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Kein kranker Mann am Bosporus

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Selbst in den Wochen, in denen das Auge der Weltöffentlichkeit dem Konflikt um Formosa zugewandt ist, beanspruchen die Vorgänge im Nahen Osten, bei denen die Türkei den Mittelpunkt bildet, die nachhaltige Aufmerksamkeit der diplomatischen Beobachter. Bei genauem Zusehen zeigt sich, daß die Reisen des türkischen Regierungschefs Menderes und seines Außenministers Köprülü in ursächlichem Zusammenhang mit der Krise um Tschiangkaischek stehen. Hier wie dort geht es darum, das Bündnissystem des von Washington geführten Lagers auszubauen und es zu konsolidieren.

Den USA kommt es darauf an, rings um den riesigen von den Kommunisten beherrschten Raum einen Sperrgürtel zu errichten, der eine weitere Machtausdehnung des Sowjetblock verhindern soll. Dabei ist, wenigstens für die europäischen Alliierten der USA, die Haltbarkeit der Abwehr im Vorraum des östlichen Mittelmeeres viel wichtiger als der Streit um Taiwan-Formosa. In London und vermutlich auch in den bedeutendsten kontinentalen Hauptstädten unseres Erdteils ist man, auch ohne das formell auszusprechen, offenbar der Ansicht, daß Ostasien mitsamt Indochina abzuschreiben ist und daß man froh sein muß, wenn schlußendlich Japan wie anderseits Indien und Indonesien, Siam und Burma als „dritte Kraft“ eine neutralistische Politik betreiben, sich nicht dem Kommunismus ergeben und als geeignete „ehrliche Makler“ zwischen den beiden einander feindlichen Gruppen auftreten können. Ganz anders steht es mit der islamitischen Welt, von Pakistan über Afghanistan,Persien nach der Türkei, dem Irak und den andern arabischen Staaten. Sie werden keineswegs verlorengegeben. Bei ihnen will man sich nicht mit einer neutralen Haltung begnügen, sondern ihre aktive Mitarbeit zu gemeinsamer Verteidigung gegen kommunistische Vorstöße gewinnen.

Es liegt in der Natur der Sache, daß dieses Bestreben, an dem die USA und Großbritannien in erster Linie interessiert sind, am ehesten in Pakistan und in der Türkei auf Gehör rechnen durfte. Hier ist die Macht fest in den Händen erprobter Freunde des Westens und zugleich überzeugter Gegner jeder Konzession an den Kommunismus. Nationale Argumente wirken ebenfalls mit, so der alte Antagonismus zwischen Türken und Russen. Bei den übrigen muselmanischen Staaten aber sind entweder Politiker am Ruder, die den Angelsachsen zuneigen, doch auf eine anders gesinnte Meinung der Volksmehrheit Rücksicht nehmen müssen, oder eben diese Amerikafreunde und Anglo-philen sitzen nicht sehr fest im Sattel, oder endlich die Gewalt gehört Männern, die höchstens unter momentanem Zwang und innerlich widerr strebend Abkommen mit dem Westen abgeschlossen haben. Das erste trifft für den Irak und Indonesien zu, das zweite auf Persien, Syrien und den Libanon, das dritte auf Aegypten und Saudiarabien.

Die Türkei hat nun der eben geschilderten Sachlage Rechnung getragen. Nachdem sie durch das vorjährige Bündnis mit Pakistan sozusagen die Basis für eine mit den Angelsachsen kooperierende große muselmanische Allianz geschaffen hatte, bemühte sie sich, aus der

Araberliga die am leichtesten überredbaren Mitglieder herauszubrechen, um hernach die anderen arabischen Staaten einzeln oder gesamthaft herüberzuziehen. Als erster Partner kam der Irak an die Reihe, Dort sind der junge König Faisal IL, dessen Oheim und wichtigster Berater, der frühere Regent Prinz Abdillah, dann der jetzige — und oftmalige — Ministerpräsident Sayed Nuri Said zuverlässige Britenfreunde, die beiden Letztgenannten auch erbitterte, nicht nur gefühlsmäßig- Gegner des Kommunismus. Der irakische Regierungschef kam Mitte Oktober 1954 nach der Türkei, und dort wurde in zweiwöchigen Verhandlungen die prinzipielle Uebereinstimmung über ein Militärbündnis zwischen Ankara und Bagdad erzielt. Den anderen arabischen Staaten, insbesondere Aegypten, geschah davon Mitteilung, und es sah zunächst aus. als ob man in Kairo dieser Entwicklung gar nicht abgeneigt wäre. Doch es stiegen schwere Wolken am westasiatischen Horizont auf. Die ägyptischen Bluturteile wider die muselmanischen Brüder erregten lebhafte Erbitterung in den übrigen arabischen Ländern. Zudem verstärkte sich in der Kairoer Offiziersjunta die Strömung, die dem Neutralismus zuneigte und die einerseits von Erinnerungen an die Achse zehrte, anderseits die Brücke zur Sowjetunion nicht abreißen lassen wollte.

Oberstleutnant Nasser hatte zuerst, im vorigen Herbst, sowie er von den türkisch-irakischen Verhandlungen erfahren hatte, Ministerpräsident Menderes zu einem Besuch in Aegypten eingeladen. Allmählich wurden die Reaktionen Kairos auf i wiederholte türkische Artigkeiten immer kühler, und zuletzt ertönten aus Aegypten nur noch offen feindselige Stimmen. Die Türkei wurde beschuldigt. Israel, dem Todfeind aller Araber, ja aller Mohammedaner, den Rücken zu steifen und vordringlich die Sache der Angelsachsen zu verteidigen. Der Zorn steigerte sich, als Ende Dezember Menderes, .unbekümmert um ägyptische Querschüsse, einen Gegenbesuch in Ba-gdad ankündigte und als hernach am 13. Jänner 1955 die Unterzeichnung des sorgsam vorbereiteten türkisch-irakischen Paktes offiziell angekündigt wurde, entfaltete die Regierung Nasser sofort eine emsige Tätigkeit. Durch den Rundfunk wurde die irakische Bevölkerung zum Widerstand gegen die Absichten ihrer verräterischen Machthaber aufgefordert. Die Arabische Liga wurde für den 22. Jänner nach Kairo zu einer Sifeung einberufen, an der die Ministerpräsidenten Aegyptens. Saudiarabiens, Jemens, Syriens, des Libanon, Jordaniens (und ein Abgeordneter Libyens als Beobachter) teilnahmen. Nuri Said aber entschuldigte seine Abwesenheit mit Krankheit. Nach stürmischen Debatten entbot man eine Abordnung der Premierminister nach Bagdad, um dort mit dem Patienten zu konferieren. Das Ergebnis war negativ. Nuri Said beharrte auf dem Pakt, von dem auch die Türken nicht abzugehen dachten.

Sie waren um so weniger dazu geneigt, sich um die ägyptischen Proteste und um die Drohungen eines Sprengens der Arabischen Liga zu bekümmern, als mindestens in Jordanien, wo der Vetter Faisals II. auf dem Throne sitzt und die Engländer ihren Einfluß behalten haben, aber auch im Libanon viel geringerer Ingrimm obwaltet als in Aegypten, in Syrien und im Reich des jüngeren Ibn Saud. Die Türkei beteuerte zwar ihren Wunsch, mit Kairo zu einer Verständigung zu gelangen; Menderes beklagte mit frommem Augenaufschlag, daß es vielleicht mit seinem geplanten Besuch am Nil, im Lenz dieses Jahres, nichts sein werde, im Herzensgründe aber freut man sich in Ankara, den Aegyptern die Hegemonie im Nahen Osten zu entwinden und in einem nicht nur auf dem arabischen Nationalismus gründenden westasiatischen Bunde die erste Rolle zu spielen. Das und die Allianz mit Pakistan bilden zwei Pfeiler einer türkischen Großmachtpolitik; den dritten stellt der Balkanbund dar.

Um ihn durch den Beitritt Italiens auszudehnen und, vierter Eckpfeiler, um die Aufnahme der Türkei in die Westallianz anzubahnen, haben sich Menderes und Köprülü am vorletzten Jännertag nach Rom begeben. Während die Reise nach Bagdad ein voller Erfolg und die nach Beirut, wo man den Libanon zu einem Pakt ähnlich dem mit dem Irak bewegen wollte, ein Mißerfolg war — ein Aufenthalt in Syrien mußte sich, angesichts der Volksstimmung und lauter Protestdemonstrationen auf wenige Stunden beschränken —, war den türkischen Staatsmännern in Italien ein Halberfolg beschieden. Scelba und Martino erklärten sich unter gewissen Voraussetzungen zum Eintritt in den Balkanbund bereit, doch sind eben diese Vorbedingungen nicht glatt zu erfüllen, und sowohl das Verhältnis zu Griechenland — der Zankapfel Zypern — als auch der Hinblick auf Jugoslawiens immer stärker betonte Neutralitätspolitik — Asienreise Titos! — zwingen Ankara zur Behutsamkeit. Sodann hat es mit dem Anschluß der Türkei an die Westallianz noch Zeit; Rom will in dieser Sache intervenieren, muß aber auf mannigfache Hemmnisse gefaßt sein.

Das alles hindert nicht die türkischen Staatsmänner, ihre großzügige Weltpolitik fortzusetzen. Der Besuch CelaI Bayars in Pakistan, die feierliche Unterfertigung des irakischen Bündnisses in Bagdad, der in naher Aussicht stehende Beitritt Großbritanniens zu diesem Pakt, die wahrscheinliche Erweiterung der türkisch-pakistanisch-irakischen Allianz durch den Anschluß Persiens sind bedeutsame Meilensteine auf dem Wege zu einem konsequent verfolgten Ziel. Ein sehr heikler Punkt bleibt freilich offen, und er kann schmerzliche Störungen verursachen, die unüberbrückbare Spannung zwischen Israel und allen arabischen Ländern. Die Türkei vermag nichts Besseres zu tun, als sich auf die Angelsachsen zu verlassen, daß diese den Ausbruch eines militärischen Zweikampfes Israels und der arabischen Staaten verhüten werden. Gelingt das, dann wird die ruhige Staatskunst der Equipe Menderes-Köprülü bestimmt die Oberhand über den ägyptischen Rivalen erringen und ihrem Lande die Führung im Nahen Osten wiedererlangen.

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