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Japan: Deutschland von einst

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Bunzo Minagawa hatte im Dschungel von Guam den Krieg weitergeführt. Am 21. Mai d. J. war er gefangengenommen worden. Ein japanischer Offizier sagte ihm, daß seit fünfzehn Jahren Friede sei. Man brachte Mina-gawa nach Tokio. Vor dem Fenster des Hotels, in dem er wohnte, zogen die Demonstrationszüge vorbei. Pausenlos, von früh bis abends. Minagawa hatte die Demonstrationen zuerst für Shinto-Festzüge gehalten. Es ist die Zeit der Shinto-Festlichkeiten. Dann verstand er die Sprechchöre: „Ami go home.“ „Das ist kein Friede“, sagte Minagawa. Die folgenden Tage in Tokio konnten ihn kaum davon überzeugen, daß der Offizier die Wahrheit gesprochen hatte, als er dem im Urwald verloren gewesenen Spätheimkehrer berichtete, der Friede sei schon fünfzehn Jahre alt.

Die Meldungen von den hundert Toten, die die Springflut an der japanischen Küste unter sich begraben hatte, ging im Kampfgetöse um den japanisch-amerikanischen Sicherheitsvertrag unter. Der Vertrag beherrscht die japanische Politik, die japanischen Zeitungen, das japanische Leben. Es ist die größte innerpolitische Krise in Japan seit dem Zusammenbruch von 1945. Mehr als drei Millionen Menschen haben gegen den Sicherheitsvertrag demonstriert, in allen Teilen des Landes. Der Generalstreik wurde am Samstag, den 4. Juni, ausgerufen und 24 Stunden lang einheitlich gehalten.

Im Kampf gegen die Regierung Kishi hat sich eine eigenartige Koalition gebildet, die vom osthandelshungrigen Monopol über die Sozialistische Partei, den Massengewerkschaftsbund SOHYO bis zu den Kommunisten reicht. Während die Gewerkschaften und die Verbände der Intellektuellen ihre Leute durch die Straßen der Städte führen, fordern die Ministerpräsidentschaftskandidaten in Kishis eigener Partei den Sturz des Regierungschefs. Fast die gesamte Millionenpresse — die Zeitung „Asahi“ hat eine Auflage von 4,5 Millionen — richtet ihr Trommelfeuer gegen den Pakt und gegen den Mann, der ihn abschloß und die Ratifizierung durch einen parlamentarischen Trick erzwang. Der Kampf gegen den Sicherheitsvertrag scheint das ganze Neunzig-Millionen-Volk erfaßt zu haben. Die in den fünfzehn vergangenen Jahren aufgespeicherte Energie und Hysterie dieses nervösen Volkes fand plötzlich ein Ventil und charakterisiert das Bild des iapanischen Alltags, seit am 19. Mai Ministerpräsident Kishi den sozialistischen Boykott des Parlaments ausnützte, um die Ratifizierung des japankch-amcrikarrrsehieri Sicherheitsvertrages zu beschließen. Kishi kämpft mit dem Rücken gegen die Wand. Die Wand, an die er sich stützt, muß zusammenbrechen, wenn die Opposition ihren Willen durchsetzt und die japanische Regierung Eisen-hower ersuchen muß, seinen für den 19. Juni angesetzten Besuch zu verschieben. Sie muß zusammenbrechen, wenn der Präsident die Hundertjahrfeier der japanisch-amerikanischen Beziehungen am 21. Juni in einem Meer von „Ami-go-home“ brüllenden Demonstranten zelebriert.

Nichts als ein verhältnismäßig enger Kanal liegt zwischen Japan und China, dem aggressivsten Glied der Kette kommunistischer Staaten. Nichts als der Pazifik liegt im Rücken Japans. Diese Situation und die strategische Notwendigkeit der pazifischen Verteidigung, einen Nordpfeiler zu haben, führte dazu, daß ein japanischamerikanischer Sicherheitsvertrag noch in der Besatzungszeit abgeschlossen wurde. Er entsprach der politischen Situation von 1953, und gab Japan keine Rechte, bürdete ihm aber auch keine Pflichten auf. Nachdem Japan seine Souveränität errungen hatte, begann die japanische Regierung an der Novellierung dieses Vertrages zu arbeiten, durch die ihr die Kontrollrechte eines souveränen Staates über die Stützpunkte einer fremden Armee eingeräumt werden. Das neue Vertragswerk war im Sommer 1959 fertig. Es sichert Japan das Kontrollrecht nicht nur über die Einheiten der USA-Armee auf japanischem Boden, sondern auch über deren Verbindung außerhalb Japans im Fernen Osten. Vor allem ist im japanisch-amerikanischen Sicherheitsvertrag festgehalten, daß die japanische Verfassung über dem Vertrag steht. Absätze im Bündnisvertrag, die im Widerspruch mit der Verfassung stehen, sind automatisch aufgehoben; Anforderungen an Japan, die sich aus der Befolgung des Vertrages ergeben und die außerhalb des Rahmens der japanischen Verfassung führen, braucht keine japanische Regierung akzeptieren. Japan verpflichtet sich aber — und das gab es im alten Vertrag nicht — an der Verteidigung der amerikanischen Stützpunkte auf japanischem Boden mitzuwirken. Aus einem Besatzungsvertrag ist ein Bündnis zweier souveräner Staaten im Rahmen eines ganzen Bündnissystems geworden.

Von vornherein liefen die Kräfte der Linken stürm gegen den neuen Vertrag. Die kommunistische Partei Japans ist klein, aber sie verfügt über Massenorganisationen, die ihren Einfluß weit in die Reihen der organisierten Arbeiterschaft und der deklassierten Intellektuellen trägt. Der japanische Gewerkschaftsbund SOHYO ist die stärkste und militanteste Gewerkschaft im nicht-kommunistischen Asien und reagiert auf jeden Wink aus dem Generalsekretariat des kommunistischen Weltgewerkschaftsbundes in Prag. Die japanischen Studenten- und Intellektuellenorganisationen sind Treibhäuser für kommunistische Infiltration und Agentenarbeit; beide Organisationen, Gewerkschaften und Studentenbünde, beherrschen das politische Leben der japanischen Arbeitnehmer und daher auch die Sozialistische Partei Japans, die, in ein dem einstigen Austromarxismus verwandten Denken verstrickt, in entscheidenden Momenten oft zum Anhängsel der kleinen Kommunistischen Partei wird.

Trotz ihrer Massenorganisationen umfaßt die Linke in Japan nur eine kleine Minorität des noch immer sehr konservativen japanischen Volkes. Bis zur Unterzeichnung des Sicherheitsvertrages im Dezember 1959 fanden ihre Aktionen gegen das Bündnis in der Masse der Japaner keinen Rückhalt. Aber in den sechs Monaten zwischen Unterzeichnung und Ratifizierung kam die „bürgerliche Opposition“ zu Hilfe und brachte das zustande, was der Linken allein nie gelungen wäre: die Mobilisierung eines großen Teiles des Volkes gegen das Bündnis mit Amerika. Ein Nationalismus wurde hochgezüchtet, unter dem Deckmantel des Pazifismus. Das berauschende Gefühl, die Hand heben und dem amerikanischen Sieger die längst fällige Ohrfeige geben zu können, wird ausgekostet.

„Deutschland in der Systemzeit“, kommentierte ein japanischer Diplomat, der die deutsche Tragödie der dreißiger Jahre von Berlin aus beobachtet hatte, die japanische Situation. Das geht voll und ganz auf das Konto der absoluten Demoralisierung des bürgerlichen Lagers in Japan. Von der Zwangsjacke der Militärdiktatur und der starren Tradition befreit, von neuen Elementen aus Schieber- und Gangsterkreisen durchsetzt, war das japanische Bürgertum schon Ende der vierziger Jahre ein Krankheitsherd im Fernen Osten. Die Krankheit ist nun voll ausgebrochen. Die Liberaldemokratische Partei kennt keine politischen Fraktionen mehr, sondern nur Cliquen, die sich als Hausmacht um ehrgeizige Politiker scharen und bereit sind, mit allem, auch mit dem Verrat an Japan zu zahlen, um dem „Chef“ in die Regierung und sich selbst zu,einem,Regierungsposten zu verhelfen. uAtis uder üReihfctd(er, .Ministerpräsidentschaf ts-kandfdäfen,' die den' Kampf gegen den Sicherheitsvertrag als Welle ansehen, auf deren Rük-ken sie sich in die ersehnte Position tragen lassen können, ragen Ishibashi, Miki und K o n o hervor. Während man Ishibahsi und Miki bei sehr viel gutem Willen noch als Liberale ansprechen kann, die tatsächlich gegen die problematische Art, in der Kishi die Ratifizierung erzwang, Stellung nehmen, ist der dritte ein wilder Ehrgeizling reinsten Wassers — und gerade er verstand es, die expansivsten Industriekonzerne hinter sich zu bringen, mit der Massenpresse zu vereinen und diese geschlossene Front gegen Kishi und den Vertrag zu führen. Als Repräsentant der japanischen Konzerne verhandelt Kono direkt mit Peking und Moskau. Ziel: Eine Art japanischer Neutralismus auf der Grundlage der japanisch-sowjetischen Bindung im Ressentiment gegen Amerika und eine Peking-Moskau-Orientierung der japanischen Wirtschaft. In diesem Strudel der politischen Anarchie und Verantwortungslosigkeit des japanischen Bürgertums muß natürlich auch jeder Versuch der Gründung einer demokratischen Arbeiterbewegung untergehen. Dieses bürgerliche Lager kann keine andere Arbeiterbewegung zum Gegner beziehungsweise als Partner haben, als eine hysterische, zum Bürgerkrieg bereite.

Trotz allem: Kishi entschloß sich, zu bleiben und den Kampf auszufechten. Die Situation brachte es mit sich, daß die in alle Windrichtungen versprengte Gruppe der Konservativen, Gentlemanpolitiker der alten Schule, sich hinter Kishi sammelten und nun dessen einzige verläßliche Stütze sind, vor allem Saguski Yoshida.

Wiederum beginnen sich die Züge des „Churchill von Japan“ im Nebel der Japanpolitik abzuzeichnen. Der 83jährige „Herr von Oiso“, Ministerpräsident in den schwersten Nachkriegsjahren und seither die „graue Eminenz“ in der japanischen Politik ist zur Zeit, da die politische Krise in Japan ihren Höhepunkt erreicht, in Europa. Bei Adenauer und bei de Gaulle. Noch in Europa zieht er an Schnü-•en, die bis ins Herz der japanischen Politik reichen. Wenn Yoshida in zwei Wochen mit seinem Rolls Royce vom Schloß Oiso in den Kaiserpalast fährt, wird die Krise in Japan noch ange nicht zu Ende sein. Yoshida wird nicht zu ipät kommen.

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