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Kampf nach zwei Seiten

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Der Parteitag der SPD in Hannover vom 21. bis 25. November kann ein Wendepunkt in der deutschen Politik werden. Mit dem einstimmig gewählten Kanzlerkandidaten Willy Brandt besitzt die SPD, wie seine Schlußansprache bewies, einen Mann, der eine echte Alternativlösung zu Konrad Adenauer darstellt. Der Parteitag zeigte allerdings auch, daß in erster Linie der Mann und nicht die Partei diese Alternativlösung entwickelte. Die Bundestagswahl von 1961 wird daher ganz im Zeichen der beiden Persönlichkeiten Adenauer und Brandt stehen.

Die Erhebung Willy Brandts zum Kanzlerkandidaten der SPD stellt innerhalb dieser Partei eine grundlegende Wandlung dar, die allerdings, wie die Rede Ollenhauers am zweiten Tag des Parteitages zeigte, noch nicht endgültig zu sein braucht. Bisher war die Bundespolitik der SPD von einem Funktionärsapparat der Partei geleitet worden, deren Exponent der biedere, rechtschaffene, aber im Grunde doch recht hausbacken-unpolitische Erich Ollenhauer war. Die wirklichen politischen Größen dieser Partei, wie Ernst Reuter, Högner, Kaisen, Brauer, Carlo Schmid, Heinemann, Zinn oder Brandt, hatten bestenfalls in der Landespolitik etwas zu sagen gehabt. Von der Bundespolitik wurden sie konsequent ferngehalten. Das von den Funktionären dieser Partei streng gehütete System der negativen Auslese ließ die SPD für Konrad Adenauer zur idealen Opposition werden: Sie war rechtschaffen, aber töricht und ging in alle Fallen, die der parlamentarisch so versierte Bundeskanzler ihnen stellte.

Auf dieser bequemen Straße politischer Unfähigkeit bedeutete die Niederlage von 1957 eine Wende. Sie brachte den Funktionären eine böse Überraschung: Die Unzufriedenheit mit der bisherigen Praxis ließ sich nicht mehr vertuschen. Denn nicht nur, daß breite Kreise der Arbeiterschaft 1957 ihre Stimmen der CDU gegeben hatten, es erhielt auch zum erstenmal nicht mehr der Funktionär Ollenhauer, sondern der bürgerliche Professor Carlo Schmid die meisten Stimmen in seiner Partei. Die Erkenntnis, daß ein radikaler Wandel nötig sei, konnte nicht mehr totgeschwiegen werden. Die Verhandlungen gingen längere Zeit hin und her. 1959 trat schließlich die SPD mit dem Godesberger Programm an die Öffentlichkeit. Darin waren zwar Zugeständnisse an die bürgerlichen Wähler gemacht. Überzeugen konnte dieses Programm aber nicht, da es allzu deutlich die Zeichen eines Kompromisses trug. Der Durchbruch zu einer wirklich neuen Politik erfolgte eTst in diesem Sommer mit der aufsehenerregenden Rede Herbert Wehners in der Bundestagsdebatte vom 30. Juni 1960.

AUS DER SACKGASSE HERAUS

Hatte bisher die SPD eisern an der Verurteilung der Wehrpolitik festgehalten, so kündigte Wehner nunmehr das Ja der SPD zur Aufrüstung an und propagierte eine gemeinsame Außenpolitik. Wehners Rede war ein gefährliches Experiment. Zwar war die Schwenkung durch die gescheiterte Gipfelkonferenz politisch gut begründet, doch trug sie Mißtrauen und Verwirrung in die Reinen der eigenen Partei. Wenn irgend etwas in der SPD als Dogma gegolten hatte, dann das Nein zur Aufrüstung und das auch den kleinsten Funktionär beherrschende

Mißtrauen gegen alles Militärische. Beide Faktoren, Bejahung der Wehrpolitik und der Außenpolitik, führten die SPD aus der Sackgasse heraus, in die sie durch Erich Ollenhauer geraten war. Es war jedem Einsichtigen schon lange klar, daß sich die Bundeswehr nicht mehr abschaffen ließ und daß es in der Außenpolitik, von Detailfragen abgesehen, keine andere Richtung gab. In einer Politik der Prinzipienreiterei werden derartige Erkenntnisse aber meist nicht wahrgenommen. Wehners Bekenntnis zur Bundeswehr und zur außenpolitischen Zusammenarbeit schuf daher eine neue politische Situation. Zum erstenmal hatte die SPD die Initiative an sich gerissen.

Das Echo in den Bezirksverbänden zeigte allerdings sehr bald die Gefahren des neuen Kurses. Die Genossen waren nur zum Teil bereit, diesen Kurs mitzumachen. Ein Zwiespalt tat sich auf, der auf dem Parteitag in Hannover nicht ganz überbrückt werden konnte.

Wehner und Brandt, die Exponenten des neuen Kurses, hatten es gewagt, die Konsequenzen aus drei verlorenen Wahlschlachten zu ziehen: aus der Erkenntnis, daß die SPD nur von rechts Stimmen gewinnen kann, weil seit dem Verbot der KPD die Gefahr einer Abwanderung verärgerter Genossen nach links praktisch nicht mehr besteht, zogen sie den Schluß eines Kurses der „nationalen Zuverlässigkeit“, die den SPD-Kanzlerkandidaten zu einer auch für Bürgerliche akzeptablen Alternativlösung zu Adenauer machen soll. Eingeweihte waren schon im Sommer der Meinung, daß diese Entwicklung Gefahren für die Einheit der SPD bergen könne. Eine Partei, die dreimal hintereinander einen Wahlkampf verliert und beim Neuaufbau eines Staates in der undankbaren Rolle der Opposition verharren muß, ist immer in der Gefahr, auseinanderzufallen. In diesem Jahr hat die Funktionärsclique dem Drängen der politischen Köpfe der Partei nachgeben müssen. Sie war aber nicht bereit, die Mitverantwortung für diesen Kurswechsel zu übernehmen. In dem Gremium, das die neuen Grundsätze ausarbeiten soll, saß von den alten Funktionären nur der schon immer als Außenseiter angesehene Herbert Wehner. Die neue Mannschaft übernahm allein die Verantwortung für den neuen Kurs. Sie wird sie bei einer Niederlage auch allein tragen müssen. Denn wenn noch manch einer der alten Genossen im Angesicht des Sieges bereit ist, die marxistischen Theorien samt Verstaatlichung der Grundindustrien und der antimilitaristischen Einstellung zum alten Eisen zu werfen, so ist doch noch völlig offen, was geschieht, wenn Willy Brandt die Partei nicht zum Siege führt, wenn die billige Parole seiner Gegner in der Partei, der Verrat alter Parteigrundsätze habe an der Niederlage nichts ändern können, der alten Funktionärsclique recht zu geben scheint. Der Bundestagswahlkampf 1961 wird daher nicht nur eine Entscheidung sein, wer künftig in Deutschland regiert, er wird für die SPD auf jeden Fall eine grundlegende Entscheidung über die künftige Entwicklung bringen. Die Gefahr einer Spaltung der Partei im Falle einer Niederlage ist dabei nicht von der Hand zu weisen.

GESCHICKT ODER UNGESCHICKT?

Diese Gefahr scheint den Parteivorsitzenden Erich Ollenhauer am zweiten Tag des Parteitages in Hannover zu seinem vieldiskutierten Alleingang veranlaßt zu haben. Zum Entsetzen von Wehner und Brandt schien Ollenhauer wieder einmal in die ihm vor einigen Wochen von Adenauer gestellte Falle zu tappen. Unter dem Jubel seiner Genossen gab er unbekümmert um den neuen Kurs seine alten Parolen gegen die Atomausrüstung der Bundeswehr zum besten. Erleichtert nahm die CDU davon Kenntnis, die nicht gehofft hatte, eine so zügige Wahlparole frei Haus geliefert zu bekommen.

Über die Bedeutung dieser Rede gehen die Ansichten auseinander. War dies wirklich nur die sattsam bekannte Ungeschicklichkeit Ollenhauers, wie die westdeutsche Presse diesen Schritt deutete? Es gibt viele Anzeichen dafür, daß die

Rede vielleicht der geschickteste Schachzug dieses Parteitages war. Hätte sich Ollenhauer mit Brandt identifiziert, so wäre die Krise nach einer Niederlage 1961 auch auf seine Kosten gegangen. So empfahl er sich in nicht gerade fairer Weise für den Fall einer Niederlage als derjenige, der mit dem neuen Kurs von vornherein nicht ganz einverstanden gewesen sei. An einen Sieg der SPD kann der sonst sowenig kämpfe-lische Ollenhauer seiner ganzen geistigen Struktur nach nicht glauben. Er baut lieber vor und hält sich seine alten Funktionärsgenossen warm.

Die Entscheidung, ob die SPD der alte reaktionär-marxistische Klub bleiben oder wie die CDU eine echte Volkspartei werden soll, ist damit bis nach den Bundestagswahlen vertagt. Brandt weiß, daß er nur mit den Stimmen von rechts seine Wahl gewinnen kann und daß er dazu das deutsche Volk überzeugen muß, die Bundespolitik werde unter einem Kanzler Brandt nicht in den Händen der Funktionäre liegen. Deshalb ließ er in seiner brillanten Schlußansprache keinen Zweifel, daß er sich als Kanzler von den Funktionären den Weg nicht werde vorschreiben lassen. Die alte Frontstellung der Weimarer Republik ist wieder da, in der die politischen Köpfe der SPD wie Otto Braun, Karl S e v e r i n g oder Hermann Müller sich in ständigem Kampf mit ihrer eigenen störrisch-unpolitischen Partei verbrauchten. Willy Brandt muß seinen Kampf gegen zwei Seiten führen: gegen die CDU und die Opposition in den eigenen Reihen. Es ist ein Zeichen seiner staatsmännischen Begabung, daß er dieser Situation nicht auswich, als ihm Ollenhauer in den Rücken fiel. Er zwang mit einer rhetorischen Glanzleistung schließlich die Partei hinter sich, wobei er bewußt gegen Ollenhauers Atomrede das Bekenntnis der Einheit der Partei stellte. Er hat mit seiner Abkehr von der Funktionärspolitik die Voraussetzung für das Vertrauen weiter bürgerlicher Kreise geschaffen, und die CDU/CSU wird sich gegen ihn etwas andere als die gewohnten persönlichen Attacken einfallen lassen müssen. Adenauer wird gegen Brandt beweisen müssen, daß Brandts überzeugend dargebrachte These, der Bundeskanzler sei der ewige Unruhestifter in der deutschen Innenpolitik, nicht richtig ist. Wieweit allerdings seine eigenen Parteigenossen die Obstruktion treiben werden, wird die Zukunft zeigen.

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