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Kadar und die Evolution

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Die Regierungsumbildung in Ungarn, die durch Radio Budapest am 13. September bekanntgegeben wurde, ist seit drei Jahren die erste bemerkenswerte Änderung im Führungsmechanismus dieses Landes. Trotzdem wurde sie in den Spalten der großen internationalen Presse gerade nur noch registriert. Die Zeiten, in denen Ungarn Schlagzeilen für die Weltblätter lieferte, sind nun einmal vorbei. Auch das früher oft bemühte „Gewissen der Welt“ blieb diesmal unerwähnt. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß der am ehesten wahrnehmbare Teil dieses Weltgewissens, eben die große Presse, sich von Ungarn nicht mehr sonderlich beunruhigen lassen will, sondern alsbald zur Tagesordnung übergeht — und diese heißt jetzt Deutschland und Berlin —, dann wurde dieser Beweis jetzt erbracht.

Aber, so könnte man einwenden, Deutschland ist nicht erst seit gestern der Tagesordnungspunkt Nr. 1. Das ist wahr, nur daß vor Jahren in der öffentlichen Diskussion neben Deutschland unter anderem auch Ungarn — angesichts der „Disengage- ment“-Pläne eines George F. Kennan und anderer — eine gewisse Rolle spielte, und weiter, daß das Geschehen in Ungarn gewissermaßen auch als Gradmesser für die nähere Erkundung der unstabilen Führungsverhältnisse in der Sowjetunion selbst galt. Die Lage in Ungarn war seit 1953 bis etwa 1958 notorisch unstabil. Ja, man prophezeite, etwa auf dem Höhepunkt dieser krisenhaften Zeit, an Hand der ungarischen Ereignisse den „Anfang vom Ende“ des Weltkommunismus. Zu denen, die derlei voraussagten, gehörte immerhin — man erinnere sich — auch ein Milovan Djilas. Das sei ganz ohne Bitterkeit und ohne die selbstquälerische Schadenfreude des Pessimisten registriert, eben als Tatsache, die in das damalige und seither veränderte Gesamtbild zu stellen ist und dort auch hineinpaßt.

Kädär und Chruschtschowsiatfrbmrir.

Ärndelten die Abgesandten des Kremls, Mikojan und Suslow, in wenigen Tagen zum zweitenmal mit den vorhandenen Führungskräften in Budapest. Waren ihre Gesprächspartner am 24. Oktober noch Gero und Hegedüs, so saßen sie am 31. Oktober bereits dem Quartett Imre Nagy, Kädär, Münnich und Tildy gegenüber. Draußen fieberte das kaum seiner neuen Freiheit bewußt gewordene Land neuen Krisen entgegen. Im Verhandlungszimmer teilten Mikojan und Suslow in kühlem, sachlichem Ton den ungarischen Politikern mit, daß die Sowjetunion bereit sei, ihre Truppen aus Ungarn abzuziehen, unter der Bedingung, daß Ungarn seinen Verpflichtungen, die es im Rahmen des Warschauer Paktes übernommen habe, treu bleibe. Imre Nagy, dem der „revolutionäre Verteidigungsrat“ Ma- leters und Kiralys niemals gehorcht hätte, konnte die verlangte Zusicherung nicht geben. Und das bedeutete das frühe Ende einer vielleicht nur als Möglichkeit vorhandenen Richtung, die zum realen „Disengagement“, zur militärischen Entflechtung in Mitteleuropa, geführt hätte. Ungarn wurde ein — wohl bedauernswerter — Einzelfall.

Kädär war in dieser schicksalsschweren Stunde nur ein Statist. Als er sich einige Tage später zum Handeln entschloß — indem er sich bereit erklärte, das militärische Eingreifen der Sowjetunion zu decken und unter dem Schutz der Sowjettruppen eine Konsolidierung der Lage herbeizuführen —, da stand er gewiß noch unter dem Eindruck der überraschend „weichen Haltung“ der Moskauer Politiker. Und er rechnete gewiß noch eine Zeitlang mit einer Entwicklung, die den Sowjets den damals mehrfach angekündigten Abzug der Truppen aus Ungarn ermöglicht hätte. Es traf — auf der Weltbühne und in Ungarn — genau das Gegenteil ein. ln Ungarn hat sich wohl die Lage beruhigt. Vor allem auf dem wirtschaftlichen Sektor konnte man im Laufe der letzten fünf Jahre eine langsame Besserung der Verhältnisse feststellen. Eine gewisse Liberalisierung und die Abschaffung des früheren Terrorsystems vor allem innerhalb der kommunistischen Führungsgremien selbst führten dazu, daß man im Kreml heute mit der Lage in Ungarn wohl zufrieden sein kann. Chruschtschow stützt Kädär nach wie vor und betrachtet ihn allem Anschein nach als einen brauchbaren Verbündeten bei der Durchführung seiner globalen Pläne. Nur vom Truppenabzug ist keine Rede mehr.

Nun hat Ungarn die völlige Einschmelzung der Regierungsorgane in die Staatspartei — genannt „Sozialistische Arbeiterpartei“ — mit einigem Abstand nach der Sowjetunion, dem Ulbricht-Regime und den meisten übrigen Ostblockländern ebenfalls vollzogen, obwohl selbstverständlich auch in Ungarn hinsichtlich der Machtverhältnisse nie ein Zweifel bestanden hatte. Änderungen wie diese hatten jedoch im Sowjetbereich schon immer einen tieferen Sinn, weil sie jeweils die Lockerung oder Festigung der Kräfte genau registriert haben.

Der Schwerpunkt liegt in der Wirtschaft

Der Rücktritt des immerhin 75jährigen Altkommunisten Ferenc Münnich läßt die Rückkehr Kädärs auf den Posten des Ministerpräsidenten einigermaßen natürlich erscheinen — was ihm wahrscheinlich willkommen ist. Gleichzeitig, um vielleicht auch den ungünstigen Eindruck im Westen abzuschwächen, entließ Kädär den zweiten großen Alten aus der Moskauer Emigration, Professor Sik, und machte zum Außenminister den „parteilosen“ Jänos Peter, der in den Revolutionstagen seine hohe kirchliche Funktion in der kalvinistischen Kirche Ungarns niederlegen mußte und seither als stellvertretender Außenminister und UNO-Delegierter seine Beziehungen in den angelsächsischen Ländern zugunsten einer „Rehabilitierung“ des Kädär-Regimes durch die Vereinten Nationen ins Spiel bringen sollte. Es ist damit zu rechnen, daß er diese seine Bemühungen nunmehr verstärkt fortsetzen wird.

Wichtiger sind die anderen Ände- runeeru.iMit .Antai Apro und- Gyula

Kaliai — der eine war Räkosis Wirtschaftsexperte, der zweite in derselben Zeit als Nationalkommunist zusammen mit Kädär größtenteils in Haft, seit 1957 Kulturminister —, die bisher als Erste Stellvertreter des Ministerpräsidenten fungiert haben, wird es in Zukunft vier Stellvertreter und keinen „Ersten“ mehr geben: neben den Genannten noch einen anderen Spezialisten in Wirtschaftsfragen, Jenö Fock, und schließlich den engen Freund Kädärs, Bela Biszku, der sich allerdings bisher als Innenminister nicht sonderlich bewährt haben soll. Die Besetzung des Unterrichtsministeriums durch einen politischen General und früheren Lehrer, Päl Ilku, der Frau Valeria Benke auf diesen Posten folgt, hat, gegenüber der vorgenommenen Umgruppierung an der Spitze, ebenso nur interne, von nicht Eingeweihten kaum wahrnehmbare Bedeutung, wie etwa die Aufnahme des Verteidigungsministers Lajos Czinege in das Politbüro der Partei als „Kandidat“ und wie dergleichen Subtilitäten und leise Kräfteverschiebungen mehr noch sind.

Gleichzeitig mit der Regierungsumbildung wurde verlautbart, daß das Zentralkomitee aus „Sorge um den Schutz der sozialistischen Errungenschaften und der friedlichen schöpferischen Arbeit des Volkes“ beschlossen habe, im neuen Fünfjahrplan die vorgesehenen Investitionen um zehn Prozent zu kürzen und dafür die militärischen Ausgaben auf insgesamt 25 Milliarden Forint zu erhöhen. Das bedeutet nach westlichen Schätzungen ein jährliches Militärbudget von 8,5 Milliarden Schilling —

Westliche Beobachter weisen darauf hin, daß die Erhöhung der Rüstungsausgaben eine wohl spektakuläre Maßnahme der ungarischen Staatsführung darstellt, die aber im Grunde kaum etwas anderes als eine Kürzung der Investitionen ist, für welche die Kraft der ungarischen Wirtschaft eben nicht mehr ausreicht. Neben anderen strukturell! ‘üSchwädheft’J ‘Her• düfeh- poli tische Dogmen arg belasteten ungarischen Wirtschaft zeigt eine akute Lebensmittelkrise, wodurch auch der ungarische Außenhandel in Verlegenheit gebracht wurde, daß der gewaltsame Kollektivierungsprozeß der letzten Jahre nicht ohne Folgen geblieben ist. Die „jüngere und tüchtigere Mannschaft“, die ihre Reihen noch enger um den Ersten Sekretär der Partei und nunmehrigen Ministerpräsidenten Jänos Kädär schließt, soll nun Abhilfe schaffen.

Wirtschaftswachstum und Lebensstandard: diese beiden Worte oder, wenn man will, Götzen, die wohl auch in der nichtkommunistischen Welt zu den unerläßlichen fixen Größen in jeder Rechnung gehören, sagen freilich mehr von den tatsächlichen Sorgen auch der Führerschaft in Ungarn als alle Beteuerungen der Verteidigungsbereitschaft und der Friedensliebe aus. Die vielzitierte Evolution, die nach der gescheiterten Revolution des Jahres 1956 von vielen als der tatsächlich gangbare Weg zur Befreiung der in Osteuropa lebenden Menschen dargestellt wurde, fand, wie die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, bisher wohl keineswegs auf politischem Gebiet, jedoch, wenn auch bruchstückhaft, auf einzelnen Gebieten der Wirtschaft statt. Manche Dogmen und Vorstellungen wurden da in aller Stille beiseite gelegt. Es ist zwar zum Beispiel nicht zu einer Etablierung von Arbeiterräten gekommen, die, im Sinne einer gewissen marxistischen Utopie, die tatsächliche Macht in den Betrieben und im „absterbenden Staat“ übernommen hätten, der Arbeiter lebte aber mit seiner Familie auch in Ungarn um einige Grade besser und fühlte sich dadurch ein wenig freier. Vielleicht sollte es damit, nach den erwähnten Beschlüssen, nun anders werden. Aber heute, zwischen gestern und vielleicht morgen, besitzt er einige Freiheiten, wenn auch nicht d i e Freiheit, und es ist sicher, daß er sich mit Kümmerformen der Freiheit nicht lange zufriedengeben wird. Ob eine Evolution auch hier einsetzen kann oder ob die Unfreiheit wieder in nackten Terror umschlägt, das hängt gewiß nur zuallerletzt von dem Mann namens ‘ Jänt ‘Kädär ab:

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