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Kemal Atatürk starb viel zu früh

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Während die Augen der Welt mit gewisser Besorgnis auf die wirtschaftliche Katastrophenlage der Türkei gerichtet sind, deren Auslandsschulden längst die Milliardengrenze mehrfach überschritten haben, zeichnen sich seit vier bis fünf Jahren eigenartige Tendenzen in der religiösen Entwicklung ab, die im allgemeinen unbeachtet blieben.

Denn die wirtschaftlichen Veränderungen sind augenfälliger. Längst wissen alle Bewohner der Türkei, daß der Index der Lebenshaltungskosten zwar um mehr als 400 Prozent — im Verlauf eines Jahrzehnts — gestiegen sind, selbst Dinge wie Käse, Aspirin, Eier, Papier und Ersatzteile aller Art, um nur einiges zu nennen, aber zu Seltenheiten geworden sind. Von Kakao und Kaffee ganz zu schweigen, die seit mehr als zwei Jahren völlig vom Markt verschwunden sind.

Es fällt im Vergleich dazu weniger auf, wenn sich in der religiösen Entwicklung gewisse Linien abzeichnen, die zu nicht minder großer Besorgnis Anlaß geben müssen.

Die Türkei war bis zum 10. April 1928 ein islamischer Staat. Kemal Atatürk, der große Staatsmann und Begründer der türkischen Republik, brachte vor der Großen Nationalversammlung den Abänderungsvorschlag von Artikel 2 des Verfassungsgesetzes ein, der bisher folgendermaßen gelautet hatte: „Die Religion des türkischen Staates ist der Islam, seine offizielle Sprache ist das Türkische, seine Hauptstadt ist Ankara.“

In diesem Artikel wurde der erste Abschnitt durch einstimmigen Beschluß aufgehoben, so daß er nun folgende Form hatte: „Die offizielle Sprache .des türkischen Staats ist das Türkische, seine Hauptstadt ist Ankara.“

Seit diesem Tag datiert die Trennung von Religion (Islam) und Staat: „Die Nation faßt ihre einzelnen Mitglieder nicht mehr mit dem Band der Religion und des Bekenntnisses, sondern statt dessen mit dem Bande des türkischen Nationalismus zu einer Einheit zusammen“ (Atatürk).

Man darf dem Reformer Atatürk die Ehrlichkeit seiner Worte glauben: In zäher Kleinarbeit und fortgesetzter Initiative schaffte er den Fes ab und erließ ein eigenes „Hutgesetz“, das Kopfbedeckungen ohne Krempe verbot. Er hob die Derwischorden und ihre Klöster auf, beseitigte die Islamschulen (Medrese) und die islamischen Gerichte, hob das Kalifat auf und änderte die Eidesformel, in der statt der Anrufung Gottes die Formel: „Ich versichere bei meiner Ehre“ trat.

Aber Kemal Atatürk starb 1938, viel zu früh, um seine durchgreifenden Reformen so fest zu verankern, daß ihre dauernde Durchführung gesichert blieb. Der gegenwärtige Ministerpräsident, Adnan Menderes, der zur Sicherung seiner Macht sage und schreibe 15.000 Moscheen in den Dörfern errichten ließ, hatte schon am 6. Dezember 1952 in einer Rede im Baumwollzentrum Adana erklärt: „Die türkische Nation ist mohammedanisch und wird mohammedanisch bleiben. Es ist niemandes Absicht, in diesem Lande die Gewissensfreiheit anzugreifen. Wirklich gläubige und treue Mohammedaner können der Gewissensfreiheit vollkommen sicher sein.“

Der islamische Religionsunterricht schien wieder (als Wahlfach) im Lehrprogramm auf, die schwarzen Umhängtüchef der Vergangenheit erobern die „Frauenmode“ auch in den Städten immer mehr, und der alte Gruß „Selam aleyküm“, den man vor einem Jahrzehnt in der Stadt kaum hörte, wird von Tag zu Tag mehr verwendet.

Fast auf den Tag, genau nach 30 Jahren, wird sich auch die Eidesformel bei Gericht ändern: man wird etwas nicht mehr bei seiner Ehre versichern, sondern wie in früheren Zeiten bei Allah schwören. Und am 9. Februar 1958 brachte der Abgeordnete von Nevschehir, Münip Hayri Uergüplü (Demokratische Partei), bei der Verfassungskommission einen Antrag ein, demzufolge Paragraph 175 des türkischen Strafgesetzes abgeändert werden soll. Es handelt sich hierbei um den Religionsstörungsparagraphen. Interessant ist hierbei vielleicht weniger die neue Formulierung des Gesetzes allein — da* Beleidigungen Gottes und seines Propheten sowie vom Kultgegenständen mit Gefängnisstrafen von drei Monaten bis zu einem Jahr ahndet, im Falle einer tatsächlichen Handlung in der doppelten Höhe — als die Vorgeschichte dazu.

Die Zeitschrift „Akis“ (Der Widerhall) hatte am 29. Juni 1957 in einem Artikel die Meinung vertreten, daß man Mohammed, den Propheten, als Wüstenbeduinen bezeichnen müsse. :!. Seine Lehre, der Islam, stelle eine Ideologie dar, die dem türkischen Volk nicht angemessen sei.

Der Widerspruch, den dieser Artikel hervorrief, stammt im wesentlichen aus zwei Quellen. Vielleicht wäre man geneigt, die Tatsache, daß der Islam seit Jahren in der Türkei wieder im Kommen ist, als den stärkeren Faktor zu werten, doch erstreckt sich der Aktionsradius des „Akis* nur auf intellektuelle Kreise und keineswegs auf die Landbevölkerung Anatoliens, die dem Islam am meisten ergeben ist. Weit schwerer hingegen wog der Name jenes Mannes, der als Herausgeber des „Aki“ zeichnet: Metin T o k e r. Er gehört der Opposition an und ist überdies noch der Schwiegersohn Ismet Inönüs, des ehemaligen türkischen Staatspräsidenten. So konnte man zwei Fliegen auf einen Schlag treffen: einerseits die Opposition (Halk Partisi = Volkspartei) als religionsfeindlich hinstellen, anderseits die blindgläubigen und urteilslosen Anatolier in ihren überkommenen Vorstellungen bestärken, sie fester an die gegenwärtige Regierungspartei binden. Und noch eine dritte Fliege traf man: man konnte die arabischen Nachbarn, in deren Augen die Türkei seit den Reformen Atatürks nicht mehr als rein islamisch galt, durch das Band einer gemeinsamen Religion enger an sich fesseln, was besonders in der gegenwärtigen Situation nicht gerade ungünstig erscheint: „Nicht nur das große türkische Volk und seine Volksvertretung, nicht nur unsere Volksgemeinschaft, die ganze islamische Welt ist auf das tiefste verwundet und wird solche Worte oder Artikel auf keine Weise erlauben oder zulassen.“

Weiter begründet der Gesetzesvorschlag die Richtigkeit seiner Gedanken seltsamerweise aus dem Christentum. Das Argument ist seltsam genug: Im Islam seien Propheten bloß Gesandte Gottes, die in seinem Auftrag seine Befehle verkündeten. Das Christentum aber spreche seinem Propheten (Christus) sogar die „Göttlichkeit“ im Rahmen der Trinität zu (ein selten verwendeter arabischer Terminus, der den meisten Türken nicht geläufig ist, mußte herangezogen werden, um den Begriff der „Trinität“ wiederzugeben). Es sei also nicht möglich, Gott von seinem Propheten zu trennen. Quod erat demonstrandum .,.

Als am 17. Februar über diesen Gesetzesvorschlag in der „Großen Nationalversammlung“ verhandelt wurde, verlief die Sitzung im höchsten Grade stürmisch. Die Sprecher der Regierungspartei warfen der Halk Partisi Gottlosigkeit vor, fanden aber auch in ihren eigenen Reihen kräftigen Widerspruch. Noch ist es nicht soweit, daß ein solches Gesetz, das den ersten Schritt zur Rückkehr in die alten Verhältnisse bedeutet, da die Türkei offiziell als islamischer Staat galt, durchgehen kann. Noch nicht.

Aber der Ministerpräsident Adnan Menderes hat durch diesen Gesetzesvorschlag den ersten Probeschuß abgeben lassen, um zu sehen, wie weit er gehen kann, wenn er sich an die religiösen Ueberzeugungen seiner Wähler wendet. Das Ergebnis war für ihn keineswegs enttäuschend: Worte fielen, wie, daß 500 Millionen Mohammedaner dieses Gesetz begeistert aufnehmen würden, Worte, denen zufolge man den Geltungsbereich des Gesetzes noch ausdehnen müsse...

Trotzdem: noch ist es nicht soweit. Acht Tage später, am 24. Februar, nahmen die Debatten Formen an, die den Beobachter zwischen den Bezeichnungen „Saalschlacht“ oder „Bürgerkrieg“ wählen lassen konnten. Die Abgeordneten bewarfen einander mit allem, was nicht niet-und nagelfest war, Büchern, Aktentaschen und sonstigen Mobilien. Sie schlugen mit den Fäusten aufeinander ein und zertrümmerten die Einrichtung des Sitzungssaales zu Kleinholz.

Jetzt.ist es still geworden um das Thema: der Untergang des Lokaldampfers im Golf von Ismit mit hunderten Todesopfern lenkte die Augen der Nation einstweilen auf einen anderen Punkt.

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