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„Jedermann“ und die EWG

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Als Großbritannien jüngst offiziell wegen der Bedingungen einer eventuellen Aufnahme in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in Brüssel anfragte, schlug dies in Europa und insbesondere bei seinen Genossen von der Europäischen Freihandelsassoziation (FHZ) wie eine Bombe ein. Hat das „perfide Albion“ seine Freunde in der EFTA verraten? „Die EFTA ist tot", kommentierte man bitter.

Auf der britischen Insel selbst war man über die Reaktion auf dem „Kontinent“ ehrlich überrascht. Und tatsächlich hatte die Anfrage in Brüssel, durch die englische Brille gesehen, nichts Außergewöhnliches an sich. Es entspricht nicht der englischen Mentalität, auf Grund von Theorien zu handeln oder gar große Entscheidungen zu treffen. Sie liebt den pragmatischen Weg, und ein Schritt auf ihm war auch der Brief MacMillans nach Brüssel.

Wie war es dazu gekommen? England hatte zweifellos in der Nachkriegszeit versäumt, in der europäischen Einigung eine führende Rolle einzunehmen. Seine Bemühungen um Bildung einer Europäischen Freihandelszone von 17 Ländern erfolgte zu spät und scheiterte an der Opposition Frankreichs. Dieses wollte die Briten anfangs aus Furcht vor der industriellen Konkurrenz aus „Europa" heraushalten, hatte man doch schon mit den Deutschen genug Kummer. Später festigte sich wohl das Selbstvertrauen der französischen Wirtschaft, insbesondere nach der erfolgreichen Finanzreform von Pinay-Rueff im Jahre 1958, doch dann trat de Gaulles machtpolitische Konzeption von einem assoziierten Europa unter seiner Führung in den Vordergrund. Da ließ sich aber das immer noch große und reiche England nicht so ohne weiters einfügen.

Fast aus einer gewissen Ratlosigkeit heraus gründete dieses nun die EFTA. Manche nennen sie einen verunglückten Selbstzweck, denn die wirtschaft- li! ,“ geographisch 6u %pfeti "Siye)į- gį detl, Mitgliedsstaaten ..įyerde įįfe.J em gleichwertiges Gegenstück zur EWG abgeben. Andere bezeichnen sie als das Objekt eines geschickten britischen Verhandlungsmanövers. Beides ist unrichtig. Die Schaffung :1er EFTA war für England ein Akt der Selbstachtung, und dies letztlich auch für die übrigen Mitgliedsstaaten. Eine kühne Konsequenz auf ein Zuspät. Und sie war auf jeden Fall eine europäische Tat.

Britisch-pragmatisch

Die Briten dachten wieder einmal pragmatisch. Eine wirtschaftliche Zweiteilung Europas bestand auf jeden Fall durch das Blühen der EWG und dem Ausgeschlossensein der übrigen europäischen Länder. Der wichtigste Schritt zu einer wirtschaftlichen Integration ist der Zollabbau. Warum sollten also die „Ausgeschlossenen" nicht ihrerseits damit beginnen? Es mag sicher nicht ideal sein, wenn zwei Wirtschaftsblöcke getrennt voneinander an der Beseitigung der Handelsbeschränkungen arbeiten, aber es ist immer noch besser, als wenn es nur einer tut. So zeigt sich England gerade durch die Gründung der EFTA und vielleicht, ohne sich richtig bewußt zu werden, wahrhaft europäisch.

Wie ist nun die Anfrage in Brüssel um die Beitrittsbedingungen zur EWG zu verstehen? Sie wurde durch das Gespräch MacMillan-Adenauer in Bonn im August vorigen Jahres eingeleitet. Einige Wochen später besuchte der Lord Privy Seal Heath Rom und sondierte dort. An beiden Orten wurde den Briten bedeutet, daß es Zeit sei, die zentripedalen Kräfte in Europa aufzuhalten.

Es ist klar, daß ein Beitritt Englands und der übrigen EFTA-Partner zur EWG auf Grund der Statuten des derzeit für sie geltenden Romvertrages nicht möglich ist Für diese Staaten ist deren institutioneller Rahmen, das Bestehen von supranationalen Behörden, der Plan, daß die Mitgliederregierungen in ihrer Entscheidungsfreiheit stark eingeengt werden, nicht akzepta- bel.

Die EWG müßte großzügig eine Reihe von Ausnahmebestimmungen für den Neuankömmling England gewähren. Ein Beispiel hierfür bietet dessen Lebensmittelpreis. Um seiner Landwirtschaft ein stabiles Prosperi tätsniveau zu sichern, wird diese reich subventioniert. Eine Maßnahme, die nach den Bestimmungen des EWG- Vertrages verboten wäre. Großbritannien müßte also ein steiles Aufsteigen der Lebensmittelpreise in Kauf nehmen. Es könnte dies nur durch Steuerherabsetzung kompensieren. Eine Maßnahme, die, abgesehen von den politischen Auswirkungen — ein heißes Eisen —, eine enorme wirtschaftliche Umstellung bedeutet.

Mutterland und Commonwealth

Das Hauptproblem bildet aber zweifellos das Commonwealth. Ein Beitritt Englands zum Gemeinsamen Markt gemäß dem Romvertrag würde bedeuten, daß für die europäischen Güter keine Zölle, für die Einfuhr aus dem Commonwealth, die bisher zollfrei erfolgt, solche aber eingehoben werden müßten. Man hat bereits berechnet, daß ein solcher Schritt ohne Vorbehalte zwischen 20 und 40 Prozent der Importe aus Pakistan, Malaya und Rhodesien-Nyassaland und über 50 Prozent aus den anderen Ländern des Commonwealth betreffen würde.

Noch immer ist nämlich Großbritannien für alle Völker der britischen Gemeinschaft der beste Kunde, mit Ausnahme von Kanada, für das es der zweitbeste ist. Es schicken Neuseeland 56%, Ghana 46%, Ceylon 34%, Australien, Südafrika und Indien 30%, Pakistan 20%, Malaya 17% und Kanada 16% ihrer Exporte nach der britischen Insel.

Diese Zahlen sagen klar, welche Bedeutung das Problem Commonwealth vom wirtschaftlichen Standpunkt für einen Beitritt Englands zu „Europa“, wie man es nennt, hat. Die menschlichen und gefühlsmäßigen Bindungen zwischen dem Mutterland und seinen ehemaligen Kolonien sind nicht geringer. Noch heute wandern jährlich zwischen 100.000 und 150.000

Einwohner Englands in das Commonwealth aus. Gleichzeitig gibt es einen erstaunlich großen Gegenstrom: 60.000 Personen im Jahr. In den letzten 150 Jahren sind etwa 25 Millionen Menschen von den britischen Inseln in die ehemaligen Kolonien ausgewandert, das ist ungefähr die Hälfte der jetzigen Gesamtbevölkerung Englands.

Man mag den „Mister Average“, den berühmten Herrn Jedermann, in London, Glasgow oder Southampton fragen, er weiß über die Verhältnisse in Indien, Australien oder Kenya ausgezeichnet Bescheid, hatte er doch dort Freunde oder Verwandte. Über die Probleme von Paris, Stockholm oder Wien ist er weniger orientiert, liegen diese Städte doch jenseits der „21 Meilen blauen Wassers“ auf dem ach so fernen „Kontinent“.

Verstand und Herz

Man kann derzeit auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Integration in Europa zwei geistige Strömungen in England feststellen.

Die erste, wohl vor allem emotionell genährte, will vor allem das Commonwealth bewahren und sich im Zeitalter der wirtschaftlichen Zusammenschlüsse vor allem an die USA anlehnen, Kanada wäre die Brücke. Für diese Konzeption sprechen neben der gemeinsamen Sprache der betroffenen Länder auch strategische Erwägungen. Westeuropa würde eventuell, wenn es nicht zu große Opfer bedeutete, als Vorfeldbastion mitein- bezogen werden. Die zweite ist die der „Europäer“ und mehr rationell begründet. Sie will der Tatsache Rechnung tragen, daß die wirtschaftlichen Beziehungen im Commonwealth seit Jahren ständig im Rückgang begriffen sind und durch enge Verbindung mit

Westeuropa eine Art dritte Weltmacht bilden.

Diese Einteilung mag bei der Vielfalt der englischen Meinungen etwas simplifiziert wirken, doch trifft sie den Kern der Sache. Man könnte vielleicht in weiterer Vereinfachung noch sagen, der Engländer will verstandesgemäß zu „Europa“, mit dem Herzen ist er beim Commonwealth.

Die außenpolitische Entwicklung wird aber Großbritannien zwingen, sich weiterhin um eine wirtschaftliche Einigung mit der EWG zu bemühen. Der neue Kurs des Kremls, der eine härtere Sprache spricht, Vorstöße in Berlin, Aufnahme der Atomwaffenversuche usw., beschleunigt diesen Vorgang. Erleichtert wird er durch die Haltung des französischen Staatschefs de Gaulle, der neuerdings nicht einem europäischen Zentralismus, sondern dem „L’Europe des patries“ das Wort redet.

Der Schritt in Brüssel

Die Anfrage Großbritanniens in Brüssel um die Bedingungen eines eventuellen Beitrittes hat wohl keine andere Bedeutung, als die Lage zu klären. Es ist mehr als zweifelhaft, daß eine Aufnahme Englands in den gegenwärtigen Rahmen der EWG möglich ist. Und wenn der Brite von einem „Europa- beitreten“ spricht, denkt er auch nicht an eine solche, sondern lediglich an eine mehr oder weniger lose Assoziation. Denn zur Stunde kann er sich seinen Verpflichtungen gegenüber dem Commonwealth und wohl den EFTA- Partnern nicht entziehen. Dies ist für ihn mehr als eine Prestigefrage.

Auf der Skala der Möglichkeiten einer Verbindung Englands mit der EWG, vom vollen Beitritt mit allen seinen Konsequenzen bis zur losesten Assoziierung, schwankt daher der Zeiger hin und her. Die jüngste Anfrage Englands in Brüssel hat iffn heftig in Bewegung geraten lassen. Jetzt aber bereits eine Prognose stellen zu wollen, wo er stehenbleiben wird, wäre unseriös.

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