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Kädär heulte wie ein Hund

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Staatspräsident Göncz hat am 6. Juni in Budapest ein Denkmal Imre Nagys enthüllt. Wer war dieser Mann, den das Kädär-Regi-me 1958 hängen ließ?

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Staatspräsident Göncz hat am 6. Juni in Budapest ein Denkmal Imre Nagys enthüllt. Wer war dieser Mann, den das Kädär-Regi-me 1958 hängen ließ?

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Die Szene war gespenstisch: Budapest, 10. November 1956, das Botschaftsgebäude der Sozialistischen Republik Jugoslawiens in der unmittelbaren Nähe des Stadtparks war durch sowjetische Panzer rundherum gesichert. Sowjetische Militär- und ungarische Staatssicherheitsdienst-Streifen auf den Trottoirs.

Innerhalb des Hauses, im großen Empfangsraum der Botschaft, seit beinahe einer Woche als sogenannte „Gäste” - eigentlich in einer „Mausefalle” - die politische Gruppe um Imre Nagy, vor kurzem noch das Führungsgremium des revolutionären Ungarn.

Imre Nagy, 60 Jahre alt, Bolschewik seit 1918, Berufsrevolutionär, Agrarwissenschaftler und Politiker, Widersacher des abgewirtschafteten blutrünstigen Diktators Mätyäs Rä-kosi (1892-1971), Verfechter eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz, saß voller Zweifel mitten im Raum, umgeben von seinen Getreuen. Man schiebt ihm ein Schriftstück in die Hände - soeben von einem ungarischen Stasi-Offizier abgegeben. Alle Anwesenden wissen, was darin steht: Die mit sowjetischen Bajonetten gestützte Kädär-Gruppe (offiziell: „Ungarische Revolutionäre Arbeiterund Bauern-Regierung”, bestehend aus acht bis zehn Personen) läßt Nagy wissen, er müsse auf dieses Schriftstück lediglich seinen Namen setzen und damit wäre die leidige „Affäre” um ihn und seine Genossen zu Ende. Ja, er könne sogar in die Kädär-Re-gierung eintreten - als Agrarminister. Er müsse nur auf dem Schriftstück bestätigen, daß die letzten läge des Volksaufstandes ein politisches Chaos hervorgerufen hätten, eine Konterrevolution im Gange gewesen wäre, die Ungarn aus dem sozialistischen hätte herausreißen sollen - also Lügen über Lügen. Kädär schlug also Nagy vor: Wenn ihm die Rettung des Sozialismus in Ungarn am Herzen liege, so sollte Nagy wegen der obgenannten Grüne seine Demission als Regierungschef - zurückdatiert auf den 3. November 1956 - jetzt unterzeichnen. Chruschtschow benötigte diese Unterschrift, um vor der aufgebrachten westlichen Öffentlichkeit - einschließlich der UNO - den „Beweis zu erbringen, Nagy habe seine fehlerhafte Politik eingestanden und räume freiwillig den Platz für Kädär und seine Regierung. Der Machtwechsel in Ungarn - in Wirklichkeit am 4. November 1956 durch die sowjetische Militärintervention vollzogen - wäre damit legitimiert worden.

Nagy las das Schriftstück immer wieder. Einige seiner Vertrauten, alles Kommunisten, nicht wenige davon 1945 aus der tiefen Illegalität der ungarischen KP hervorgegangen, hätten es gerne gesehen, wenn Nagy mit seiner Unterschrift das von den Sowjet zu erwartende bittere Schicksal für die Nagy-Gruppe aus der Welt geschaffen hätte. Imre Nagy stand vor dem Dilemma seines Lebens. Wenn er Ja sagte, verriete er Ungarns Aufstand und seine eigenen politischen Prinzipien, die damals nicht mehr identisch mit unbedingter Parteitreue waren. Lehnte er aber Moskaus Angebot ab, wäre er persönlich verloren. Augenzeugen der Szene in der Jugoslawischen Botschaft in Budapest sagten mir später: Nagy sei in einem Fau-teuil gesessen, habe Kädärs Schriftstück in den Händen gehalten und, tief in Gedanken versunken, gemurmelt: „Sie wollen mich töten!”

Dann habe er sich zusammengenommen und einen Entschluß gefaßt, dessen Konsequenzen er als Altkommunist und Zeitzeuge der sowjetischen Praktiken bestens kannte: Er wies Jänos Kädärs Angebot mit energischen Worten zurück. Damit setzte er einen Fuß auf die erste Stufe einer Treppe, die ihn - und nicht nur ihn -aufs Schafott führte.

Am 21. November verließ die Nagy-Gruppe das Botschaftsgebäude, nachdem ihr von Kadar die schriftliche Zusicherung gegeben worden war, sie dürften als Privatpersonen in ihre Wohnungen zurückkehren. Tatsächlich wurden sie, einige hundert Meter vom Botschaftsgebäude entfernt, von sowjetischen Soldaten festgenommen.

Am 22. November wurde die „Gruppe Nagy” (27 Personen, einschließlich Frauen und Kinder) mit sowjetischen Flugzeugen von Budapest nach Bukarest gebracht. In der Nähe der rumänischen Hauptstadt, in einem ehemaligen Lustschloß von

König Michael I. in Snagov, wurde sie untergebracht. Noch „standesmäßig”. Später stellte sich heraus, daß die Wände des Schlosses voll von elektronischen Wanzen waren und das rumänische Hauspersonal perfekt ungarisch verstand. Die rumänischen Hausherren - alle Agenten der Secu-ritate - versuchten nun, allerdings mit wenig Erfolg, die Gruppenmitglieder gegeneinander auszuspielen.

Im Jänner 1957 schickte Kädär einen seiner Palladine, den drittrangi-gen Parteifunktionär Gyula Källai (1990 in Budapest im Alter von 80 Jahren gestorben) nach Snagov. Er sollte Nagy doch bewegen, kommunistische Selbstkritik zu üben, wegen seiner Rolle in der „Gegenrevolution vom Oktober 1956”, sowie öffentlich völlige Reue bekunden. Nagy schlug das Angebot aus.

Anfang März 1957 begab sich Kädär nach Moskau. Er konferierte dort mit dem Politbüro von Chruschtschows Parteispitze. Hier wurden die Weichen für die künftige ungarische Politik gestellt. Chruschtschow, der bis jetzt Kädär an der Spitze der ungarischen KP lediglich als eine Übergangslösung betrachtet hatte, gab zugunsten dieses Mannes alle anderen Lösungen auf. Räkosi und Konsorten wurden endgültig fallengelassen. Die Wiederherstellung und Entwicklung der sozialistischen Ordnung in der ungarischen Volksrepublik blieb von nun an Sache Jänos Kädärs.

Räkosi durfte nicht einmal als Privatmann nach Ungarn zurückkehren. Er starb in Gorkij im Februar 1971 verbittert und einsam. Zu Imre Nagy wurde Mitte April 1957 eine Gruppe des reorganisierten ungarischen Staatssicherheitsdienstes, angeführt von Oberst Rajnai (der angeblich noch immer in den USA lebt), gesandt. Er und etliche seiner Freunde wurden nun auf rumänischem Boden im Namen der ungarischen Volksrepublik verhaftet und geheim in ein Gefängnis in Budapest eingeliefert. Dort wartete Nagy nun auf sein weiteres Schicksal. Kädär wollte ihn zum Schweigen bringen.

Im August 1957 faßte man in einer geheimen Plenarsitztung der ungarischen KP den Beschluß, Nagy und seine engsten Mitarbeiter vor einen „Volksgerichtshof” zu stellen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten diese Volksgerichtshöfe bereits 125 Todesurteile für junge Aufständische ausgesprochen, sie waren auch vollstreckt worden. Zehntausende saßen wegen 1956 im Gefängnis. Kädärs Terror übertraf alle früheren Vergeltungsmaßnahmen, die in der ungarischen Geschichte überhaupt bekannt worden sind. Allenfalls kann man sie dem Verfolgungswahn der ungarischen Nazis 1944 gleichsetzen.

Das „Volksgericht” wurde Ende Jänner 1958 konstituiert. Staatsanwalt, Richter und Reisitzer waren hartgesottene Bolschewiki. Hier wollte man Klassenkampf praktizieren. Das Urteil stand von vornherein fest. Präsident des „Volksgerichtes” war ein gewisser Rado: Seit 1957 hatte er schon 19 junge Freiheitskämpfer an den Galgen gebracht. Kaum hatte er jedoch den Nagy-Prozeß Anfang Februar 1958 in die Hände genommen kam aus Moskau das Stopp. Chruschtschow wollte in diesem Monat in Camp David mit Präsident Eisenho-wer zusammentreffen und neue Modalitäten der Koexistenz besprechen. Ein Todesurteil gegen Nagy hätte die moralische Position des Kremlchefs geshwächt.

Im April 1958 besuchte Polens Wladyslaw Gomulka Kädär in Budapest. Gomulka lag das Schicksal Nagys immer am Herzen. So erkundigte er sich auch diesmal nach der Zukunft dieses Mannes. Kädärs Antwort: „Als der Nagy-Prozeß aktuell war, waren wir nicht genügend stark. Jetzt, da wir genügend stark sind, ist der Prozeß nicht mehr aktuell.” Go-mulka glaubte Kädärs Antwort zu verstehen: Nagy wird nicht hingerichtet. Nach einigen Jahren Kerker kommt er auf freien Fuß - weit gefehlt.

Im Mai 1958 erlitt die ohnehin seit Monaten brüchige sowjetisch-jugoslawische Freundschaft (vorübergehend) Schiffbruch. Chruschtschow, im Bewußtsein, daß er mit Nagys Affäre Tito bis aufs Blut ärgern könne, gab den Ungarn Anweisung, sofort den Prozeß gegen Nagy und Freunde wieder aufzunehmen.

Am 8. Juni wurde nun in der Budapester Fö utca - Staatsanwaltschaft, Untersuchungsgefängnis - der Prozeß eröffnet. Imre Nagy, Verteidigungsminister Päl Maleter und der Reformkommunist Miklös Gimes wurden nach einigen Tagen „Verhandlungen”, die geheim gewesen waren und eine juristische Farce darstellten, zum Tode verurteilt. Andere Angeklagte erhielten hohe Freiheitsstrafen. Die Urteile wurden am Sonntag, 15. Juni verkündet. Die Hinrichtungen fanden in Budapest frühmorgens am 16. Juni statt. Die Hauptangeklagten zeigten keine „Reue”. Imre Nagys letzte Sätze vor dem Galgen sind heute bekannt. Er ließ das ungarische Volk und seine Heimat hochleben und sagte ferner: „Mein Prozeß ist mit meinem Tod nicht zu Ende.”

Erst am 17. Juni wurde das Urteil über Nagy und Freund publik gemacht. Die ganze Welt trauerte über den Tod dieser Männer. Kädär schwieg. Eine Zeitlang wurde die Hinrichtung der Freiheitskämpfer eingestellt. Im Herbst 1958 aber ließ Kädär seinen Rachegefühlen wieder freien Lauf: Bis August 1961 wurden weitere 244, meist junge, Freiheitskämpfer gehängt.

Am 16. Juni 1989 erhielten Nagy und zwei Mitgehängte in Budapest ein würdiges Begräbnis. Der 1988 abgelöste Parteichef Kädär, in seiner Villa eingesperrt, verfolgte die Zeremonie übers staatliche Fernsehen und heulte - nach Augenzeugen - wie ein geschlagener Hund. Jetzt haben Ungarn Imre Nagy, als ungarischem Patrioten, ein Denkmal gesetzt.

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