er versicherte, ein Werk zur Verherrlichung der Taten der italienischen Kriegsmarine schreiben zu wollen.

Im Dezember 1952 erschien im Mailänder Verlag Leo Longanesi, dessen Inhaber notorisch unter dem Einfluß der faschistischen Aera steht, ein Band mit dem Titel „Nävi e poltrone“ (Schiffe und Stühle). Der Umsehlag zeigte die Karikatur eines ordenbedeckten Admirals im bequemen ministerialen Fauteuil, und die Einbandschleife trug die Worte „Der verratene Soldatenmut und der belohnte Verrat — Die nackte Wahrheit über die Niederlage unserer Marine“. Das Buch ist eine einzige Anklage gegen die Admiralität des Marineministeriums und der höchsten Flottenkommanden, denen ein endloses Sündenregister vorgeworfen wird: Inkompetenz, Unfähigkeit, Leichtfertigkeit, egoistisches Bedachtsein auf die eigene Karriere und fehlender Wille zur Zusammenarbeit mit den übrigen Wehrmachtsteilen, vor allem mit der Luftwaffe, Kleinmütigkeit, ja Feigheit. Aber der rote Faden, der sich durch das Werk schlingt, heißt Spionage, Einvernehmen mit dem Feind, Sabotage des Krieges, Verrat: „Bezüglich des Namens der Verräter kann Ungewißheit bestehen, nicht aber . über den Verrat selbst.“

In einer Nation, die eine Niederlage noch nicht verwunden hat, mußte ein derartiges Werk Aufsehen erregen, um so mehr, als sich die Presse seiner sofort bemächtigte und mit mehr oder weniger Aufrichtigkeit Skandal rief. In jenen Kreisen, die sich selbst gern als „die gesunden Kräfte der Nation“ bezeichnen und die sich die Rehabilitierung des vergangenen Regimes angelegen sein lassen, wurde das Buch mit freudiger Genugtuung begrüßt. Die peremptorische und keine Diskussion zulassende Schilderung der Ereignisse wurde als Beweis für die Richtigkeit ihrer seit Jahren unermüdlich verbreiteten Dolchstoßlegende betrachtet: nicht die ungenügende Vorbereitung und mangelhafte Ausrüstung, nicht die qualitative und später auch numerische Unterlegenheit, für die letzten Endes das Regime verantwortlich war, das von der Fata Morgana leicht errungenen Siegerlohnes geblendet, die Nation zu den Waffen gerufen hatte, sondern der Verrat höchster Kom-mahdostellen hat die Niederlage verschuldet.

Wehrminister Pacciardi mußte in einer stürmisch verlaufenen Senatssitzung am 21. Jänner 1953 zugeben, daß die Archive seines Ministeriums dem Verfasser zur Verfügung gestanden waren. Am 26. Mai genehmigte der Justizminister Zoli die Einleitung des Verfahrens und einen Monat später begann die Verhandlung. Die Gerichtssitzung hatte jedoch nur kurze Dauer, da die Verteidigung eine Erweiterung des Untersuchungsverfahrens beantragte. Erst jetzt wurde der Prozeß wieder aufgenommen. Die Verteidigung hat die Absicht, selbst zum Kläger zu werden und die Nation zum Urteil über einige der dunkelsten Episoden des Seekrieges aufzurufen.

Tarent: Am 11. November 1940 führten britische Torpedoflugzeuge einen überraschenden Angriff gegen die Flottenbasis aus und versenkten einige der größten und stolzesten Einheiten der Kriegsmarine. Genua: Am 9. Februar 1941 gelang es einem englischen Geschwader, sich dem Hafen unbemerkt zu nähern und nach einem halbstündigen Bombardement unangefochten zu entkommen. Die Schlacht in der Straße von Sizilien, wo sich die italienische Handelsflotte auf dem Versorgungswege nach Nordafrika verblutete. Die rasche, fast übereilte Uebergabe Pantel-lerias. Augusta, das angeblich von einigen kleinen Einheiten der feindlichen Marine genommen wurde. Die fast kampflose Räumung Siziliens, wo nur deutsche Truppen ernsthaften Widerstand leisteten. Die Auslieferung des Restes der Flotte an die Alliierten in Malta.

Bei der Lektüre des Buches hat man den Eindruck, daß Trizzino die historische und auch die persönliche Distanz nicht gefunden hat, die bei einem historischen Werk vorausgesetzt werden müßte, so zweckbestimmt es auch sein mag. Nicht ein einziges Mal läßt er widersprechende Meinungen zu Wort kommen. Kein Wort von den Erfolgen der italienischen Kriegsmarine in Alexandria und Gibraltar, nur beiläufige Erwähnung der großen Einbußen, die die englische Flotte im Mittelmeer erlitten hat. Keine Berücksichtigung der schwierigen Verhältnisse, unter denen die italienische Marine zu kämpfen hatte: gegen einen Feind, der über Radargeräte und ausgezeichnete Luftaufklärung verfügte, der keinen Trcibstoffmangel kannte. So viele Fehler der Generalstab ' und die Admiralität Italiens gemacht haben mögen, kein Kommando bleibt von ihnen verschont. Die Schlappe von Tarent war nicht größer als die von Pearl Harbour.

Die Beweisführung des Autors strebt danach, zu zeigen, daß die Gegner des faschistischen Regimes in der Sabotierung des Krieges eine Möglichkeit sahen, sich und die Nation von der verhaßten Diktatur zu befreien. Es war fast unvermeidlich, daß Trizzino aus dem Buche des Leiters des Informationsdienstes der Marine während des Krieges, des Admirals Maugeri, zitierte, nämlich die Stelle, wo dieser von dem Willen zahlreicher hoher Offiziere in der Admiralität spricht, den Krieg um jeden Preis zu beenden. Die Parallele mit Admiral Canaris liegt auf der Hand. „Ueber dieses ,um jeden Preis' läßt sich streiten; man kann nicht täglich tausende Menschen seines eigenen Volkes in den Tod schicken und sein eigenes Land Stück um Stück zertrümmern lassen, wenn es eine andere Möglichkeit gibt, die zweifellos für den, der die Initiative übernimmt, riskanter ist, aber von viel unmittelbarerer Wirkung: der Palazzo Venezia war für Maugeri und dessen Gesinnungsgenossen nicht verschlossen; die Eliminierung des Diktators konnte lange vor dem 25. Juli 1943 erfolgen und viel Trauer und Ruinen sparen; die Vaterlandsliebe war für diese Admirale eine sehr abstrakte Angelegenheit, die nicht das eigene Volk umfaßte, von dem man täglich Aufopferung des Lebens verlangte, während man selbst weder die eigene Haut noch die Karriere riskierte.“

Solche Worte müssen auf ein mit den tatsächlichen Geschehnissen nicht vertrautes Publikum Eindruck machen. Ob aber diese flammende Rede berechtigt ist, ob Verrat wirklich bestanden hat, ob er über die normale Spionagetätigkeit des Feindes hinausging, das muß der Prozeß erst offenbar machen. Noch ist das Echo nicht verstummt, das der Prozeß gegen die inzwischen verurteilten Schriftsteller Renzi und Aristarco hervorgerufen hat, die in einem Drehbuchentwurf den faschistischen Machthabern in Rom und den hohen Kommandostellen die Schuld an dem katastrophalen Verlauf des griechischen Feldzuges zuschrieben und das Verhalten der italienischen Besatzungskräfte in Griechenland geißelten. In diesem Fall handelte es sich um zwei ideologisch stark links orientierte Autoren, aber ein gewisser innerer Zusammenhang zwischen den beiden Prozessen ist nicht zu leugnen. In beiden Fällen verteidigt der neue Staat seine Wehrkraft gegen zersetzende und lähmende Kritik in einer, militärisch gesehen, besonders heiklen Phase, nämlich in der des mehr noch moralischen als materiellen Wiederaufbaues eines Heeres, einer Marine, einer Luftwaffe. Der schwierigste Teil der Aufgabe besteht darin, in die durch die Umwertung der Werte verwirrten Gedanken der jungen Menschen, von denen man vielleicht morgen schon Wehrbereitschaft fordern muß, wieder Ordnung zu bringen. Die Kontinuität der militärischen Tradition ist in Italien, das keinen Tag lang ohne Heer war, nicht unterbrochen worden, und Angriffe gegen die Vergangenheit werden als Angriffe gegen die Zukunft betrachtet.

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