6790606-1970_35_09.jpg
Digital In Arbeit

Kein Opfer fur die deutsche Einheit

19451960198020002020

Es gibt sie nicht mehr, die große Dachorganisation, den Zusammenschluß aller deutschen Landeskirchen, die „Evangelische Kirche Deutschlands“. Sie ist der politischen und ideologischen Spaltung Deutschlands zum Opfer gefallen. Wurden alle Möglichkeiten, sie zu erhalten, erschöpft, oder wurde sie zu leicht preisgegeben? Ist es mm ein Sieg des ostdeutschen kommunistischen Regimes oder das Ergebnis kluger taktischer Überlegungen seitens der verantwortlichen Kirchenmänner? — Um die Entwicklung zu verstehen, muß man mehrere Jahre zurückblicken und viele Details beachten.

19451960198020002020

Es gibt sie nicht mehr, die große Dachorganisation, den Zusammenschluß aller deutschen Landeskirchen, die „Evangelische Kirche Deutschlands“. Sie ist der politischen und ideologischen Spaltung Deutschlands zum Opfer gefallen. Wurden alle Möglichkeiten, sie zu erhalten, erschöpft, oder wurde sie zu leicht preisgegeben? Ist es mm ein Sieg des ostdeutschen kommunistischen Regimes oder das Ergebnis kluger taktischer Überlegungen seitens der verantwortlichen Kirchenmänner? — Um die Entwicklung zu verstehen, muß man mehrere Jahre zurückblicken und viele Details beachten.

Werbung
Werbung
Werbung

Schon um die Mitte der sechziger Jahre wurde es als unhaltbarer Zustand empfunden, daß die Organe der EKD, die Synode und der Rat, keine gemeinsamen Tagungen mehr albhalten konnten. Man half sich mit getrennten Zusammenkünften im Westen und im Osten und Meß sich bei der Regelung verschiedener Angelegenheiten freie Hand; doch drängte sich die Frage auf, wie lange die Einheit unter solchen Umständen aufrechterhalten werden könnte.

Im Zusammenhang mit der Einführung einer neuen Verfassung in der DDR sah sich die Kirche dort einem wachsenden staatlichen Druck ausgesetzt. Die Klagen über staatliche Eingriffe in kirchliche Angelegenheiten mehrten sich. Die Rechtsstellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften verschlechterte sich auf Grund des Artikels 39 der neuen Verfassung bedeutend. Was sollte die Kirche tun, um der Schwierigkeiten Herr zu werden? Es war klar, daß man bei allen Überlegungen das Gesamtproblem der Zukunft Deutschlands im Auge behielt. Namhafte evangelische Persönlichkeiten in beiden Teilen Deutschlands erarbeiteten eine Studie, in der sie zu dem Schluß kamen, daß man zunächst mit der Existenz zweier politischer Ordnungen rechnen müsse; für die Wiedervereinigung in absehbarer Zeit sahen sie keine Chance.

Daß das innerkirchliche Gespräch in der EKD eine solche Wendung nahm, sah die Regierung Kiesinger nicht gern, und sie verbot sich die Ratschläge aus kirchlichen Kreisen, die DDR anzuerkennen. Die ostdeutschen Landeskirchen aber zogen die Konsequenzen. Hätten sie der Idee der Deutschen Einheit weitere Opfer bringen sollen? Die spezifischen Aufgaben der Kirche liegen auf einem anderen Gebiet.

Ostdeutsche Politiker stellten drohend fest, daß jede Form des Zusammenschlusses „unter dem Dach der EKD“ nunmehr verfassungswidrig sei. Eine nüchterne Prüfung der Situation ergab, daß die enge Bindung an eine im Westen verwurzelte Organisation nicht länger tragwar war. Der thüringische Landesbischof Dr. Moritz Mitzenheim charakterisierte die neue Lage mit den Worten: „Die Staatsgrenzen der DDR bilden auch die Grenze für die kirchlichen Organisationsmöglichkeiten.“ Dieser Ausspruch wurde später von beiden Seiten oft zitiert. Auf der darin ausgedrückten Erkenntnis basierte die folgende Entwicklung.

Im November 1968 wurde bekannt, daß die Absicht bestand, die acht östlichen Landeskirchen und Kir-provirazen zu einem neuen Kirchenbund zusammenzuschließen, der ihre gemeinsamen Aufgaben „selbständig und unabhängig“ wahrnehmen sollte. Für die Gesetzgebung wurde eine 60köpfige Synode ins Leben gerufen, die Leitung des Bundes wurde in die Hände der Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen gelegt.

Bis Anfang Mai 1969 stimmten alle acht Landeskirchen der Ordnung des Bundes zu. Die feierliche Unterzeichnung durch die Bischöfe erfolgte im Juni. „Der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR“ war gegründet, seine Ordnung trat in Kraft. Die rechtliche Trennung von der EKD war vollzogen. Die Kanzlei der EKD in Ost-Berlin wurde geschlossen.

Solange diese Dange im Fluß waren, hätte man den Eindruck gewinnen können, Staat und Kirche verfolgten die gleichen Interessen und Ziele. Kaum war die Entwicklung aber zu Ende gekommen, zeigte sich nur allzu deutlich, daß von den beiden Kontrahenten sehr verschiedene Zwecke angestrebt wurden.

Der Staat hatte die Isolierung der Kirche vom Westen erzwungen; er hätte es gerne gesehen, wenn sie nunmehr seine Geschäfte besorgt hätte. Die Kirche aber hatte die neue Position bezogen, um — unbelastet mit angeblich hochverratsähnlichen Beziehungen zum imperialistischen und militaristischen Westen — ihren spezifisch christlichen Dienst tun zu können.

Diese Absicht konnte man schon aus der Kirchenibundordnung herauslesen. Als geistliche Standortbestimmung ist dort die Berufung auf die Synode von Barmen im Jahre 1934 anzusehen, deren Thesen das Rüstzeug für den Kampf der Bekennenden Kirche, gegen den totalitären, nationalsozialistischen Staat bildeten. Außerdem enthält die Ordnung ein klares Bekenntnis zur „besonderen Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland“ und zur „Mitverantwortung in partnerschaftlicher Freiheit“. Besonders dieser letzte Artikel der Kirchenbundordnung erregte das Mißfallen der Regierung. Sie ließ ihren Staatssekretär für Kirchenfragen, Hans Seigewasser, gegen diesen Artikel protestieren. Aber als die erste Synode im Septemlber tagte, erklärte der Präses, daß an der Gemeinschaft des Dienstes, des Glaubens und der theologischen Arbeit mit den Kirchen im anderen deutschen Staat „leidenschaftlich“ festgehalten werde. An der Kirchenbundordnung wurde nichts geändert. Da man dem Staatssekretär die kalte Schulter gezeigt hatte, mußte man auf einen Gegenschlag der Regierung gefaßt sein. Er blieb nicht aus. Als eine dreiköpfige Delegation des Kirchenbundes im Dezember nach Genf reisen wallte, um mit dem ökumenischen Rat der Kirchen direkte Beziehungen anzuknüpfen — bisher waren alle Fäden über die EKD gelaufen —, versagte die Regierung dem sächsischen Landesbischof Dr. Gottfried Noth die Ausreisegenehmigung. Da ohne seine Teilnahme keine verbindlichen Abmachungen hätten getroffen werden können, mußte die Fahrt verschoben werden.

Inzwischen hat sich der Kirchenbund auf ökumenischer Ebene internationale Anerkennung gesichert, während die Rumpf-EKD im Westen ihre Umbildung zu einer „Bundeskirche“ in die Wege geleitet hat. Die EKD mußte zerbrechen, weil die Hoffnung auf Wiedervereinigung beider Teile Deutschlands für lange Zeit dahin ist; weil sich quer durch Deutschland nicht nur eine Staatsgrenze, sondern die Demarkationslinie zweier antagonistischer Gesellschaftssysteme hinzieht; weil hier die Reibfläche zweier Weltmachtblöcke ist und im östlichen Bereich äußerste ideologische Intoleranz herrscht.

Kannte man die Stärke und den harten Willen der kommunistischen Machthaber in der Verfolgung ihrer Ziele nicht bereits seit zwanzig Jahren? Wie ist es gekommen, daß die früher oft geringschätzig apostrophierte „Zone“ sich so konsolidieren konnte, daß ihre Eigenstaatlichkeit heute außer Frage steht? Wir erinnern uns an die Aufforderung Nehnus, die DDR anzuerkennen. Damals stufte man seine Worte lediglich als Versuch, einen nicht „hoffähigen“ Staat aufzuwerten, ein. Wie anders ist die Lage inzwischen geworden!

Wie ist es zu diesem Wandel der Dinge gekommen? Haben die bundesdeutschen Politiker, hat der Westen die Zeit verschlafen? Oder verfolgten sie ein falsches Konzept? Waren Adenauers Vorstellungen letztlich nichts anderes als eine Utopie? Muß man ihm politische Kumsichtigkeit vorwerfen? Seine Pläne basierten auf der Voraussetzung, daß die Ausstrahlungskraft der Bundesrepublik, eines freien, demokratischen Staates, in den östlichen Raum hinein sich ständig steigern würde. Diesem Ziel sollte auch ein brillanter wirtschaftlicher Aufstieg dienen. Verschiedene Faktoren, die er und seine Mitarbeiter nicht voraussahen, wirkten im Laufe der Zeit jedoch dahin, daß sich die Erwartungen nicht erfüllten. Da gab es weltpolitische Faktoren. Ein entscheidendes Jahr war 1956. Das Auableiben jeder tatkräftigen Hilfe aus dem Westen zur Zeit des Ungarn-Aufstandes bewirkte eine große Enttäuschung für alle diejenigen in den Ostblockländern, die ihre Hoffnung in irgendeiner Form auf die „Freie Welt“ gesetzt hatten. Man spürte diese Depression eine Reihe von Jahren hindurch. Dann aber trat ein Umschwung ein. Um die Mitte der sechziger Jahre hörte die Bevölkerung drüben auf, verbittert nach dem Westen zu schielen. Das Selbstvertrauen kehrte nicht von ungefähr wieder, und die Bereitschaft, sich mit dem auferlegten Schicksal abzufinden, stellte sich nicht zufällig ein: Den sehr aufmerksamen Beobachtern jenseits des Eisernen Vorhanges blieben gewisse Wandlungen nicht verborgen, deren Wurzeln tief im psychischen Bereich lagen.

Sie entdeckten die schweren menschlichen Mängel, die den wohlhabenden Reisenden aus dem Westen anhafteten; ihr arrogantes Auftreten machte sie unsympathisch. — Vom programmatischen Materialismus angewidert, stellten sie fest, daß auch die Wohlstandsbürger des Westens in der Praxis Materialisten waren, deren ausschließliches Interesse sich auf ihr eigenes Wohlergehen richtete. — Sie registrierten das Verkümmern jeder idealistischen Gesinnung und den Mangel an Opferbereitschaft vieler Vertreter der freien Welt. — Natürlich entging ihnen das Ansteigen der Sexwelle in den westlichen Ländern nicht; diese Beobachtung wirkte besonders dort schockierend, wo noch die Sitte und die Begriffe einer mehr bäuerlichen Lebensordnung lebendig waren.

,J>er imperialistische Westen ist dekadent.“ Diese in allen möglichen Variationen immer wiederkehrende Behauptung der östlichen Propaganda hatten viele Leute dort nicht glauben wollen. Jetzt aber erschien sie ihnen in neuem Licht. Man entdeckte im Osten die eigenen Werte, die man 'bewahrt hatte, neu. Die lange geglaubte moralische Überlegenheit der westlichen Völker im allgemeinen und der Bundesdeutschen im besonderen schwand dahin. Adenauers, Ehlers' oder Erhards Schuld? Vielleicht hätten die Konzi-pienten der Politik des Alleinvertretungsanspruchs ihrem Volk mit Nachdruck einschärfen sollen, daß der von ihnen eingeschlagene Weg zugleich einen Auftrag, eine Aufgabe für das ganze Volk darstellte, und nur dann mit Erfolg zu Ende gegangen werden konnte, wenn dieses Volk gleich der Regierung seine Pflicht erfüllte. Vielleicht dachten jene zu wenig an die Möglichkeit, ihr Volk, von dem sie sich verstanden wähnten, könnte versagen, könnte an Niveau verlieren, moralisch absinken. Vielleicht ließ ihre eigene unibezweifelbare persönliche Integrität solche Befürchtungen gar nicht aufkommen.

Wenn von Schuld gesprochen wird, so trifft sie alle diejenigen, die — meistens um persönlicher Bereicherung willen — bedenkenlos an den Grundlagen des abendländischen Sittengefüges gerüttelt halben, aber auch die vielen, die ohne Rückgrat, ohne Zivilcourage, ohne eigene bessere Uberzeugung vom Strome sich treiben und im übelsten Sinne manipulieren lassen.

Eine eingeschobene Frage: Befinden wir uns in Österreich nicht ebenfalls auf diesem Wege, legen wir ihn nicht mit steter Beschleunigung zurück? Von der Teilung der EKD war die Rede. Der tiefste Grund, der dazu führte, war der moralische Substanzverlust des Westens, der den Ostdeutschen die Entscheidung für ihren Staat erleichterte.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung