6610203-1954_47_04.jpg
Digital In Arbeit

Japanische Problematik

Werbung
Werbung
Werbung

In dem Kommunique, das zum Abschluß der jüngsten russisch-chinesischen Verhandlungen veröffentlicht wurde, nahm die Ankündigung verschiedener wirtschaftlicher Maßnahmen, die der Vertiefung des Bündnisses zwischen Moskau und Peking dienen sollen, den breitesten Raum ein. Die wenigen außenpolitischen Fragen, die da Erwähnung fanden, wurden nur am Rande berührt, und mit Ausnahme der USA, die, wie zu erwarten, wieder als Zielscheibe heftiger Angriffe auserkoren war, wurde eine längere Ausführung nur einem Fremdstaat gewidmet, und das war Japan. Die chinesische Volks-’ republik und die UdSSR seien sich einig, so wird in der Kundmachung erklärt, daß die amerikanische „Besetzung“ Japans unverzüglich ein Ende nehmen müsse; erst durch seine „Befreiung“ werde das Land in die Lage versetzt sein, „normale und freundschaftliche" Beziehungen zu den Staaten des Ostblocks herzustellen. Allerdings, was in dieser Hinsicht als „normal und freundschaftlich“ zu betrachten wäre, darüber sagt das Kommunique ebensowenig wie über den Umstand, daß weder Rotchina noch die UdSSR bisher Schritte unternommen hatte, um einen Friedensvertrag mit dem Inselreich abzuschließen. Aber das, was es sagt, laßt die Annahme als durchaus begründet erscheinen, daß das japanische Problem und die Japan gegenüber zu verfolgende Politik des Ostblocks während des vierzehntägigen Besuches prominentester sowjetischer Staatsmänner in Peking sehr ein gehend erörtert worden sind. Und ebenso ist kaum zu bezweifeln, daß die Regierung in Tokio der an die japanische Adresse gerichteten Erklärung der Pekinger Konferenz ein weit größeres Gewicht beilegt, als aus der offiziellen Stellungnahme des japanischen Außenministeriums zu schließen wäre, die der Meinung Ausdruck gab, die Pekinger Deklaration enthalte „nichts Neues“ und sei lediglich ein weiterer Zug in der kommunistischen „Friedensoffensive“, der es nicht gelingen werde, Japans entschlossenes Festhalten an einer Politik enger Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten zu erschüttern.

Unter allen am zweiten ‘Weltkrieg beteiligten Völkern sah keines seinen Lebensmut nach dem Ende des großen Ringens auf eine härtere Probe gestellt als das japanische. Die dominierende Stellung, die es sich in drei siegreichen Kriegen und in einem halben Jahrhundert schwerster materieller Anstrengungen auf dem asiatischen Kontinent erobert hatte, war restlos zerstört. Von seinem überseeischen Imperium, Korea, die Mandschurei und die wertvollsten Gebiete Chinas umfassend, war nicht eine Fußbreite übriggeblieben; selbst von Formosa verschwand die Flagge der aufgehenden Sonne, und nur über den Inseln durfte sie noch wehen, die den altjapanischen Besitz gebildet hatten. Damit war das japanische Staats- und Siedlungsgebiet auf ein Territorium beschränkt, dessen Gesamtfläche von 380.000 Quadratkilometer nur etwa 15 Prozent, d. h. rund 57.000 Qua-dratkilometer anbaufähigen Bodens umschloß und auch bei intensivster Bearbeitung nicht annähernd hinlangen konnte, eine Bevölkerung von über 80 Millionen Menschen, mit einem jährlichen Zuwachs von mehr als einer Million, zu ernähren: und dies um so weniger, als mit dem Verlust der bisherigen reichen Rohstoffquellen auf dem Kontinent, der weitgehenden Zerstörung der japanischen Industrie durch Kriegsereignisse und Nachkriegsdemontagen und der fast völligen Vernichtung der Handelsflotte zunächst jede Möglichkeit ausgeschlossen war, im Wege industrieller Exporte den Mangel an heimi- mischen Nahrungsmitteln auszugleichen. Wozu noch, nicht weniger schwerwiegend, die psychologische und moralische Belastung kam, die das amerikanische Okkupationsregime dem japanischen Volke auferlegte.

Gewiß, wenn Japan nach Kriegsende von der Katastrophe einer ausgedehnten Hungersnot verschont blieb, so war das der prompten und großzügigen Hilfsaktion der Vereinigten Staaten zu verdanken; wie auch eine Reihe anderer, von der amerikanischen Militärverwaltung in Japan durchgeführten Maßnahmen, namentlich auf wirtschaftlichem und %

volkshygienischem Gebiet, zweifellos zum Vorteil des Landes gereichten. Aber dem standen die bedenklichen und für die weitesten Kreise des Volkes schier unerträglichen Folgen des Eifers gegenüber, mit dem die Siegermacht daranging, die besiegte Nation zum „American way of life“ umzuerziehen und ihr in blindem Glauben an die universale Anwendbarkeit und Ueberlegenheit amerikanischer politischer Institutionen verfassungsrechtliche Einrichtungen aufzuzwingen, die gerade in diesem Falle eine völlige Revolutionierung uralter, zutiefst verwurzelter Auffassungen Und Traditionen bedingten.

Bei einem Volk mit weniger Selbstbewußtsein und Selbstdisziplin und einem geringeren Sinn für eine organisch gewachsene, hierarchische Ordnung, als er den Japanern zu eigen ist, hätte das Zusammenwirken aller jener Faktoren wohl unweigerlich zum Zusammenbruch jeder Autorität und zur Auflösung des gesamten staatlichen und gesellschaftlichen Gefüges führen müssen. Vielleicht wäre auch Japan einem solchen Schicksal nicht entgangen, wenn jene Ratgeber des Generals McArthur sich durchgesetzt hätten, die in der Abschaffung der japanischen Monarchie die einzig sichere Gewähr für eine friedliche und demokratische Entwicklung des Landes und gegen ein Wiederaufleben seiner früheren imperialistischen Ambitionen zu erblicken glaubten Glücklicherweise wußte der General es besser. Er begnügte sich damit, den Kaiser seiner vermeintlichen „Göttlichkeit“ zu entkleiden — tatsächlich wurde der Tenno, entgegen der im Westen verbreiteten Annahme, nie als Gottheit, sondern als das personifizierte Symbol des Vaterlandes verehrt — und ihm die Stellung eines konstitutionellen Herrschers nach westlichem Muster zuzuweisen; die willkürlichen Demütigungen, die er mit diesem Eingriff verband, und die vom Monarchen mit Würde ertragen wurden, haben das kaiserliche Ansehen eher noch erhöht, als daß sie imstande gewesen wären, es zu vermindern. So blieb ein unschätzbar wertvolles Element politischer und sozialer Stabilität erhalten. Es hat wesentlich dazu beigetragen, das Pendel der Volksstimmung, das von der äußersten Rechten, erreicht in der Zeit der Siege, unter dem Eindruck der Niederlage erheblich nach links ausgeschlagen hatte, in der Mitte zur Ruhe zu bringen. Heute ist die überwältigende Mehrheit des japanischen Volkes einig in der Ablehnung des Kommunismus wie auch jeder Wiederholung militaristisch-nationalistischer Experimente; ebenso einig aber auch in der Forderung, daß Japan die Möglichkeit gegeben werde, durch friedliche Arbeit und in möglichst engem, freundschaftlichem Kontakt mit den Vereinigten Staaten und den übrigen Nationen der nichtkommunistischen Welt aufs neue eine Position zu gewinnen, die seinen Lebensnotwendigkeiten und seiner politischen Bedeutung entspricht.

Allein, die Erfüllung dieses berechtigten Verlangens läßt bedenklich lange auf sich warten. Der wirtschaftlichen Konjunktur, die der koreanische Krieg mit sich brachte, folgte ein Rückschlag, zu dessen Ueberwindung sich bisher noch kein Weg gezeigt hat. Ungeachtet der angestrengtesten Bemühungen der japanischen Regierung, den Export zu fördern und neue Absatzmärkte zu erschließen, weist die Bilanz des Außenhandels Jahr für Jahr ein Passivsaldo in beängstigender Höhe auf; allein für die ersten sechs Monate dieses Jahres beläuft sich das Handelsdefizit auf nahezu 700 Millionen Dollar. Anderseits drückt die jetzt verfolgte Deflationspolitik, die einen Ausgleich in der Zahlungsbilanz herbeiführen soll, auf den an sich schon kärglichen Lebensstandard der Bevölkerung und legt der gesamten japanischen Wirtschaft Beschränkungen auf, denen sie auf die Dauer nicht gewachsen sein kann. Dazu kommt — auf der politischen Seite — der den Nationalstolz belastende Umstand, daß Japan militärisch im wesentlichen auf den Schutz der Vereinigten Staaten angewiesen bleibt und daß ihm die Gleichberechtigung in der internationalen Gemeinschaft, die sich aus seiner Aufnahme in die Organisation der Vereinten Nationen ergäbe, noch immer verwehrt ist.

Japan befindet sich somit in einer Situation, die das volle Augenmerk und die aufrichtige Hilfsbereitschaft aller an der Einigkeit der nichtkommunistischen Welt interessierten Nationen erfordert. Bleibt es bei der jetzigen Höhe der Handelsbarrieren, denen der japanische Export fast überall in den sogenannten freien Ländern begegnet, und beschränkt sich die jenem Volk ohne Raum gewährte Unterstützung auf den zynischen Rat, sein Nahrungsproblem durch künstliche Geburtenverhütung zu lösen, dann darf man sich nicht wundern, wenn Japan dazu getrieben werden sollte, nicht durch seinen freien Willen, aber durch harte Notwendigkeit, den Weg zu beschreiten, der über eine zunächst nur wirtschaftliche Annäherung an den Ost block zwangsläufig auch zu einer politischen Bindung an die kommunistische Machtgruppe führen würde. Noch ist Zeit, eine solche Wendung zu verhüten; aber rascher vielleicht, als man es heute in manchen Staatskanzleien für möglich hält, könnte es dafür zu spät sein.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung