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Kampf um ideologische Gleichberechtigung

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So willkommen dem zu dieser Zeit in der arabischen Welt und unter den neutralistischen Staaten isolierten sowie westlicherseits beargwöhnten Abdel Nasser politische Aufwertung und wirtschaftliche Unterstützung sein mußten — die ideologische Gleichberechtigung mit dem kommunistischen Block war ihm wertvoller.

Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme Ägyptens sind im dreizehnten Jahr der Offiziersdiktatur so ungelöst wie vorher. Spätestens seit der fast vollständigen Verstaatlichung ausländischen Besitzes hatte Abdel Nasser vom Westen nur noch wenig zu erhoffen. Rotchina ist selbst noch hilfsbedürftig. Infolgedessen mußte ihm daran gelegen sein, dauernde sowjetische Hilfsbereitschaft sicherzustellen.

War sein Regime öffentlich als „sozialistisch“ im kommunistischen Sinn anerkannt, so, spekulierte er, werde die Sowjetunion es schwerlich noch fallen lassen können.

Ein Schock für Kairo

Chruschtschow vollzog die Anerkennung, und es zeigte sich, daß seine Nachfolger sie nicht rückgängig zu machen wagten. Obgleich der Moskauer Sturz auf das Kairoer Re gime schockartig wirkte und es zunächst •gaß“, zu dem Regierungswechsel zu gratulieren, war Erster Vizepräsident und Feldmarschall Abdel Hakim Amer Ehrengast bei den diesjährigen Oktoberrevolutionsfeiern im Kreml, und Finanzminister Dr. Abdel Moneim el-Kais- suni, der für die inflationäre ägyptische Währungspolitik verantwortlich ist, verhandelte dort über die Realisierung des Chruschtschow- Kredites. Die Interessenverflechtung war schon zu eng geworden.

Freilich wäre es falsch, Abdel Nasser Kommunist oder auch nur Sozialist zu nennen. Weder der junge Umstürzler noch der unumschränkte Diktator gewann je ein anderes Verhältnis zu Kommunismus oder freiheitlichem Sozialismus als das des Pragmatikers. Nicht ideologische Überzeugung, innere Schwierigkeiten, die nur durch ausländische Hilfe lösbar erschienen — also infolge antiwestlicher Außenpolitik zwangsläufig die der Sowjetunion —, trieben ihn auf den Weg des „arabischen Sozialismus“.

Um Entstehungsgeschichte und Auswirkungen dieser speziellen sozialistischen Spielart zu verstehen, muß man die „Psychopathologie des Nasserismus“ kennen. Die idealistisch gesinnten jungen Offiziere, die sich in den vierziger Jahren um Abdel Nasser scharten, träumten den in Europa gerade sterbenden Traum von der von internationalen Einflüssen freien und mächtigen (ägyptischen) Nation. Ihre Konspiration richtete sieh gegen die britische Kolonialmacht und ihre käuflichen ägyptischen Schützlinge. (Ihnen schrieben sie unter anderem die Schuld an der arabischen Niederlage im Palästinafeldzug, 1948, zu. Bis heute lautet eine unbezweifelte Erkenntnis ägyptischer Militärtheorie — obwohl die unterdessen modern ausgerüstete Armee im Suezstreit, 1956, und im Jemenkonflikt, 1962 bis 1964, zwei weitere Niederlagen erlitt, und in Syrien, 1961, einer dritten nur entging, weil die schon erteilten Einsatzbefehle rechtzeitig annulliert wurden —, der auf die Entstehung Israels folgende israelische Sieg über die Araber sei ausschließlich durch Nachschubman- gel und Faruks Waffenschmuggel ermöglicht worden. Neutrale Experten führen ihn hingegen auf die schwache ägyptische Kampfmoral zurück.)

Bezeichnend ist auch, daß die blutjungen Militärschüler, die sich damals in der oberägyptischen Garnison Mankabad, unter romantischem Wüstenhimmel, kennenlernten und zur Keimzelle der „Freien Offiziere“ des Staatsstreiches von 1952 wurden, vielfach aus ärmeren Zweigen „großer Familien“ hervorgegangen waren. Das mag teilweise ihre Unzufriedenheit mit dem herrschenden System erklären.

Glorifizierung der Nation

Abdel Nasser selbst entstammte kleinbürgerlichen Verhältnissen. Er glorifizierte — typisch kleinbürgerlich — die Nation, dem eben gescheiterten Kleinbürger Hitler unbewußt nicht unähnlich, zum „beschmutzten“ Tempel, aus dem man Kolonialisten und Korrupte verjagen müsse. In seiner „Philosophie der Revolution“ schilderte er hinterher selber, daß er geglaubt habe, man brauche nur die Usurpatoren der Nation zu schlagen und die Gutwilligen kämen von selber zum Vorschein, um ihr Rettungswerk zu tun. Die ihm bis dahin offenbar unvertraute Binsenweisheit, daß Nation kein mystisches Heiligtum, sondern die Summe aller Individuen, die sie bilden und nicht besser und nicht schlechter ist als diese, muß ein böser Schock für ihn gewesen sein. Er scheint ihn nie verwunden zu haben.

Ausländer, die ihn in jener Zeit kennenlernten, schilderten ihn als scheuen und sympathischen jungen Mann von bescheidenem Wesen, der sich vor der Masse fürchtete. Vom frenetisch umjubelten Volkshelden war noch nichts zu ahnen.

Als die erhoffte „automatische Neuordnung“ ausblieb, mußte Abdel Nasser, sofern er den geglückten Umsturz nicht gefährden wollte, fortan selbst, regieren. „Was soll ich nur mit diesem Volk machen?“ fragte er einmal verzweifelt. Das läßt darauf schließen, daß er wußte, wieviel er sich vorgenommen hatte. Zu viel. Bevor das offenbar wurde, hatte er Geschmack an der Macht gefunden.

Bevölkerungsstruktur und politisches Führungsklima Ägyptens sind so komplex, daß gerechtere, politische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse einen grundlegenden Mentalitätswandel des ganzen Volkes voraussetzen. Ägypten geriet unter kolonialen Einfluß, weil es sich nicht selbst behaupten konnte. Es konnte sich nicht selbst behaupten, weil die Oberschicht korrupt und unfähig war und nur an sich dachte. Die Oberschicht war korrupt, weil die Bevölkerung lethargisch, egoistisch und heillos individualistisch war, in engstirnigem Sippendenken verharrte und kein Verhältnis zum Staat hatte. Das ist bis heute so geblieben.

Das Erbübel der Nasseristen war, daß sie wohl wußten, es müsse alles anders werden, ein echtes politischgesellschaftliches Erziehungsprogramm ihnen aber ermangelte. Sie bekämpften folglich physische Symptome statt der psychischen Ursachen der Krankheit, an der ihr Volk leidet. Beseitigung des alten Parteiensystems, Entmachtung der alten Führungsklasse, Bodenreform, Industrialisierung, Enteignung ausländischen Besitzes hießen die Medizinen. Zwei identische Absichten verfolgte das Regime mit ihnen — seine romantisch-idealistische Vorstellung von der Nation zu verwirklichen und seine eigene Macht zu zementieren. Ersteres war, wie gesagt, auf die Dauer nur mit ausländischer Hilfe erreichbar; letzteres erforderte immer stärker ein in der Bevölkerung wurzelndes, „legales“ organisatorisches Fundament des Regimes. Es wurde, 1956, entsprechend den ursprünglich nationalistischen Vorstellungen, in der „Nationalen Union“ gefunden und erwies sich prompt als zu schwach.

Partei auf dem Papier

Die geschilderte außenpolitische Entwicklung und „ideologische Einflüsse“ aus Belgrad und Algier formten das zweite Organisationsexperiment. Die „Arabische Sozialistische Union“ entstand (1962).

Wie wenig bewußte ideologische Auspizien dabei mitwirkten und wie wenig dabei nach einem vorgegebenen Plan gehandelt wurde, zeigt die eigenartige Entwicklung dieser Staatspartei. Als ihre unteren Kaderzellen erst auf dem Papier standen und die Führungsspitze überhaupt noch nicht existierte, wurde

— im März 1964 — ein Parlament gewählt, das ausschließlich aus ihren Mitgliedern zu bestehen hatte. Ihr Generalsekretariat wurde erst Ende November 1964 ernannt. Ein Parteikongreß, auf dem das ideologische, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Programm beraten worden wäre, fand noch nicht statt. Gleichwohl etablierte sich die Partei bereits im Irak.

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