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Karabinieri, Korruption, Kommunisten

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Am 20. September 1870 erobert« die neo-italienische Armee den letzten Rest des einst so großen Kirchenstaates. Nach dem Sieg der Deutschen bei Sedan am 1. und 2. September hatte Italien jede Rücksicht gegenüber Frankreich fallen lassen, dessen Truppen durch fast zwei Jahrzehnte der letzte Garant der • Unabhängigkeit des Kirchenstaates gewesen waren. Nur wenige Tage nach Sedan beschloß der italienische Ministerrat, den letzten Rest des Kirchenstaates, nämlich die Stadt Rom, zu besetzen. Am 20. September schoß die italienische Artillerie eine Bresche in die Porta Pia, und nach kurzem Geplänkel wurde auf Geheiß Papst Pius IX. die weiße Flagge der Kapitulation gehißt. Mit dieser Kapitulation war das Ende des 1000jährigen Kirchenstaates gekommen.

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Am 20. September 1870 erobert« die neo-italienische Armee den letzten Rest des einst so großen Kirchenstaates. Nach dem Sieg der Deutschen bei Sedan am 1. und 2. September hatte Italien jede Rücksicht gegenüber Frankreich fallen lassen, dessen Truppen durch fast zwei Jahrzehnte der letzte Garant der • Unabhängigkeit des Kirchenstaates gewesen waren. Nur wenige Tage nach Sedan beschloß der italienische Ministerrat, den letzten Rest des Kirchenstaates, nämlich die Stadt Rom, zu besetzen. Am 20. September schoß die italienische Artillerie eine Bresche in die Porta Pia, und nach kurzem Geplänkel wurde auf Geheiß Papst Pius IX. die weiße Flagge der Kapitulation gehißt. Mit dieser Kapitulation war das Ende des 1000jährigen Kirchenstaates gekommen.

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Einst hatte 'dieser Kirchenstaat ganz Mittelitalien umfaßt, seine Fäden bis nach Unteritalien und Sizilien ausgestreckt und hatte auch Enklaven in Frankreich besessen. Im Laufe der Geschichte hatte dieser riesige Besitz, der eigentlich die Unabhängigkeit des Zentrums der Kirche garantieren sollte, die Päpste so manches Mal dazu verleitet, sich aus rein irdischen Gründen in die Händel der Welt zu mischen und das Schwert zu- ergreifen. So war es vielleicht eine wirkliche Wohltat des Himmels, daß den Nachfolgern des heiligen Petrus die Sorge um ihren Staat genommen wurde. Allerdings: die Art, wie dies geschah, war glatter Raub und gefährdete außerdem die volle Unabhängigkeit, die von den Päpsten zur Regierung ihrer Kirche benötigt wurde.

Schon in den letzten Jahren des Metternichschen Zeitalters fieberte Italien seiner Einigung entgegen. Sie war nicht mehr auf zuhalten, und die Frage war nur, durch wen sie herbeigeführt werden sollte. Durch die konservativen Kräfte, die gemäßigten Liberalen, die Anhänger der Kirche oder durch die radikalen Nationalisten, die Freimaurer, die Anhänger Garibaldis, Mazzinis und Cavours? Als die Donaumonarchie den Krieg von 1859 verlor, entschied damit das Schicksal, die Einigung Italiens auf dem zweiten Weg durchzuführen. So fiel Italien einem nationalen Chauvinismus in die Arme, der zugleich auch antikirchlich war, -und der Italien zu guter letzt auf die Blut- und Eisenstraßen Mussolinis, dieses letzten großen Schülers Mazzinis, führen sollte. So ist die Katastrophe Italiens vom Jahre 1945 nur eine logische Folge der Entwicklung, die nach 1859 einsetzte und nicht nur die Einigung Italiens herbeiführte, sondern auch dem nationalistischen Italien so große Erfolge bescherte.

Die Einigung Italiens kam durch die unheilige Allianz des Hauses Savoyen mit den Liberalen zustande, deren Führer fast durchwegs Freimaurer waren, und mit den jakobinischen Nationalisten unter der Führung Mazzinis und Garibaldis. Das Königreich Piemont-Savoyen machte seine , Verbündeten „hoffähig“. Es stellte der nationalen Bewegung seine königliche Armee und seine königlichen Diplomaten zur Verfügung. Es war eine sehr unheilige Allianz, die ein königliches Haus hier einging, und da die Weltgeschichte das Weltgericht ist, war es nur eine Frage der Zeit, wann dieses Gericht sein Urteil fällen sollte. Durch 60 Jahre nach der Porta Pia leugnete das offizielle Italien die Existenz der sogenannten „Römischen Frage“. Auf diese Weise sollte der Raub von 1870 langsam aus dem Bewußtseih verschwinden. Er verschwand aber nicht aus dem Unterbewußtsein des italienischen Volkes, er verschwand nicht aus dem Unterbewußtsein der Kirche, und er verschwand nicht aus dem Unterbewußtsein der Welt. Nicht einmal 60 Jahre vergingen nach der Bresche in der Porta Pia, und die Stimmen aus dem Unterbewußtsein konnten endlich zum Verstummen gebracht werden; 1929 war es das offizielle Italien, das die Existenz der geleugneten Römischen Frage doch anerkennen mußte und sie durch die Lateran-Verträge aus der Welt schaffte. Durch diese Lateran-Verträge wurde dem Oberhaupt der katholischen Kirche die völlige Souveränität, wenn auch nur über ein winziges Gebiet, wiedergegeben. Und es war Pius XI., der jetzt erklärte, daß damit die Römische Frage endgültig erloschen sei.

Die solange offiziell geleugnete Existenz der Römischen Frage war also durch das Entgegenkommen des Vatikans aus der Welt geschafft worden. Und die Kurie nimmt seit dem Jahr 1929 innerhalb Italiens wieder den Platz ein, der ihr gebührt. Ja, der Einfluß der Kurie auf das Leben Italiens ist heute vielleicht größer als zur Zeit des Kirchenstaates. Nicht nur durch die „Milliarden des Vatikans“, die großteils gar nicht existieren, sondern einfach deshalb, weil sich in den so vielfach wirren Zeiten der letzten Jahrzehnte die Kirche doch für Millionen von Menschen als der letzte Halt erwies. Aber auch die anderen Mächte, die durch die Einigung Italiens von der Apenninenhalbinsel verdrängt wurden, nämlich die Habsburger-Monarchie und das Bourbonen-Reich, sind nicht ganz aus Italien verschwunden. Bund 100 Jahre nach der Einigung Italiens existieren die Mächte, die sie herbeiführten, in Italien nicht mehr. Das Haus Savoyen regiert nicht mehr, und sein letzter König lebt fern der Heimat im portugiesischen Exil. Der Liberalismus als politische Bewegung ist tot. Und nicht minder tot ist der jakobinische Nationalismus, der von Mazzini und dem Führer der Rothemden, Garibaldi, begründet und vom letzten großen Nationalisten Italiens, dem Führer der Schwarzhemden, Benito Mussolini, ad absurdum geführt wurde. All die großen Eroberungen, die der Nationalismus Italien bescherte, mußte Italien wieder herausgeben, und geblieben ist nur die Erinnerung daran, daß diese Eroberungen unendlich viele Tote kosteten. Verlorengegangen sind Tripolis, das Somali-Land, Abessinien, Rhodos, die dalmatinischen Inseln, Zara, Fiume und Istrien. Geblieben sind nur die kleinen Gebiete von Südtirol, Görz und Triest. Triest ist überdies eine tote Stadt. Nirgends zeigt sich der Irrsinn des Nationalismus stärker als am Schicksal dieses Orts. Zehntausende und aber Zehntausende von Italienern mußten den Tod erleiden, nur damit Triest eine tote Stadt wurde! Das Haus Savoyen regiert nicht mehr, der Liberalismus ist tot, der Nationalismus hat ausgespielt. Im Zuge der nationalen Einigung Italiens verschwanden der Kirchenstaat, die Herrschaft der Bourbonen in Neapel-Sizilien und verschwand schließlich auch die Donaumonarchie. Aber die Kurie ist mächtiger denn je, und auch die anderen beiden Mächte kamen wieder, wenn auch versteckt, zum Vorschein. Knapp nach dem Ende des Kirchenstaates beginnt die Reihe der „österreichischen“ Päpste. Pius X. noch war 32 Jahre lang getreuer Untertan Kaiser Franz Josephs, und viele seiner Reformen auf dem Gebiete der Verwaltung atmen einen versteckten josephinischen Geist, so daß recht konsequent eine der hochadeligen sizilianischen Damen im berühmten Roman „Der Leopard“ diesen Papst empört als einen „Türken“ bezeichnet. Auch Pius XI. ist noch als österreichischer Untertan geboren. Johannes XXIII. ist der Sohn österreichischer Eltern, und im hohen Alter erinnerte er sich noch, wie in seiner Kindheit die Menschen seiner Heimat von den Wohltaten der österreichischen Verwaltung sprachen. Und Paul VI. ist der Enkel österreichischer Eltern.

Aber der Geist Österreichs taucht noch auf zwei anderen Gebieten auf: Das ursprünglich so zentralistisch organisierte Italien wandelt sich langsam in ein föderalistisches Land um. Sizilien, Sardinien, das Aosta-tal besitzen bereits Autonomien, und über kurz oder lang wird Italien regional aufgeteilt sein. Es ist die Wiederkehr der im „Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“. Und der Geist Österreichs taucht wieder auf in der großen Disziplin des Korps der italienischen Karabinieri, die den Geist der österreichischen Gendarmerie in Oberitalien, in welchem Gebiet ja die. Gendarmerie entstand, übernommen hat und weiterführt. Allerdings übernahm dieses Korps der Karahinieri nicht nur den österreichischen Gedanken der guten Verwaltung („Die österreichische Verwaltung war die gerechteste, die Italien je gesehen hat“, schreibt der Historiker des Faschismus, Roberto Farinacci), sie übernahm teilweise, und leider auch in der Behandlung der Gefangenen, die Methoden der bourbonischen Polizei, die nun einen späten Triumph über ganz Italien feiert. Die drei Mächte, die Italiens Einigung herbeiführten, sind verschwunden, die drei Mächte, welche die großen Verlierer dieser Einigung waren, leben wieder, teils offiziell, teils inoffiziell. Geblieben ist die große Frage, die Italien immer bewegte und noch immer bewegt: die soziale Frage. Beweise dafür sind das Vorhandensein einer weitverbreiteten Korruption und das Vorhandensein einer starken kommunistischen Partei. Allerdings sind die Mitglieder dieser Partei nicht in erster Linie Anhänger Lenins, sie sind in erster Linie Italiener, die das soziale Elend drückt und die endlich diesem sozialen Elend entrinnen möchten. So wird 100 Jahre nach der Porta Pia das italienische Leben vielfach durch die drei „K“ bestimmt: Karabinieri, Korruption, Kommunisten. Innerhalb dieser 100 Jahre erwies sich der Fels Petri auch in Italien als ein unerschütterlicher Fels, der inmitten vieler chaotischer Zustände einen letzten Halt — nicht nur für Katholiken — darstellt. Die Bresche an der Porta Pia ist längst wieder geschlossen.

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