Kardinal kontra Christlichsoziale

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Österreichs Katholizismus zur Zeit von Kardinal Anton Gruscha, Bürgermeister Karl Lueger und dem jungen Friedrich Funder.

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Österreichs Katholizismus zur Zeit von Kardinal Anton Gruscha, Bürgermeister Karl Lueger und dem jungen Friedrich Funder.

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Im August 1892 findet in Linz der dritte österreichische Katholikentag statt, bei dem die Christlichsozialen die Führung an sich reißen. Funder ist noch Priesterschüler, aber seiner geistlichen Berufung bereits unsicher. Seine Eltern haben ihm die Reise nach Linz als Maturageschenk ermöglicht. Im ersten Band seiner Erinnerungen beschreibt der einstige Chefredakteur der "Reichspost" und spätere Gründer der Wochenzeitung "Die Furche" die Anziehungskraft der neuen Bewegung auf einen jungen Katholiken der damaligen Zeit (übrigens wurde die Gründung der "Reichspost" damals in Linz beschlossen) und die Aufbruchsstimmung, die ihn und seine Freunde erfasste. Neue Namen, neue Losungen liefen um. Man sprach von einer "schärferen Tonart". Für die damalige katholische Presse waren "die Wortführer der neuen Richtung Radaubrüder und Rebellen gegen jede Autorität", doch der junge Funder und seine Freunde fiebern "mit erwartungsvoller Freude" gerade dem Auftreten der Männer von der "schärferen Tonart" entgegen - darunter dem vornehmen Liechtenstein, der so gar nichts von einem Rebellen und Radaubruder an sich hat. (...)

Der alte Funder über die Empfindungen des jungen Funder: "Vor uns jungen Menschen wirbelte der große Kampf. Wir hätten nicht jung sein müssen, wären wir nicht begeistert mit hineingerissen gewesen in das große Geschehen der um uns sich vollziehenden christlichen Volkserhebung. Denn eben jetzt wurde Wien, das Hauptlager der liberalen Macht, von den Christlichsozialen gestürmt. Trotz Hof und Regierung, trotz der herrschenden Großpresse, trotz nach Rom beschwerdeführenden Bischöfen, trotz Börse und Hochfinanz."

Er liefert aber auch das Psychogramm des alten Mannes, der die Welt nicht mehr versteht. Dabei war er, als er dies schrieb, selbst um etliches älter als Gruscha in den Jahren seiner Konfrontation mit den Christlichsozialen: "Jetzt in seinem hohen Alter begegnete er noch einer Bewegung, die für ihn so ganz fremdartig sein musste wie die christlichsoziale, weil ihr Aufbruch ungestüm war, sie sich eine freie Sprache gegen die Autoritäten von Staat und Kirche herausnahm, die bisher unerhört gewesen war. Nun ja, sie nannten sich ,Vereinigte Christen'; vereinigt waren neben ernsthaften Katholiken sehr viele brave Namenschristen aller Schattierungen, abgehäutete Liberale, von denen man noch nicht wusste, was aus ihnen werden würde, Atheisten und Rassentheoretiker heidnischer Art, eine große Rotte von Rebellen, autoritätsfeindlich, die legitimen Gewalten bedrohend. So sah Fürsterzbischof Gruscha das neue politische Phänomen, er war von schweren Bedenken gequält. Wer waren diese Lueger, Schneider, Schlesinger mit ihrem Gefolge von unzufriedenen Handwerkern, Arbeitern, selbst Pfarrern und Kooperatoren? Jawohl, sogar in seinen Klerus war Unruhe und Aufruhrstimmung gebracht worden. Er war deshalb einer Meinung mit dem Kardinal Schönborn von Prag und dem Bischof Dr. Franz Bauer von Brünn, die in den Vorgängen in Wien, in dieser Wiener Volkserhebung, eine staats- und kirchenpolitisch bedrohliche Bewegung sahen, die mit allen Kräften zu bekämpfen sei. Ihre Meinung deckte sich mit der an den Spitzen des Hofes und der Regierung Windischgrätz."

Politisch steckt der alte Kardinal in der Zwickmühle, seine Empfindlichkeit und sein hierarchisches Denken vertiefen den Konflikt. Die katholische Schule ist seit jeher eines seiner wichtigsten Anliegen. Als Säule des Staates trägt er aber eine Koalition mit, die sich geeinigt hat, über die Schulfrage zu schweigen. Dies bringt die Katholiken gegen die Katholisch-Konservativen auf und verschafft den Christlichsozialen noch mehr Zulauf. Daher wird der für 1894 geplante vierte allgemeine österreichische Katholikentag abgesagt. Den als Ersatz angesagten Wiener und niederösterreichischen Landeskatholikentag kann er nicht verhindern. (...)

Reformbestrebungen waren ihm ein Gräuel, Rechtgläubigkeit ein Wert an sich, jede Abweichung ein teuflisches Vergehen. Auch der ehemalige Ordinarius für Kirchengeschichte und Direktor des Wiener Diözesanarchivs Franz Loidl spricht vom überstrengen Katholizismus Gruschas und seiner Werkzeuge, des Dominikaners Weiß und des Redemptoristen Rösler. Als nach der Jahrhundertwende in der Kirche die Angst vor dem Modernismus umging, wurde der Kirchenhistoriker und Byzantinist Albert Joseph Maria Ehrhard ein Opfer der Verdächtigungen. Ehrhard, der von den Priesterschülern glühend verehrt wurde, zog sich durch sein Buch "Der Katholizismus und das 20. Jahrhundert im Lichte der kirchlichen Entwicklung der Neuzeit", das in einem Jahr zwölf Auflagen erlebte, "schwere Anfeindungen und Verdächtigungen zu und wurde völlig zu Unrecht sogar zu einem Exponenten des Reformkatholizismus gestempelt". Er verlor den Prälatentitel und wurde aus Wien vertrieben. Den Moraltheologen Franz Schindler, der sich bei Papst Leo XIII. für ihn einsetzte, soll dies den Bischofsstuhl von Linz gekostet haben. (...)

Wo Lueger, Liechtenstein oder der Organisator der Christlichsozialen Albert Geßmann auftreten, bleibt Kardinal Gruscha fern. Er macht auch sein Erscheinen beim Katholikentag davon abhängig, dass Lueger und Geßmann nicht sprechen werden. Keiner von ihnen steht auf der Rednerliste, aber auch Gruscha kommt nicht. Lueger hält eine fulminante Begrüßungsansprache. Immerhin lässt ihn Gruscha nach einer der Versammlungen zu sich bitten. (...)

Die Kardinäle Anton Gruscha und Franz Schönborn sowie Ministerpräsident Windischgrätz auf der einen Seite, die Christlichsozialen und ihre Helfer im Klerus auf der anderen spielen ein jahrelanges Spiel der Nadelstiche und Einflussnahmen in Rom. Der Papst sendet den Christlichsozialen Segen und gute Wünsche. Die Gegenseite behauptet, es habe sich dabei nur um unverbindliche Floskeln gehandelt. Gruscha und Schönborn versuchen, den päpstlichen Nuntius Antonio Agliardi von der Gefährlichkeit der Christlichsozialen zu überzeugen. Agliardi ist bereits auf der anderen Seite. Der Vatikan kann die neue katholische Massenbewegung ja nur begrüßen, folgt sie doch den Zielsetzungen von "Rerum novarum". Österreich ist das erste Land, in dem eine politische Partei mit der päpstlichen Sozialpolitik Wahlen gewinnen will. Und gewinnen wird.

Der Minister für Kultus und Unterricht, Madejsky, verfasst "eine Denkschrift über die bedenklichen Seiten der Agitation dieser Partei ... die Angriffe gegen konservative Fraktionen richtet". Im Einverständnis mit Ministerpräsident Windischgrätz wird sie über Kardinal Schönborn dem Vatikan zugespielt. Die "antisemitische, christlichsoziale Richtung" schlage sich "mit derber Faust durch das öffentliche Leben, sträubt sich unwirsch gegen die weltliche und politische Autorität ... Wie peinlich musste daher die Überraschung aller ruhig und gemäßigt Denkenden in ganz Österreich sein, als ihre heftigsten Gegner der großen Gnade eines päpstlichen Segens ... teilhaftig wurden, und vollends, als das journalistische Organ der Christlichsozialen, die ,Reichspost', welchem derselbe Bischof von Linz mit gutem Grund den Eingang in sein Priesterseminar untersagt hat, gleichfalls mit dem Segen des Heiligen Vaters ausgezeichnet wurde."

Hoffnungsvoll warten die Gegner der Christlichsozialen auf den Bannspruch Roms. Vorsorglich spielen sie der großbürgerlichen Presse Informationen zu, die Verurteilung durch die höchste kirchliche Autorität stehe unmittelbar bevor. Die Bischöfe bereiten schon eine umfangreiche Denkschrift über "Rerum novarum" nebst einem Hirtenbrief und einer Unterweisung des Klerus in lateinischer Sprache vor. Auf Wunsch des Nuntius legen nun die Christlichsozialen ihre Ziele schriftlich dar. Ein historisches Unikum entsteht: das soziale und wirtschaftliche Programm einer modernen Partei, verfasst auf Lateinisch. Es ist für keinen Wahlkampf bestimmt, sondern für die Weiterleitung nach Rom. Erst Funder druckte nach dem Zweiten Weltkrieg in seinen Erinnerungen größere Teile ab, zum Beispiel: "Wir wollen, dass jedem, der in der bürgerlichen Gesellschaft lebt, von den gemeinsamen Gütern gegeben werde, was ihm zukommt, dass allen das in der rechten Weise geleistet und gewährt werde, was sie nach strengem Recht als das Ihre verlangen und besitzen. Wir wünschen eine öffentliche Ordnung, in der sich alle Bürger das leicht verschaffen können, was nach ihren besonderen Verhältnissen und ihrem Lebensstande für eine anständige materielle und geistige Lebenshaltung notwendig ist."

Nuntius Agliardi leitet das von Prälat Schindler und Prinz Liechtenstein unterschriebene, mit 1. März 1894 datierte Programm sofort an Kardinalstaatssekretär Rampolla weiter, der es wohlwollend, aber genau prüft und im vollen Einklang mit der Enzyklika "Rerum novarum" findet. Allerdings bringt er kritische Einwände an. Zum Beispiel "würde es nach meinem Dafürhalten besser sein, dem Kampf, der gegen die Widersacher zu führen ist, nicht eine deutlich antisemitische Note zu geben, auch deshalb, weil diese Note nichts Neues zur Güte der Vorschläge, zur Wirksamkeit der vorgeschlagenen Mittel und zur Wichtigkeit eben dieses Kampfes beifügt". Auch heute aktuell ist folgende Stelle: "Das Programm ruft wiederholt die Einflussnahme des Staates an. Aber ist eine solche Ingerenz immer gerecht, nützlich und wünschenswert? Eine schwierige und heikle Frage. Zwischen denen, die beinahe alles der privaten Initiative überlassen möchten, und jenen, die alles vom Staate erwarten, ist es außerordentlich schwer, die gerechten Grenzen zu ziehen, wo zum Vorteil des ökonomischen und sozialen Lebens die private Tätigkeit und wo die des Staates sich entfalten kann." (...)

Kardinal Gruscha erfährt zwar, dass der Nuntius ein christlichsoziales Programm nach Rom geschickt hat, bemüht sich aber vergeblich um eine Abschrift. Gerüchtweise dringt durch, der Heilige Stuhl habe daran Wohlgefallen gefunden und den Bischöfen die Veröffentlichung ihres Hirtenbriefes gegen die Christlichsozialen verboten. Gruscha reagiert mit einer außerordentlichen Bischofskonferenz, in der beschlossen wird, dass Kardinal Franz Schönborn nach Rom reist. Außer Bischof Franz Bauer von Brünn soll ihn Pater Weiß begleiten. Schönborn und Weiß reisen am 2. Februar ab, Bischof Bauer kommt einige Tage später nach. Schönborn meint ahnungsvoll: "Wir werden schwere Arbeit haben, man hat uns schön schwarz gemacht."

Tatsächlich stehen in Rom alle Weichen zugunsten der Christlichsozialen. Während der zweimonatigen Gespräche holt Nuntius Agliardi deren Antwort auf folgende Vorwürfe ein: Dass sie auch ungesunde und faule Elemente, Strömungen und Bestrebungen beherbergen, die nicht katholisch, sondern umstürzlerisch und sozialistisch sind, die katholischen Anhänger einerseits ausnützen und andererseits diskreditieren und sich selbst zu Herren machen werden. Dass sie unabhängig von den Bischöfen vorgehen, zuweilen sogar in Opposition gegen diese, die Insubordination im Klerus nähren und Unfrieden ins katholische Lager tragen. Dass sie legitim erworbene Rechte nicht anerkennen, Klassenhass und den Umsturz der sozialen Ordnung fördern. Dass sie, sich mit dem Antisemitismus identifizierend, durch eine maßlose Sprache die Leidenschaften des Volkes und niedrige Begierden entzünden.

Das Konzept der Beantwortung, einen immer wieder umstilisierten lateinischen Text, fand Funder in Prälat Schindlers Nachlass. Die Christlichsozialen würden gerade deshalb "mit so großem Furor von sozialdemokratischer Seite angegriffen", lautete das zentrale Argument, "weil sie die legitime Ordnung verteidigen und den Frieden zwischen dem Proletariat und den Besitzenden und eine wirkliche staatsbürgerliche Ordnung herzustellen trachten" Es sei verwunderlich, "dass ein Katholik das Bemühen um die Wiederherstellung der sozialen und wirtschaftlichen Ordnung nach den Grundsätzen der christlichen Gerechtigkeit, die von dem obersten Hirten in der Enzyklika ,Rerum novarum' eingehend auseinander gesetzt wurden, auf solche Weise abstempeln kann. Also derjenige, der die Gerechtigkeit im privaten und öffentlichen Verkehr zur Herrschaft bringen will, ,wiegelt das Volk auf und entzündet die zügellosen und niedrigen Begierden'."

Auf den Vorhalt des Antisemitismus antwortete Schindler: "Wir bekennen uns nicht zu einem gewissen radikalen Antisemitismus, der sich gegen den jüdischen Stamm als solchen kehrt und mit dem unsere Partei unserem vorgelegten Programm gemäß nichts zu schaffen hat." Nun reiste auch Schindler nach Rom. Papst Leo XIII. empfing ihn und "bekundete mit der ganzen Lebhaftigkeit seines Wesens eine warme Interessenahme an den christlichsozialen Bestrebungen und Erfolgen. Das Programm hieß er willkommen, besprach zustimmend und ermunternd einzelne Punkte. Die Audienz ... endigte mit einer Botschaft Leos XIII. an Dr. Lueger: Der Führer der Christlichsozialen möge wissen, dass er im Papste einen warmen Freund besitze, der ihn segne; er schätze die christlichsozialen Bestrebungen und habe volles Verständnis für gewisse Schwierigkeiten; ,aber sie werden überwunden werden'."

BUCHTIPP Österreichs Kardinäle.Von Anton Gruscha bis Christoph Schönborn.

Von Hellmut Butterweck. Ueberreuter Verlag, Wien 2000, 224 Seiten,öS 291,-/e 21,14

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