6655894-1959_29_10.jpg
Digital In Arbeit

Kein zweiter Eiserner Vorhang!

Werbung
Werbung
Werbung

Erst in jüngster Zeit erwacht in der österreichischen Oeffentlichkeit wieder ein Verständni: für die lange vergessenen Aufgaben, die unse rem Lande in seiner aus historischen und geo politischen Gründen erwachsenen Mittlerstellung zwischen Ost.und West zukommen.

Wie steht es derzeit mit den Einrichtungen und sonstigen Voraussetzungen zur Erfüllung all der Aufgaben, die Oesterreich aus seinen mannigfaltigen und engsten Beziehungen und Berührungen mit der slawischen Nachbarweh erwachsen und deren erfolgreiche Bewältigung heute nicht weniger verantwortlich und wichtig ist als zur Zeit der Monarchie?

I.

Die slawische Philologie ist eine mit der historischen Methode arbeitende Wissenschaft. Man kann wohl ein tieferes Verstehen auch vieler gegenwärtiger Erscheinungen des slawischen Lebens nur im Wege seiner geschichtlichen Herleitung erreichen. Es muß aber betont werden, daß das Studium der slawischen Philologie von der ganz anderen Aufgaben dienenden aktuellen Ostforschung klar und zweckmäßig zu trennen ist. Jedenfalls können der Universitätsslawistik, wie dies in letzter Zeit in der Presse des öfteren geschehen ist, nicht Versäumnisse auf dem Gebiet der „aktuellen Ostforschung" angelastet werden. Es kann von einem Institut für slawische Philologie zum Beispiel nicht erwartet werden, daß es Auskünfte etwa über sowjetisches Handelsrecht oder über Marktprobleme Polens oder Jugoslawiens erteilt. Wollten Slawisten-Philologen sich verleiten lassen, sich in den aktuellen Fragen der Ostforschung, etwa in der in der Oeffentlichkeit heute viel diskutierten Ost-West-Problematik, allzusehr zu engagieren, so liefe die Universitätsslawistik Gefahr, den festen Boden unter den Füßen zu verlieren und als Wissenschaft zu versanden. Slawische Philologie ist wesentlich Grundlagenforschung.

Ueberdies reicht der gegenwärtige Personalstand der österreichischen Slawistik bei weitem nicht aus, ui» auch nur ihre spezifisch wissenschaftlichen Atffgäben in dfem Mäßd'žU'bV&ilfi- gen, Wie ės "der Tradition üridMfen'fifeüfigeh Anforderungen dieses Faches in unserem. Lande entsprechen würde. Während schon um 1900 an der Universität Wien drei und an der Universität Graz zwei slawistische Professuren tätig waren, muß heute dieses inzwischen immens angewachsene Fachgebiet, das die gesamte slawische Sprachwissenschaft, die Literatur- und Geistesgeschichte von zehn slawischen Völkern und dazu Volkskunde und Altertumsforschung umfaßt, in Wien und Graz von je einem Professor vertreten werden. Dieser unerträgliche Notstand bedingt eine Ueberlastung der beiden Lehrkanzeln, die zwangsläufig sowohl auf Kosten der Vollständigkeit des akademischen Unterrichts wie auch der wissenschaftlichen Forschung gehen muß und der einstigen Universalität und dem Ansehen der österreichischen Slawistik schweren Schaden bringt. An der Universität Innsbruck besteht derzeit noch überhaupt kein slawistischer Lehrstuhl. Man begnügt sich derzeit damit, einen Privatdozenten (titl. Professor) einige Vorlesungen über Altkirchenslawisch und russische Literatur und Sprache halten zu lasen. Für das Fach osteuropäische Geschichte aber, das. territorial den ganzen mittleren und östlichen Teil unseres Kontinents, die geschichtliche Entwicklung sämtlicher slawischer Länder und dazu noch Ungarn und Rumänien zu umfassen hat, gibt es derzeit an der Universität Wien eine einzige Professur für ganz Oesterreich.

Der Zustand völliger Unzulänglichkeit, ja Hilflosigkeit der österreichischen Slawistik wird besonders kraß, wenn man bedenkt, was heute für dieses Fach in anderen westlichen Ländern getan wird. Der Sieg des bolschewistischen Rußland im letzten Krieg, die Errichtung der slawischen Satellitenstaaten und deren Vereinigung zu einem bedrohlichen kommunistischen Machtblock hat überall in den westlichen Ländern einen Schock ausgelöst, der den sofortigen großzügigen Ausbau der Slawistik in diesen Ländern zur Folge hatte. So bestanden auf dem Boden des heutigen Deutschland vor 1945 slawistische Lehrstühle nur in Berlin, Leipzig, München und Hamburg. Zu diesen kamen jedoch in den letzten zehn Jahren nicht weniger als 13 slawistische Lehrstühle hinzu, weitere drei werden demnächst zur Besetzung gelangen, so daß Deutschland dann über nicht weniger als 20 slawistische Lehrkanzeln verfügen wird — in Oesterreich sind es derzeit noch immer zwei. In England, wo vor dem letzten Krieg an keiner Universität slawische Philologie betrieben wurde, wurden seither an jeder Universität ein bis zwei Professuren für dieses Fach geschaffen. In den Vereinigten Staaten aber, wo vor 1945 von Slawistik überhaupt nicht die Rede war, wurden in den letzten zehn Jahren mehr als 45 slawistische Lehrstühle geradezu aus dem Boden gestampft und zum Teil mit hochwertigen, meist aus der slawischen Emigration stammenden Kräften besetzt.

Nur in Oesterreich, dem Land unmittelbar am Eisernen Vorhang, ist ein solcher Schock bisher nicht eingetreten! Nach zehnjährigem Bemühen kann erst in diesem Jahr die im Jahre 1945 an der Universität Wien stillgelegte zweite slawistische Lehrkanzel wieder besetzt werden. Man wird weitere gewaltige Anstrengungen machen müssen, um das, was am Ausbau unserer Slawistik seit 40 Jahren vernachlässigt worden ist, aufzuholen und die einst vorbildliche österreichische Slawistik wenigstens mit den westlichen Ländern, die uns heute bereits überflügelt haben, wieder konkurrenzfähig zu machen — ganz zu schweigen von den slawischen Ländern, an deren Universitäten und Akademien die slawistischen Disziplinen, besonders die Sprach- und Literaturwissenschaft, mit einer imponierenden Zahl von vielfach erstrangigen Forschern und vielen Hilfskräften und mit der großzügigen Förderung von Seiten des Staates arbeiten und seit den letzten 40 Jahren eine erstaunliche Entwicklung genommen haben.

Mit dieser Entwicklung hat Oesterreich nicht nur nicht Schritt gehalten, sondern im Gegenteil den im Jahre 1918 schon erreichten Personalstand der Slawistik noch um die Hälfte reduziert. Der rascheste Ausbau des Personalstandes ist somit das dringendste Erfordernis der österreichischen Slawistik. Vor allem wäre das an der Universität Graz bis 1918 vorhandene Extraordinariat für slawische Philologie wįpderherzustellen. An der Universität Wien abgj, mit ihrer ruhmvollen slawistischen Vergangenheit, müßte: dieses Fach, zunäclpt sp weit ausgebaut werden, daß es imstande wäre, wieder das ganze Fachgebiet slawische Philologie in allen seinen Teilen: Sprache, Literatur, Volkskunde, slawisches Altertum, zu umfassen und wenigstens in seiner wichtigsten Problematik auch forschungsmäßig zu vertreten. Hierzu müßten in Wien neben den nun zwei Ordinariaten, die durch die pädagogischen und wissenschaftlichen Aufgaben der Sprach- und Literaturforschung für zehn slawische Völker mehr als voll ausgelastet erscheinen, noch je ein Extraordinariat für slawische Volkskunde und für slawische Altertumsforschung geschaffen werden.

II.

Ebenfalls unzulänglich steht es in Oesterreich mit der Kenntnis slawischer Sprachen. Ueber- schreitet der Oesterreicher die engen Grenzen seiner Heimat im Norden, Süden oder Osten, so steht er Menschen gegenüber, für die er stumm bleibt. Nur die Sprache eröffnet in einem fremden Land den Zugang zu den Menschen, sie ist die primäre und elementarste Voraussetzung für die Entwicklung jeglicher menschlicher, wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen zwischen den Völkern. War bis vor kurzem der Bedarf an slawischen Sprachkenntnissen bei uns noch notdürftig gedeckt durch die Rückwanderer und Optanten aus den slawischen Teilen der alten Monarchie nach dem Jahre 1918, so stirbt diese Generation nun aus: unsere Jugend aber an die slawischen Sprachen heranzubringen fällt außerordentlich schwer. Besteht doch bei dem durchschnittlichen Oesterreicher eine merkwürdige Scheu vor dem Slawischen, die, je mehr es in Oesterreich gegen Westen geht, zunimmt. Zum Teil hat diese Hemmung seinen Grund in einer noch sehr verbreiteten minderen Einschätzung des slawischen Menschen — in der Hitler-Zeit wurde diese Auffassung sogar bewußt gepflegt. Ferner fehlt es gerade heute vielfach an dem unmittelbaren Anreiz zur Erlernung slawischer Sprachen — man wird derzeit kaum eine Vergnügungsreise in die Tschechoslowakei oder nach Polen unternehmen oder sich in einem volksdemokratischen Land eine Existenz suchen. Hinsichtlich der russischen Sprache beginnt sich eine andere Auffassung bereits anzubahnen. Wir brauchen aber ebenso dringend die Sprachen unserer nächsten Nachbarn, das Tschechische, Serbokroatische und Slowenische, und zwar nicht so sehr wegen ihres Bildungswertes, der ja gewiß höher einzuschätzen ist, als man bei der mangelnden Kenntnis der slawischen Kultur- und Geistesentwicklung bei uns annimmt. Es erweist sich heute auf Schritt und Tritt, daß es uns für viele rein praktische Notwendigkeiten an Leuten fehlt, die eine slawische Sprache sprechen, sei es im Auslandsdienst, für unsere Gesandtschaften und Konsulate, unsere Handelsdelegationen, für die große Auslandsarbeit unserer Industrie und Wirtschaft, für viele immer wiederkehrende Bedürfnisse im kulturellen Leben, wie die Einrichtung von Ausstellungen, österreichischen Lesehallen in slawischen Ländern und anderes mehr. Dasselbe gilt auch für unsere Inlandsarbeit, deren zahllose Notwendigkeiten hier nicht aufgezählt werden können. Es sei nur zum Beispiel darauf hingewiesen, daß heute die Redakteure von Wiener Zeitungen, die eine slawische Sprache kennen, an den Fingern einer Hand aufzuzählen sind, und daß Berichterstatter unserer Zeitungen mit langen Reportagen aus der Sowjetunion oder Polen heimkehren, ohne sich mit Menschen dieser Länder unterhalten oder die dortigen Zeitungen ge-

Man kann wohl teststeilen, dali die Zahl der Teilnehmer an den slawischen Sprachkursen von Jahr zu Jahr, wenn auch langsam, so doch stetig, zunimmt. Daß Russisch, welches im Begriff ist, eine mit Deutsch, Englisch und Französisch gleichrangige Weltsprache zu werden, den anderen slawischen Sprachen vorgezogen wird, ist verständlich. Doch steht das viel zu geringe Interesse für Serbokroatisch und Tschechisch, die Sprachen unserer unmittelbaren Nachbarn, mit denen wir praktisch viel mehr Berührungen haben, hierzu noch in keinem richtigen Verhältnis. Hier wird sich eine den österreichischen Gegebenheiten und besonders der alten kulturellen und wirtschaftlichen Verbundenheit des Donauraumes besser entsprechende Auffassung durchsetzen müssen.

Einen ganz großen, noch viel zuwenig beachteten Fortschritt bedeutet die Einführung des Unterrichts slawischer Sprachen an Mittel-

D'ies ist ein noch sehr zögernder Anfang. Bei einem zielstrebigen weiteren Ausbau des slawischen Spradiun’-errichtes könnte aber ein merkbarer Erfolg in etwa einem Jahrzehnt bereits zu spüren sein. Es muß hierfür wohl noch die weiter erforderliche Anzahl von Lehrern an den Slawistischen Instituten der Universitäten herangebildet werden. Da die slawischen Sprachen an Mittelschulen derzeit noch meist nur als Fieigegenstand und obligat nur als Wahlfach gewählt werden, diese Wahl aber von der Zustimmung der Eltern der Schüler abhängt — auch die Auffassung des Direktors der lesen zu haben. In den Instituten und Bibliotheken unserer Hochschulen liegen mächtige Stapel wissenschaftlicher — medizinischer, technischer, naturwissenschaftlicher — Literatur, die uns aus den slawischen Ländern im internationalen Schriftentausch regelmäßig geliefert wird, und es ist ein Zufall, wenn einer unserer Wissenschaftler diese auch lesen kann.

Dies alles ist um so bedenklicher, als es an Möglichkeiten, slawische Sprachen zu lernen, bei uns keineswegs fehlt.

Schon seit Jahrzehnten hat die Unterrichtsverwaltung für den Unterricht slawischer Sprachen an unseren Hochschulen weitgehend Vorsorge getroffen. So bestehen zum Beispiel an den Universitäten Wien und Graz für die Hörer aller Fakultäten bequemste Gelegenheiten, sich neben dem Fachstudium auch die gründliche Kenntnis einer beliebigen slawischen Sprache anzueignen. Wie wenig aber werden diese Einrichtungen von der akademischen Jugend benützt! Im folgenden die amtlichen Ziffern der Frequenz der Lektorate für slawische Sprachen an einigen österreichischen Hochschulen für das Wintersemester 1957 58:

schulen seit dem Jahre 1945, und zwar des Russischen, Serbokroatischen, Tschechischen und Slowenischen, welche Sprachen als Freigegenstand oder als erste und zweite obligate Fremdsprache gelernt werden können. Hierbei vertritt die oberste Unterrichtsbehörde die Auffassung, daß an Mittelschulen, an denen zwei moderne Fremdsprachen unterrichtet werden, nach Möglichkeit eine des Westens (Englisch, Französisch) und eine des Ostens (also eine slawische Sprache) zu wählen sei. Erst durch die breite Auswirkung der Mittelschulen könnte eine wirksame Abhilfe in dem derzeitigen empfindlichen Mangel an Menschen mit slawischen Sprachkenntnissen in Oesterreich erreicht werden. Das derzeitige Ausmaß des slawischen Sprachunterrichtes an diesen Schulen ist jedoch noch keineswegs ermutigend. So wurden im Schuljahr 1957 58 an staatlichen und nichtstaatlichen Mittelschulen unterrichtet'

Anstalt spielt hier eine Rolle —, wird es noch einer breiteren Aufklärung bedürfen, um in der Oeffentlichkeit das Verständnis für die Notwendigkeit der slawischen Sprachen als obligaten Lehrgegenstand an Mittelschulen zu wecken. Im Hinblick auf die besondere Lage Oesterreichs und seine Aufgaben als Brücke zur slawischen Welt wäre es durchaus zu vertreten und als Ziel unserer Schulpolitik anzustreben, daß irt einer entsprechenden Anzahl, etwa in einem Viertel der Mittelschulen, Russisch als Pflichtfach, und nicht wie bisher nur als relativ obligat oder Freifach, unterrichtet werde.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung