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Jenseits alter Maximen

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Spätere Zeiten werden vielleicht einmal feststellen, daß es der entscheidende Irrtum des westlichen Verhaltens gegenüber dem Phänomen des Kommunismus in der Nachkriegszeit war, diesen mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt zu haben. Man beurteilte Stalin auf Grund seiner Erfahrungen mit Hitler und schloß aus Stalins innenpolitischem Terror, daß auch auf außenpolitischem Gebiete nichts anderes von ihm zu erwarten sei, als was man bei Hitler erlebt hatte. Und man identifizierte den Kommunismus schlechthin mit dem Stalinismus.

Das Resultat dieser Identifizierung des Stalinismus mit dem Nationalsozialismus war ein gefährlich verzerrtes Bild der kommunistischen Wirklichkeit. Stalin war ein grausamer Tyrann, dem ein Jewtu- schenko heute vorwirft, eine Million unschuldiger Sowjetbürger ermordet zu haben — es waren wohl noch mehr —, aber er war kein Amokläufer wie Hitler. Er stand vielleicht in der Tradition der Zaren und der Kosaken, aber er vereinigte Grausamkeit mit kalter Berechnung, innenpolitischen Terror mit außenpolitischer Vorsicht, Unmenschlichkeit mit Schläue. Er war nicht ein wildgewordener Spießbürger, der aus seiner Neurose eine Weltanschauung machte, sondern ein kalter Stratege der kommunistischen Weltrevolution, der seinen „Sozialismus in einem Lande” nicht eroberungsbesoffen wie Hitler mutwillig aufs Spiel setzen wollte.

Vor allem aber: im Nationalsozialismus waren Theorie und Praxis identisch, im Stalinismus jedoch gerieten marxistische Theorie und stali- nistische Praxis auseinander. Von Hitlers Schriften und Reden führt ein gerader Weg nach Auschwitz. Von Marx’ Schriften aber, so sehr sie dem Geiste der Gewalt und des Absolutismus verpflichtet sind und so wenig in ihnen die Möglichkeit einer Entartung der „Diktatur des Proletariats” berücksichtigt und durchdacht ist, führt kein gerader Weg nach Katyn und Workuta. Das aber heißt: ein Marxist, dem es mit Marx letztlich um die Aufhebung der Entfremdung und um die Freiheit des Menschen geht, kann und muß den Stalinismus — und was davon heute in den „sozialistischen” Ländern noch lebendig ist — mit Marx selbst bekämpfen.

Diese Auseinandersetzung zwischen Theorie und Praxis des Marxismus ist, wie man weiß, seit dem XX. Parteitag in vollem Gange. Aber die Rückbesinnung auf die ursprüngliche Theorie von Marx entlarvt — um ein beliebtes Wort der Stalinisten zu gebrauchen — nicht nur den Stalinismus als eine gefährliche Perversion des Marxismus, sondern öffnet immer mehr marxistischen Theoretikern die Augen für die Unzulänglichkeit, ja Antiquiert- heit der Marx’scben Theorie selbst. Sie müssen erkennen, daß die menschliche Entfremdung, die Marx überwinden wollte, im heutigen „Sozialismus” in einer neuen, nicht minder unmenschlichen Form weiterlebt und die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln vorläufig die wundertätige Wirkung gründlich vermissen läßt, die Marx sich von ihr versprach. Und gleichzeitig müssen sie erkennen, daß der Kapitalismus sich weitgehend anders entwickelt hat, als Marx es prophezeit hatte.

Die Folge dieser Erkenntnis ist, daß die mutigsten marxistischen Theoretiker heute beginnen, sogar an Marx selbst zu rütteln. Das ist ein schlechthin revolutionäres Ereignis, das den Beginn einer gewaltigen ideologischen Erschütterung des Weltkommunismus ankündigt. Noch vor wenigen Jahren wäre es völlig undenkbar gewesen, daß führende Kommunisten und marxistische Theoretiker das geheiligte Marxsche Grunddogma von der Diktatur des Proletariats in Frage stellen. Aber heute geschieht es. Die schwedischen Kommunisten haben der Diktatur des Proletariats offiziell abgeschworen. Der „braintrust” der finnischen KP hat soeben für den bevorstehenden Parteitag Thesen ausgearbeitet, die fordern, daß die Begriffe „Gewalt” und „Diktatur des Proletariats” aus dem Programm der Partei gestrichen werden.

Der Herausgeber der österreichischen Parteizeitschrift „Weg und Ziel”, Franz Marek, hat in der No- vembemummer dieser Zeitschrift einen Artikel über „Probleme der kommunistischen Parteien Westeuropas” veröffentlicht, in dem die bisherigen Vorstellungen der Kommunisten von der Entwicklung des Kapitalismus als „überholt” bezeichnet und einem Programm „demokratischer Reformen” das Wort geredet wird. Marek meint, die kapitalistische Demokratie sei keineswegs „bloß Demokratie für die Ausbeuter”, also lediglich eine formale Demokratie. Das entspreche einfach nicht den Tatsachen. Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, parlamentarische Körperschaften, wie sie im Kapitalismus existierten, würden von den Volksmassen bejaht und dürften deshalb von den Kommunisten nicht abgeschafft werden: „Wir müssen uns zum Respekt der parlamentarischen Traditionen, des Mehrparteiensystems, der Möglichkeit von organisierten Oppositionen und auch zur Möglichkeit bekennen, eine Regierung entsprechend dem Willen des Volkes durch eine andere zu ersetzen.”

Der „schwere wissenschaftliche Begriff”

Und auch Marek plädiert, wenn auch freilich noch etwas verklausuliert, für eine Aufgabe des Grund- dogmas von der Diktatur des Proletariats: Er meint, es sei „nach den Jahren faschistischer Diktatur und auch nach den Enthüllungen über die Verbrechen Stalins … verständlich, wenn der schwere wissenschaftliche Begriff Diktatur des Proletariats … in unseren Ländern außerordentlich mißverständlich wirkt”. Und er schließt daraus: „Wir sehen keinen Grund, bei einem wissenschaftlichen Begriff zu beharren, der… mißverständlich wirkt und unter den Bedingungen unserer Länder die große Aufgabe erschwert, den Sozialismus als vollendete Demokratie au propagieren”.

Noch weiter gehen einzelne Jugoslawen. In der von marxistischen Philosophen Zagrebs herausgegebenen Zeitschrift „Praxis” (Nr. 2/3, 1965) schreibt Gajo Petrovič, die Theorie der Diktatur des Proletariats sei „eine sehr gefährliche Theorie”. Wenn Marx hätte voraussehen können, daß mit Hilfe dieser Theorie „Terrorismus, Gewalt und Unmenschlichkeit” in den Sozialismus kommen, „würde er sie vielleicht nie formuliert haben”. Es wird dann der Marx’schen Theorie vorgeworfen, sie sei inhaltlich und terminologisch unklar. Soweit diese Zagreber Philosophen die Diktatur des Proletariats überhaupt noch akzeptieren, verstehen sie darunter eine echte gesellschaftliche Selbstverwaltung, die nach demokratischen Prinzipien aufgebaut ist und in der sich die Willensbildung von unten nach oben — und nicht umgekehrt — vollzieht. Aber die erwähnten Beispiele — und es ließen sich deren noch mehr zitieren — beweisen, daß zumindest die westeuropäischen und jugoslawischen kommunistischen Theoretiker sich an die revolutionäre Aufgabe zu machen beginnen, das Dogma der Diktatur des Proletariats in die ideologische Mottenkiste zu verbannen.

Der „italienische Weg”

Der durch die Entstalinisierung Chruschtschows ausgelöste Prozeß einer marxistischen Selbstbesinnung führt die Kommunisten Westeuropas auf den Weg eines „Reformkommunismus”, als dessen Pioniere vor allem die italienischen Kommunisten anzusprechen sind. In der vom Zentralkomitee der Partei ausgearbeiteten „Generallinie”, welche die Diskussionsgrundlage für den kommenden XI. Parteikongreß bilden soll, vollziehen die Schüler Togliattis eine entscheidende Schwenkung: die Partei wird nicht mehr ausschließlich als ein Instrument der Revolution verstanden, sondern ihre primäre Aufgabe soll in der Förderung demokratischer Strukturreformen innerhalb der existierenden kapitalistischen Gesellschaft bestehen. Es gehe um eine „Demokratisierung der öffentlichen Gewalt”, man müsse „organische Politik und Reformen” betreiben.

Das demokratische Spiel

Die italienischen Kommunisten treten heute für eine völlige Unabhängigkeit der Gewerkschaften von den politischen Parteien ein, und zwar nicht nur unter kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen, „sondern auch in der Phase des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft”. Weiter heißt es, man müsse „die freie Bildung von Mehrheiten” zulassen und den Minderheiten die Möglichkeit verschaffen, „selbsit eine Mehrheit zu werden”. Auch in einer sozialistischen Demokratie müsse dieses demokratische Spiel funktionieren, auch dort müsse eine „Pluralität der politischen Kräfte” herrschen. Jede Beschränkung der Freiheit „enthält für die Arbeiterklasse die Gefahr, ihre schöpferische Kraft und ihren Widerstand gegen bureaukratische Entwicklungen zu schwächen”.

Der „Monolithismus” und die autoritäre und bureaukratische Dege- nerierung der Partei sollen dadurch verunmöglicht werden, daß Mitglieder der Partei, die von der Ansicht der Mehrheit abweichende Meinungen vertreten, nicht mehr diffamiert oder gar ausgeschlossen werden dürfen. Auch darf kein Druck mehr auf sie ausgeübt werden, ihre Meinung zu ändern, sondern es soll innerhalb der Partei ein „effektives demokratisches Leben” entwickelt werden. Die bisher in der Partei üblich gewesene „Praxis der Einstimmigkeit” wird als ein schwerer Fehler offiziell verurteilt.

Von da ist es nicht mehr weit bis zu einer grundsätzlichen Revision der Theorie von Marx selbst. Wiederum sind es einige jugoslawische Kommunisten, die hier Pionierarbeit leisten. Svetozar Stojanovic wendet sich in der Zagreber Philosophiezeitschrift „Praxis” (2/3, 1965) gegen eine Dogmatisierung und meint, man müsse die personalistische Grundkonzeption von Marx „gelegentlich sogar gegen Marx selbst betonen”. So müsse man die Marxsche Definition der Demokratie, welche die Demokratie nur als eine Form des Staates und nicht als gesellschaftliche Selbstverwaltung auffasse, revidieren. Der Übergang zum Sozialismus müsse auf dem Wege eines Mehrparteiensystems erfolgen, sonsi gelange man dahin, wohin man gelangt sei: daß es dem Sozialismus bisher nicht gelungen sei, das Niveau der in der bürgerlichen Gesellschaft verwirklichten Demokratie und Freiheit zu erreichen.

Noch deutlicher wird Danko Grlic der in derselben Zeitschrift (1, 1965) schreibt, es sei absurd, im ,Namer von Marx auf allem zu bestehen was Marx geschrieben oder gesagl habe. Alles könne eines Tages zurr Dogma werden. Soll man Marx als einzigen aus der Geschichte herausnehmen? Soll man erklären, er habe außerhalb von Raum und Zeit gelebt? Als einer, dessen Gedanken nie überholt werden können und desser Wort ein ewiges Gesetz bildet, das für alle Zeiten gilt? Es gebe einer geradezu mythologischen Glauben ar alles, was die Klassiker des Marxismus gesagt hätten, aber dabei übersehe man, daß oft in grundsätzlichen Fragen Marx’, Engels und Lenin sehr verschiedenartige Ansichten geäußert hätten.

Lenin gegen Lenin

Weiter meint Grlic, Marx’ und Lenins Verelendungstheorie seien heute „wirklich antiquiert”. Wenn man sich blind zu allem bekenne, was Marx und Lenin gesagt haben, bedeute das gleichzeitig oft, daß man unfähig werde, gewisse wesentliche Merkmale der heutigen sozialistischen und kommunistischen Bewegung zu erfassen. „In anderen Worten: es bedeutet, daß man kein Marxist ist.” Damit ist die kritische Infragestellung der Theorie von Marx und Lenin zum Kriterium wahren marxistischen Verhaltens erhoben worden. Voraussetzung eines jeden schöpferischen marxistischen Denkens in unserer Epoche sei es, die blinde Treue gegenüber den „Klassikern” nicht als das einzige Kriterium für die Einteilung der Menschen in Marxisten und Nichtmarxisten zu wählen. Grlic führt auch ein konkretes Beispiel an, warum man mit einer solchen Mytholo- gisierung der Klassiker des Marxismus nicht weiterkomme. Er meint, man könne etwa in den Schriften Lenins einen Haufen Zitate finden, die für die Notwendigkeit einer friedlichen Koexistenz zwischen Staaten mit verschiedenen Sozialstrukturen sprechen. „Aber die Chinesen können wahrscheinlich eben- soviele, wenn nicht sogar mehr Zitate finden, die von der Notwendigkeit einer bewaffneten Revolution und eines unablässigen und unerbittlichen Kampfes sprechen.”

Ein „illusorisches Ziel”

In einem anderen Aufsatz (2/3, 1965) erklärt Grlič die Marxsche Utopie eines Zustandes „des vollkommenen, konfliktlosen Humanismus, des Friedens, des Glücks, …wo alle Bedürfnisse erfüllt werden” zu einem „illusorischen Ziel”, durch das die jetzigen Leiden der Menschheit nicht gerechtfertigt werden könnten. Dieses Ziel sei bis zum Absurden mythologisiert worden, und diese Mythologisierung macht er verantwortlich für den Stalinismus und all die „Abarten” des Marxismus: „Wer hätte all das voraussehen können, alle diese Abarten, alle diese .. sozialen Deformierungen, nationale Unterdrückung, Äußerungen der schwärzesten chauvinistischen Leidenschaften, das Genocid, daß ideelle und politische Gegner ärger behandelt werden als Kriminelle; sowie alle anderen Abscheulichkeiten der Dehumanisie- rung, des persönlichen Terrors, der grauen Bureaukratie, der Vorherrschaft einer Kaste und des Primitivismus im Rahmen des prinzipiell humansten und freiesten Systems — des Sozialismus…?” Und er fragt: „Bedeutete der Stalinismus, oder besser, bedeutet er in verschiedenen abgeänderten Formen in einigen Ländern nicht noch heute all das?”

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