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Kannen die Historiker helfen?

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Der (olgende Aufsatz unseres langjährigen Mitarbeiters Univ.-Doz. Dr. L. Jed1icka, der an der Wiener Universität für Zeitgeschichte habilitiert ist, zeigt die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der zeitgeschichtlichen Forschung und Lehre im Raum der Wissenschaft. Es erscheint uns notwendig, zu unterstreichen, daß das Wiederauftauchen längst verschwundener Ideologien und Parolen weniger auf die historische Unkenntnis als auf den Mangel an Orientierung mancher Tagespolitiker zurückgeht. Hier müßte, ehe man die Unterrichtsverwaltung schuldig spricht, zuerst eine Klärung wichtiger staatspolitischer Grundbegriffe bei den Parteien selbst vorgenommen werden.

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Der (olgende Aufsatz unseres langjährigen Mitarbeiters Univ.-Doz. Dr. L. Jed1icka, der an der Wiener Universität für Zeitgeschichte habilitiert ist, zeigt die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der zeitgeschichtlichen Forschung und Lehre im Raum der Wissenschaft. Es erscheint uns notwendig, zu unterstreichen, daß das Wiederauftauchen längst verschwundener Ideologien und Parolen weniger auf die historische Unkenntnis als auf den Mangel an Orientierung mancher Tagespolitiker zurückgeht. Hier müßte, ehe man die Unterrichtsverwaltung schuldig spricht, zuerst eine Klärung wichtiger staatspolitischer Grundbegriffe bei den Parteien selbst vorgenommen werden.

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Die Zeitgeschichte wurde in den Wochen nach dem Kölner Ereignis und den folgenden Aktionen von vielen Vertretern der Journalistik, der Politik und der Unterrichtsverwaltung als Allheilmittel beschworen, wobei man sich sehr oft wenig darüber im klaren war, was eigentlich unter Zeitgeschichte zu verstehen ist. Zunächst handelt es sich nicht um ein Gegengift, das man erkrankten Teilen eines Volkskörpers injizieren kann, nachdem systematisch diese Teile vergiftet wurden, noch etwa um eine Kreuzung zwischen Sensationsjournalismus und neuerer Geschichte. Zahlreiche Historiker aus allen Ländern Europas, ganz abzusehen von den Vereinigten Staaten und in jüngster Zeit auch der Länder hinter dem Eisernen Vorhang, haben längst die Zeitgeschichte als eineji neuen legitimen Zweig der historischen Forschung nicht nur anerkannt, sondern auch als wissenschaftliches Problem zu behandeln versucht.

Naturgemäß ist im deutschen Sprachgebrauch die Zeitgeschichte einer schwierigen Definition unterworfen, weil sich zwei widersprechende Begriffe — Zeit und Geschichte — treffen. Die Zeit ist — wie Paul Kluke, heute Professor an der Universität in Frankfurt, in seinem vor Jahren in,. Wien, .gehaltenen, .Vortrags„, Auf gaheji und Mefhoden zeitgesehichtlicher Forschung“ ausführte — „das stets auf uns Zukommende und immer wieder Entfliehende“. Dagegen „ist die Geschichte etwas Statisches, Abgeschlossenes“. Es ist nicht leicht gewesen, für die Zeitgeschichte eine Definition zu finden. Prof. Hans Rothfels hat versucht, diese in dem einführenden Aufsatz der von ihm herausgegebenen Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, „Zeitgeschichte als Aufgabe“ (Jänner 1953), zu geben, in dem er meinte, die Zeitgeschichte beinhalte „die Epoche der Mitlebenden und ihrer wissenschaftlichen Behandlung“ oder sie sei „Geschichte der jüngsten Vergangenheit“, soweit sie unmittelbar die „Geschichte der Lebenden bestimmt“. Durch diese Festlegung sind Grenzen gesetzt, jedoch werden diese Grenzen bei den einzelnen Völkern verschieden festgelegt. Franzosen und Engländer empfinden den Begriff und Inhalt der Zeitgeschichte ganz anders als die Österreicher und Deutschen, denn noch immer ist für die Franzosen die große Revolution und für die Engländer das Jahr 1832 als der Beginn der großen Parlamentsreform eine historische Zäsur.Verbindlich gerade für die Nationen der Mitte Europas könnte nach der Ansicht von Professor Rothfels das Jahr 1917 sein. Zwei weltgeschichtliche Ereignisse bestimmen dieses wahre Epochenjahr: der Eintritt der Vereinigten Staaten in das Geschehen des europäischen Krieges und die russische Revolution, wobei von österreichischer Seite hinzuzufügen wäre, daß im Jahre 1917 die letzten Chancen einer Rettung der Donaumonarchie vertan wurden und damit das Habsburgerreich seinem Untergang entgegenging. Selbst der Begriff und Ausdruck Zeitgeschichte ist nicht neu. Die Schilderung der Feldzüge Radetzkys durch Schönhals war Zeitgeschichte, auch das Werk des französischen Historikers Thiers über das napoleonische Kaisertum beruhte teilweise auf der Erkenntnis der Akten, aber auch der Aussage der Miterlebenden und trug alle Merkmale der zeitgeschichtlichen Forschung und Geschichtsschreibung der damaligen Epoche.

Es gibt allerdings viele Einwände, die gelegentlich gegen die Zeitgeschichte erhoben werden. Diese Einwände kommen entweder von Historikern, die sich gerne auf der gesicherten Quellengrundlage bestimmter Epochen bewegen, und anderseits von politischen Kräften, die unter vollkommener Verkennung der Quellensituation glauben, daß für die jüngste Vergangenheit noch lange nicht die notwendigen Unterlagen vorhanden wären. Beide treffen ins Leere. Wir haben für bestimmte Abschnitte der mittelalterlichen Geschichte, ganz zu schweigen von der Antike, oft sehr dürftige Unterlagen,und dennoch wird darüber manches geschrieben, welches sich nach der Auffindung oft sehr verstreuter Quellen als problematisch erweist. Es ist sicherlich richtig, daß die Quellen zur jüngsten Geschichte an vielen bedeutenden Wegstrecken verschwunden sind, ja für den Historiker gar nicht greifbar erscheinen können, weil die moderne Art der Kommunikation der Staatsmänner (Funk, Radio, Telephon) in den Akten selten einen Niederschlag finäet. Darüber hinaus gibt es allerdings Primär- und Sekundärquellen, beginnend bei den berühmten Nachkriegsprozessen, sich fortsetzend in den breiten, oft überquellenden Aktenveröffentlichungen der Großmächte zur Geschichte und Vorgeschichte des zweiten Weltkrieges, die gemeinsam mit der ungeheuren Hut der Memoiren den Historikern eher einen Reichtum an erforschbarem Material denn einen Mangel gegenüberstellt. Auch dort, wo durch Archivsperren für 50 oder 30 Jahre gewissermaßen ein Eiserner Vorhang herabgelassen wurde, ergeben sich Möglichkeiten genug, Vorgänge zu klären, die sich in Gerichtsakten oder aber auch in den von den Großmächten so gerne im politischen Tageskampf veröffentlichten Aktenpublikationen ermöglichen, Wege für die historische Forschung zu finden. Naturgemäß interessiert den Historiker nicht das Material eines politischen Prozesses nach den juristischen Tatbeständen, sondern allein nach dem historischen Problem; Anklage und Verteidigung sind für ihn zweitrangig und er wird sich immer an die Aktensammlungen halten. Hier haben die einzelnen Nachkriegsprozesse für die historische Wissenschaft bahnbrechend gewirkt, und es wäre zu wünschen, daß, ähnlich wie in der Deutschen Bundesrepublik, auch in Österreich diese Akten der Forschung zugänglich gemacht werden könnten.

Nicht zuletzt unter dem Eindruck der seinerzeit nach dem Jahre 1918 veröffentlichten Aktenausgaben des deutschen Auswärtigen Amtes über „Große Politik der europäischen Kabinette“ (1871 bis 1914) und des österreichischen Werkes „Österreich-Ungarns Außenpolitik von der bosnischen Krise 1908 zum Kriegsausbruch 1914“ entschlossen sich die Großmächte des zweiten Weltkrieges zu ähnlichen Veröffentlichungen aus ihren Archiven. Am 29. März 1944 kündigte der damalige britische Außenminister Eden im Unterhaus an, daß die Dokumente aus dem Archiv des Foreign Office für den Zeitraum von 1919 bis 1939 veröffentlicht würden. Diese Initiative Großbritanniens hat seither erfreulicherweise zahlreiche Nachahmungen gefunden. Die Vereinigten Staaten von Amerika, die italienische Republik, ja selbst die dem sowjetischen Bereich angehörenden Staaten und die Sowjetunion selbst gaben und geben dem Historiker der Zeitgeschichte manche wertvolle Hinweise durch die Veröffentlichung von Aktenpublikationen zur neuesten Geschichte; Auch hat sich längst eine internationale Kooperation der Historiker der Zeitgeschichte angebahnt, die in drei großen Konferenzen seit 1950 und vielen Einzelbesprechungen ihren Niederschlag fand und darauf hinzielt, Forschungsergebnisse und Aktenbestände in internationalem Rahmen auszutauschen und zu ergänzen. Österreich hat auf dem Gebiet der Zeitgeschichte nicht zuletzt durch die Tatsachen der Besatzung und der Hemmungen, das „heiße Eisen“ unserer jüngsten Vergangenheit anzupacken, keineswegs mit anderen Ländern Schritt halten können. Obgleich eine Reihe von Publikationen, die auch international Beachtung fanden, vorliegen und die Förderung der Zeitgeschichte durch Persönlichkeiten unserer Hochschulen und der Unterrichtsverwaltung bei aller Begrenzung der gegebenen Möglichkeiten positiv bewertet werden muß, müßte man den Anschluß an die internationale Forschungsarbeit finden.

Was zu tun ist, hat Staatsarchivar Rudolf Neck in seiner ausgezeichneten Arbeit „Zeitgeschichtliche Literatur über Österreich“ (6. und 8. Band der „Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs“, 1953 und 1955) richtig dahingehend unterstrichen: „Wenn je eine historische Disziplin die Lehrerin des Lebens sein kann, dann ist es die Zeitgeschichte. Nichts ist für die Politik von größerem Wert, als das klare Wissen um die Einzelfakten der jüngsten Geschichte und die Kenntnis der großen historischen Zusammenhänge der nahen Vergangenheit. Das Beispiel- der deutschen Dbldrstöß-legende'näeh dem ersten Weltkrieg sollte Mn-länglich beweisen, wie notwendig Klarheit durch zeitgeschichtliche Wissenschaft ist.“ Dem wäre nur hinzuzufügen, daß die notwendige Klarheit nur durch die wissenschaftliche Aufhellung der Tatbestände und nicht durch Übergehen oder Verschweigen jener heute oft als Tabus betrachteten Vorgänge erzielt werden kann.

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