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Junger Mann in der Rue Rivoli

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Nicht nur politische Freunde und Fachkollegen des französischen Wirtschafts- und Finanzministers sehen in Valery Giscard d’Estaing den potentiellen Nachfolger des Generals de Gaulle; auch auf der Linken wird man sich immer mehr dessen bewußt, daß in einer Epoche, deren Schicksal von hervorstechenden Persönlichkeiten — und erst in zweiter Linie von parlamentarischen und parteipolitischen Kombinationen — bestimmt wird, die geniale Einzelerscheinung des gegenwärtigen Chefs der Rue de Rivoli beträchtliche Aussichten hat, an die Spitze des Staates zu rücken.

Das Phänomen Giscards d’Estaing 1st deshalb so beachtlich, weil der Minister hinsichtlich seiner politischen Überzeugung als Nichtgaullist abgestempelt ist und in manchen Gebieten den Konzeptionen und Praktiken des Generals kritisch gegenüberstehen soll. Seine engsten Vertrauten unterziehen sich nichtein- einmal der Mühe, diesen Tatbestand zu dementieren. Beide seien — als geborene Empiriker — zu wesensgleich, um sich gegenseitig zu mögen: Aber schließlich gäben nicht persönliche Gefühle den Ausschlag, sondern die Interessen der Nation. Der General wisse, daß er in Giscard d’Estaing nicht nur den unentbehrlichen Vertreter eines Fachressorts habe, sondern, neben Ministerpräsident Pompidou, das überragendste Regierungsmitglied schlechthin.

Begabung, Ehrgeiz, Glück

Der Minister gehört — mit seinen heute 38 Lebensjahren — in der Tat zu jenen seltenen „Wunderkindern”, deren schwindelnde Karriere dem Zusammentreffen dreier Faktoren zu verdanken war — geniale Begabung, überragender Ehrgeiz und eine hohe Portion von Glück. Schon als Fünfzehnjähriger beschloß er, die Aufnahme in die Ecole Poly technique und in die Finanzinspektion zu erringen und später Ministerpräsident zu werden. Seine Studiengenossen in der polytechnischen Hochschule erinnern sich, daß er dort mehrmals schlicht erklärt habe: „Ich werde Staatspräsident…” Die ersten Etappen seines Programms vermochte er mit unheimlicher Präzision zu realisieren: 1946 erhielt er das Diplom des Polytechnikums, 1949 beendete er seine Studien an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften. 1952 wurde er Inspektor der Finanzen und 1954 stellvertretender Kabinettschef des damaligen Ministerpräsidenten und Finanzministers Edgar Faure. 1956 trat er als auf die Liste der „Unabhängigen” Pi- nays gewählter Abgeordneter ins Parlament ein und wurde 1959 Staatssekretär im Finanzministerium im Kabinett Michel Debrė, wo er anfangs als „rechte Hand” des Finanzministers Antoine Pinay und später als die dessen Nachfolgers Wilfried Baumgartner wirkte. Als Baumgartner zurücktrat, wurde er — 35jährig — selbst Finanzminister.

Die linksstehende Wochenschrift „L Express”, die Giscard d’Estaing vor einigen Wochen eine gut dokumentierte Biographie widmete, ging davon aus, daß die Karriere eines Politikers zu 70 Prozent vom Glück bestimmt sei, während sich die restlichen 30 Prozent auf Intelligenz und Ausdauer verteilten. Das Glück des jungen Finanzministers sieht das Blatt in der ihm vorher gebotenen Möglichkeit, im Kielwasser Faures und Baumgartners zu fahren und schließlich da zu sein, als Baumgartner das Kabinett verlassen habe. De Gaulle habe sich dann für den intelligenten jungen Mann entschlossen, zumal er dem Regime gut die Hälfte der Unabhängigen einbrachte.

Die Rechte denkt an „Nachher”

Viele seiner Parteifreunde haben es ihm nicht verzeihen können, daß er 1962 mit der Übernahme der Führung des „gaullistischen Flügels” der Unabhängigen praktisch eine Zweiteilung der Partei vollzogen hat. - Doch hier bahnt sich in der letzten Entwicklungsperiode ein interessanter Prozeß an: Innerhalb der parlamentarischen Gruppen der Unabhängigen in der Nationalversammlung und im Senat nehmen die „Giscardisten” progressiv an Zahl und Einfluß zu. Sie haben sich das Ziel gesetzt, die gesamte Partei dem Finanzminister anzunähern, um ihm auf diese Weise den Weg für die Führung der klassischen gemäßigten Rechten zu ebnen. Dieser Prozeß ist um so beachtlicher, als sowohl Gaullisten wie rechtsstehende Nichtgaullisten ernsthaft an die Bildung eines Dammes gegen die sich vorbereitende Flut der Linken — das Gespenst einer kommunistisch-sozialistischen Volksfront ist noch immer nicht gebannt — zu denken beginnen. So wurde kürzlich ein rechtsstehender Antigaullist, Jean Legaret, mit den Stimmen der Gaullistenpartei UNR zum Präsidenten des Pariser Stadtrats gewählt, während bei den letzten Kantonalwahlen der antigaullistische Besitzer der Zeitung „Meridional” die Stimmabgabe für die Listen der Rechten, mit Einschluß der Gaullisten, empfahl, um einen Sieg der Linken zu verhindern.

Da der Gaullismus über keine Doktrin verfügt und in der neueren Geschichte Frankreichs eine aus zeitlichen Notwendigkeiten geborene Episode darstellt, wird man die Sorge der Rechten, auch nach de Gaulle an der Macht zu bleiben, -verstehen. Wieder tritt der Gedanke einer „großen konservativen Partei”, die einst Michel Debrė als Ideal vorschwebte, stärker in den Vordergrund der politischen Überlegungen. Und da Antoine Pinay nahezu 73 Jahre alt ist, steht die Auseinandersetzung um seine Nachfolge zwischen den beiden Auvergnaten Georges Pompidou und Valėry Giscard d’Estaing vor der Tür. Freilich verschweigen die „Giscardisten” nicht, daß sie im jugendlichen Alter des Finanzministers ein gewisses psychologisches Hindernis erblicken, die Führung der Regierung oder gar des Staates zu übernehmen.

Die Stunde des „Dauphin”

Aber wenn sie sich auch keine großen Illusionen für die unmittelbare Zukunft machen, so trösten sie sich mit der Tatsache, daß ihr Kandidat durchaus in der Lage sei, seine Stunde in Ruhe abzuwarten. Konkret stellt man sich in der unmittelbaren Umgebung des Ministers die.

Einige Fragezeichen

Freilich wird dieser Erfolg weitgehend vom Gelingen des Stabilisierungsplans abhängen, für den er mit seiner Person eintritt. Hier gibt es freilich einige Fragezeichen: Zwar ist es dem Minister gelungen, die Inflation abzubremsen, ohne die Expansion aufzuhaltęn. Aber -, das Außenhandelsdefizit steigt in bedrohlichem Maße, die Spannung auf dem Arbeitsmarkt konnte Lohnerhöhungen nicht verhindern, die Selbstfinanzierung der Unternehmen und Privatinvestitionen geht zurück. Das Kapital stagniert und vermag nur im Baugewerbe etwas zu bringen. Die Forderung nach Steuererleichterungen von seiten der Unternehmer wird immer lauter, und die Kritiken der Bankiers werden immer heftiger.

Doch der Minister trägt Gelassenheit zur Schau. Er improvisiert auf kurze Sicht mit Hilfe der jeweils gegebenen Möglichkeiten.

Im „Sichdurchwursteln” von einem Tag zum anderen ähnelt er seinem Lehrmeister Edgar Faure und sogar dem alten Dr. Hjalmar Schacht, der in der jeweiligen Bewältigung von Schwierigkeiten und Engpässen für die nächsten 24 Stunden das eigentliche Genie eines Finanzministers erblickte. Nicht bevorstehenden Ereignisse wie folgt vor: Sollte sich General de Gaulle 1965 zum Rüdetritt entscheiden, so würde er mit großer Wahrscheinlichkeit Pompidou zu seinem Nachfolger vorschlagen. Damit wäre die Wahl des jetzigen Premierministers zum Staatspräsidenten so gut wie gesichert. Als zweite Möglichkeit wird angenommen, daß der General sich zu einer Weiterführung des Staates für die Dauer von drei oder vier Jahren entschließt. Nach Ablauf dieser Frist würde er den fähigsten seiner Mitarbeiter zum „Dauphin” machen. In diesem Falle hätte Giscard d’Estaing die meisten Chancen.

Auf den ersten Blick mag die Hypothese kühn anmuten. Bei näherem Hinsehen besticht sie jedoch durch ihre Logik. Giscard d’Estaing brauchte sich im Kabinett als Fachminister nicht im gaullistischen Sinne zu engagieren. Es fehlt ihm auch — dank seiner politischen Virginität — das in der französischen Öffentlichkeit so belastende Etikett der Zugehörigkeit zu einer Regierung der Dritten oder Vierten Republik. Wie de Gaulle ist Giscard d’Estaing ein empirischer Politiker — ohne Dogma, ohne festumrissene Grundsätze, ohne Planungen auf weite Sicht. Er ist ein Mann der unmittelbaren Aktion, der Eingebung des Augenblicks. So hat er seinen Freunden in aller Offenheit erklärt, daß er an den langfristigen französischen Wirtschaftsplan (hierzulande einfach „plan” geheißen) überhaupt nicht glaube, sondern in ihm nur eine „Affiche” sehe. Er ist niemals Sklave einer gleichwie gearteten Doktrin oder eines politischen Glaubensbekenntnisses. Das Finanzministerium ist für ihn nur eine Etappe auf der Stufenleiter des Erfolges.

wirtschaftliche Prognosen bestimmen sein Handeln, sondern der Imperativ der Anpassung. Der Publizist Georges Suffert faßt seine „Philosophie” wie folgt zusammen: Es komme Giscard d’Estaing im wesentlichen darauf an, bis Dezember 1965 jedem Schock auszuweichen, die Exparisibn bis’ dahin „irgendwie” zu halten, um die Klippe des Wahljahres z -umschiffen.’Wae man nach. 1965 unternehme, werde man erst zu jenem Zeitpunkt entscheiden.

Ein Vertrauter des Ministers bestätigte uns später, daß an dieser Darstellung „etwas Wahres” sei. „Genialität”, das ist die immer wiederkehrende Charakteristik, wenn man nach schwer erklärbaren Dingen zu forschen versucht — etwa danach, warum der „junge Mann in der Rue de Rivoli”, ohne ein Arbeitstier ä la Paul Ramadier oder Karl Blessing zu sein, die Dossiers nach kurzem Überblick fast auswendig kennt und die kompliziertesten Vorgänge blitzschnell begreift und automatisch analysiert. Seine Mitarbeiter sind einfach davon fasziniert, wie ihm alles „wie von selbst” zufällt, wie schon in den Hochschulen und in der Ausbildungszeit bei der Bank von Frankreich.

Er führt das Leben eines Grandseigneurs, der es sich scheinbar leisten kann, zu später Vormittagsstunde ins Ministerium zu kommen, viele Leute zu empfangen, geistreich zu plaudern und Zeit zu vertrödeln. Seine Fähigkeit, im Gespräch nicht nur Präzision und Sicherheit zu zeigen, sondern nötigenfalls unbequemen Fragen meisterhaft auszuweichen, ist allgemein bekannt. Dazu Georges Suffert: „Denn in Wirklichkeit ist er weder Techno- krat noch Wirtschaftler, sondern ein brillanter Geist.” Was schließlich seine fachliche Eignung betrifft, so scheint uns bemerkenswert, daß selbst der 85jährige Paul Reynaud, der sonst alle Erscheinungsformen der Fünften Republik mit erdrük- kenden Argumenten in Grund und Boden zu verdammen pflegt, Giscard d’Estaing nichts anderes vorzuwerfen wußte als seine Jugend. Im übrigen bedauerte Paul Reynaud seinen Nachfolger, dessen Bewegungsfreiheit — wie der „Große Alte Mann” sagte — auf Grund weit zurückliegender Versäumnisse jedenfalls stark eingeschränkt sei.

Das große Handicap: Kontaktarmut

Eine Eigenschaft des Finanzministers allerdings bereitet manchen seiner Anhänger, die ihn gern an der Spitze des Staates sehen möchten, einiges Kopfzerbrechen. Das ist seine persönliche Kälte und Kontaktarmut gegenüber dem Volk. Er ist ein typischer Einzelgänger, dem die Masse nicht liegt, aber dem es auch schwerfällt, persönliche Freundschaften zu schließen. Er hat zwar in diesem Jahr einige Konzessionen an die „Public relations” gemacht; und es ist ihm fraglos gelungen, durch einige zur Schau getragene Extravaganzen ins Gerede zu kommen: Man sah Photos von ihm beim Skiwettbewerb und am Steuer seines Privatflugzeugs, das Fernsehen führte ihn bei einem Vortrag im Pullover und ein andermal zeitunglesend in der Holzklasse der Pariser Untergrundbahn vor; und denjenigen „Telespectatoren”, die ihn bei seinem Moskaubesuch im letzten Winter bei grimmigem Frost .ohne Mantel aus dem Flugzeug steigen saheri, läuft bei Nennung keines Namens noch heute ein Kälteschauer über den Rücken. Aber alle, diese Äußerlichkeiten reichen natürlich nicht aus, um den „Mann auf der Straße” wirklich zu gewinnen, der instinktiv die unsichtbare Isolierschicht spürt, die das ehrgeizige „Wunderkind” von ihm trennt.

Wird Giscard d’Estaing auch dieses Hindernis überwinden? Einer seiner wenigen Freunde zeigt sich durchaus zuversichtlich: „Versuchen Sie sich zu erinnern”, sagte er uns, „wie de Gaulle 1957 war: kalt, verschlossen und unnahbar. Ich zweifle nicht daran, daß ihm der Kontakt mit den Massen bis zum heutigen Tage physisch unangenehm geblieben ist. Trotzdem kann nicht geleugnet werden, daß er seit drei oder vier Jahren die technische Methode des Verkehrs mit dem Volk gefunden hat. Auch Giscard dürfte die Fähigkeit besitzen, sich in dieser Richtung zu entwickeln …”

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