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Am 24. April gedenkt die Welt der Armenier-Massaker im Jahr 1915. Politiker streiten um die Definition für diese Gräuel. Am Ort der Tragödie sorgt man sich mehr um die Obsternte.

Bürgermeister Berc Kartun und US-Präsident Barack Obama haben den gleichen Wunsch: Der Dialog zwischen den jahrzehntelang verfeindeten Nachbarstaaten Türkei und Armenien soll "sehr schnell Früchte tragen". Im Gegensatz zu Obama meint Kartun das aber im strikt wörtlichen Sinn. Der Bürgermeister denkt an seine Mandarinen, während dem Präsidenten bessere diplomatische Beziehungen vorschweben. Eine Hoffnung haben Kartun und Obama aber wieder gemeinsam: die Öffnung der Grenzen zwischen Armenien und der Türkei. Für Obama wäre das ein wichtiger außenpolitischer Erfolg und der Beweis, dass sein "Change" auch eingefrorene Konflikte zum Tauen bringt. Kartun denkt ebenfalls exportorientiert, und da vor allem wieder an seine Mandarinen.

"Alles Bio", preist Kartun die Produkte der landwirtschaftlichen Genossenschaft seines Dorfes Vakifli Köyü. 32 Familien, 150 Seelen leben in diesem Weiler am Berghang des Musa Dagh, nahe der südostanatolischen Stadt Antakya. Christliche Seelen, um genau zu sein, armenisch apostolische Seelen, um es auf den konfessionellen Punkt zu bringen und damit den religiös-historischen Horizont über den türkischen Mosesberg und seine Bewohner aufzuspannen.

Stolz führt Kartun durch die renovierte Kirche seines Dorfes (Bild u.). Die einzige erhaltene Kirche am Musa Dagh. In einem Nachbarort lässt eine dreischiffige Kirchenbasilika trotz eingestürztem Kuppeldach noch eine Ahnung vom vergangenen Glanz und Reichtum der armenischen Kultur am Musa Dagh aufkommen - aber Berc Kartun, der stämmige Mitfünfziger mit dem Schnauzer, redet nicht so viel über die Vergangenheit, ihm geht es mehr um das Heute und um die Zukunft.

Von UNO und EU als Genozid gebrandmarkt

Eine gemeinsame Zukunft zwischen Armeniern und Türken wird es jedoch ohne Aufarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit nicht geben. Die Definition über das, was am 24. April 1915 seinen Ausgang genommen hat, ist für diese Geschichtsaufarbeitung entscheidend. Armenien wirft den Türken vor, an diesem Tag einen gezielten Völkermord mit 1,5 Millionen Toten begonnen zu haben. Die Türkei lehnt diese Einstufung als Genozid ab, beziffert die Zahl der getöteten Armenier mit maximal einer halben Million und argumentiert, diese Armenier seien im Zuge einer Umsiedlungsaktion unter Kriegsbedingungen gestorben.

Obama hatte während seines Wahlkampfs im Vorjahr versprochen, er werde als erster US-Präsident die türkischen Massaker an den Armeniern im Ersten Weltkrieg unmissverständlich als "Völkermord" bezeichnen. Bei seinem Türkei-Besuch vor einer Woche bestätigte Obama, dass er an dieser Meinung festhalte, vermied es jedoch, den Begriff "Genozid" explizit in den Mund zu nehmen, und ermunterte stattdessen beide Völker, "nach einer gemeinsamen Lösung zu suchen".

Am 24. April wird vom US-Präsidenten eine weitere Erklärung zum Thema erwartet. Darüber hinaus wird der Streit um die türkisch-armenische Deutungshoheit auch den US-Kongress beschäftigen. Das Repräsentantenhaus soll demnächst über eine Resolution beraten, in der das Armenier-Sterben als Genozid bezeichnet wird. Bereits vor zwei Jahren standen die Abgeordneten kurz vor der Verabschiedung einer ähnlichen Entschließung. Auf Druck der Regierung von Präsident George W. Bush wurde darüber aber letztlich doch nicht abgestimmt - man wollte es sich nicht mit dem wichtigen Bündnispartner Ankara verscherzen.

In UNO-Dokumenten spricht man seit 1985 von "Armenien genocide". Daneben werden die türkisch-armenischen Vorkommnisse zwischen 1915 und 1917 auch vom Europaparlament und rund 20 Staaten als Völkermord eingestuft. Russland, Frankreich, Italien, Belgien, Schweden, Griechenland, Bulgarien und die Schweiz gehören darunter. In Österreich wurden in den Jahren 2000 und 2002 zwei Vorstöße zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern unternommen. Der Menschenrechtsausschuss des Nationalrats fordert als Antwort darauf die Bundesregierung auf, sich für eine aktive Menschenrechtspolitik auf internationaler Ebene einzusetzen - der Genozid an den Armeniern wird nicht erwähnt. Im Entschließungsantrag der Grünen hat es geheißen: Die Anerkennung als Völkermord wäre im Fall von Österreich besonders wichtig, "angesichts dessen, dass Österreich-Ungarn mit dem jungtürkischen Regime kooperierte, das für die Verfolgung und Auslöschung der Armenierinnen und Armenier verantwortlich war".

Offene Grenzen für den Mandarinen-Export

Österreich hat noch einen anderen Bezug zur Vernichtung der Armenier vor 94 Jahren. Der österreichische Schriftsteller Franz Werfel hat sich mit seinem Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" in den Olymp der armenischen Nationalhelden geschrieben. Seine Initialzündung für den Roman war eine Begegnung in Damaskus: "Das Jammerbild verstümmelter und verhungerter Flüchtlingskinder, die in einer Teppichfabrik arbeiteten, gab den entscheidenden Anstoß, das unfassbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehenen zu entreißen." Werfels Armenier-Schock fand 1929 statt.

1919, schon zwei Jahre nach dem Massaker, waren die Großeltern von Bürgermeister Berc Kartun auf den Musa Dagh zurückgekehrt. Das elende Flüchtlingsschicksal der Armenier in der syrischen Diaspora ist ihnen dadurch erspart geblieben. Sie mussten dafür mit der ständigen Angst leben, von einem Tag auf den anderen erneut dem Zorn türkischer Nationalisten ausgesetzt zu sein.

Kartun kennt Werfel und sein berühmtes Werk. "Das Buch bleibt in Erinnerung", sagt er. So wie die Erzählungen seiner Großeltern über ihr banges Warten auf Rettung während der vierzig Tage des türkischen Angriffs auf den Musa Dagh. "Wenn das rettende französische Schiff nicht gekommen wäre, gäbe es mich und uns alle hier heute nicht", sagt er. Die Frage, warum seine Vorfahren nach so kurzer Zeit wieder zurückgekehrt sind, quittiert er mit einer Gegenfrage: "Wo hätten sie denn sonst hingehen sollen?"

Damit ist für Kartun aber schon wieder genug über die Vergangenheit geredet. Er teilt seine Bio-Mandarinen aus, lobt die Fußball-Diplomatie zwischen der Türkei und Armenien, die ihre Teams als Eisbrecher vorausschicken. Und dann schwelgt er noch über die bald offenen Grenzen und den Nutzen, den diese mit sich bringen werden - vor allem für seine Mandarinen.

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