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Jüdische Sündenböcke

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Aber: Nachstalinistische Bürokraten haben, ebenso wie stalinistische vor 1953, erkannt, daß sich die Mißstimmung, die vielfach begründete Unzufriedenheit mit dem russischen Regime leicht auf den jüdischen Sündenbock der Völker in der Sowjetunion ablenken läßt, „zumal da, kaum unter der Haut verborgen, der alte orthodoxe und volkhafte Antisemitismus lebte“ (F. Heer). Wenig verwunderlich, daß es dann in innen- und außenpolitischen Krisensituationen zu Ausschreitungen und pogromhaften Vorgängen kommt, wie 1959 in Malachowka, wo die Synagoge angezündet, der jüdische Friedhof geschändet und die Frau des Friedhofswächters erdrosselt wurde, oder 1967, als während des Nahostkrieges Juden in Taschkent auf offener Straße angegriffen wurden („N. Z. Z.“, 14. 8. 1967) und jüdische Eltern ihre Kinder aus Furcht vor Erniedrigungen nicht zur Schule schickten.

„Muß nicht in gewissen Fällen der totalitäre antirassistische Rationalismus zum gleichen Resultat führen wie der rassistische Irrationalismus?“ Diese Frage Fejtös schien vor kaum zwölf Monaten von der Geschichte bejaht zu werden, als der arabische Nationalismus wieder einmal zur Lösung des Problems Israel auf forderte: „Zerstört und vernichtet sie alle… Erschlagt sie an jedem Ort und für immer. Für Israel ist kein Platz in Palästina. Merke, Israel, dies ist dein Tod“ („Kurier“, 9. 6. 1967). Wäre es zu dieser „Endlösung“ gekommen, so wäre dafür die Sowjetunion (und mit ihr viele Marxisten) wegen ihres notorischen Antizionismus und Anti- Israel-Komplexes direkt mitverantwortlich zu machen.

Ursachen für die Haltung des Kommunismus den Juden gegenüber liegen bei dem ausgeprägten jüdischen Selbsthaß Karl Marx’ und bei Lenin, der 1903 schreibt: „Die Idee einer eigenen jüdischen Nation — eine vom wissenschaftlichen Standpunkt völlig unhaltbare Idee — war auch hinsichtlich ihrer politischen Bedeutung reaktionär.“ Die Leugnung einer jüdischen Nation aus dem Grund, weil sie kein eigenes Territorium, keine einheitliche Sprache und Kultur aufweisen konnte, war blind gegenüber dem nationbildenden Charakter der jüdischen Religion. Die Ansicht, Juden haben sich als Proletarier (oder am Gegenpol: als Kapitalisten) zu assimilieren oder sind als Anhänger der Idee eines eigenen Volkes hebräischer Sprache ein gefährlicher, reaktionärer Ana chronismus, ist über Stalin hinaus bis zur Gegenwart im kommunistischen Herrschaftssystem dominant geblieben. Daher die Schärfe der Gegnerschaft zum Zionismus und gegen den aus taktischen Erwägungen 1948 mitgeschaffenen Staat Israel.

Auswanderung verboten

1928 war die Gründung der jüdischen autonomen Provinz Birobidschan an der sibirisch-mandschurischen Grenze (eine Gegend, in der das Mittelalter die Völker Gog und Magog lokalisiert hatte) beschlossen und 1934 durchgeführt worden, um die zionistische Bewegung in der UdSSR durch ein „Gegenpalästina“ abzufangen. Als jedoch dieses Experiment, das den Juden nur ein neues Exil geworden wäre, bald gescheitert war, unter anderem an den klimatischen Verhältnissen und am Widerstand antijüdischer Kommunisten — was die Sowjetunion nicht hinderte, dieser Provinz im September 1967 (!) „für den Erfolg der Arbeiten auf kulturellem und landwirtschaftlichem Gebiet“ den Lenin- Orden zu verleihen („N. Z. Z.“,

2. 10. 1967) —, vermeinte Stalin, daß sich alle Juden gegen ihr Judentum und für die Assimilierung entschieden hätten. Doppelte Loyalität war ihm ebenso wie den Antisemiten der Rechten unvorstellbar. Das Interesse vieler Juden an einem eigenen Staat in Palästina war eine permanente Beleidigung des Regimes, ein Skandal, der den sowjetischen Staat in Frage stellte. Daran hat sich auch 1968 nichts geändert. Den Juden der UdSSR ist die Auswanderung nach Israel verboten; ihre Assimilierung in der Sowjetunion erschweren antisemitische Ressentiments.

Ähnlich, aber prekärer ist die Lage der Juden in Polen, obwohl sie hier nach Hitlers „Endlösung“ auf eine verschwindende Minorität von etwa 30.000 zusammengeschmolzen sind. Auch hier gibt es derzeit zwar keine unmittelbare physische Bedrohung, aber doch Benachteiligung im wirtschaftlichen und kulturellen Leben, Denunziation und offene antisemitische Propaganda: „Wir werden ihr Schicksal regeln, so wie Hitler es getan hat. Gott selbst hat Hitler gegen die Juden gesandt“ („Pro Prostu“, 6. 1. 1957). Die Existenz und Ursachen dieses, auch nach 1945 noch weiterwirkenden Antisemitismus aufgezeigt und ihn nach 1956 eingeschränkt zu haben, ist das Verdienst polnischer Reformkommunisten um Parteichef Gomulka.

Heute jedoch, nach dem Junikrieg

1967 und vor allem nach den Studentenunruhen im März, sieht sich Gomulka einer einflußreichen stalinistischen Gruppe im Staatsapparat unter Führung des Innenministers Moczar, er ist nicht zufällig mit dem Polizeichef der Stadt Kielce identisch, der untätig zusah, als es 1946 zu blutigen Pogromen kam („Spiegel“, 15. 4. 1968), gegenüber. Diese nationalistische Gruppe benützt in ihrer Propagandakampagne gegen ihre Gegner, liberale Intellektuelle und Studenten, einen rabiaten Antizionismus — Zionisten sind potentiell alle Juden, da es keinen offiziell gestatteten Zionismus gibt — und den alteingefressenen,

aus katholischen und polnisch-nationalistischen Quellen stammenden Antisemitismus im Volke. Ein großer Teil der gemaßregelten, abgesetzten 8000 Parteimitglieder, 36 Spitzenfunktionäre, sieben Hochschulprofessoren und 34 Studenten sind

Juden, die über den Umweg des Zionismus der Verbreitung „totaler sittlicher Verderbnis und Demoralisierung“, der „Zersetzung des polnischen Volkes“ beschuldigt werden.

Polens Feldzug des Hasses

Wie groß die Gefährdung der Polen jüdischer Herkunft in allerjüngster Zeit geworden ist, soll abschließend ein durchaus in nationalsozialistischen Traditionen stehender Artikel des kommunistischen Publizisten Karol Badziak demonstrieren: „Die Polen sind keine rachsüchtige, sondern eine gerechte Nation. Doch wir können nicht gestatten, daß der Staat, der tausend Jahre Über dauerte, an der Schwelle des zweiten Millenniums einiger tausend zionistisch-reaktionärer Saboteure wegen Selbstmord begeht. Daß sie sich mit Schlachtzizen- und Hetmans- Namen (Namen des polnischen Landadels und der Kosakenführer la Anmerkung des Verfassers ) geschmückt haben, heißt noch keinesfalls, daß sie die Nation befehligen dürfen… Die Volksmassen haben eine heilige Geduld, doch wenn sie einmal in Zorn geraten, dann wehe diesen Schurken!“ („Dziennik Lodzki“, 5. 6. 5. 1968.)

Für den Österreicher können diese Vorgänge in der kommunistischen Welt allerdings kein Alibi liefern, sich von der eigenen, brüchigen Vergangenheit und Gegenwart abzuwenden, beweisen doch zum Beispiel gerade die Reaktionen auf das jüngste Buch Friedrich Heers, in welchem Ausmaß der Antisemitismus auch hierzulande überwunden ist.

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