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Kennedy und die alten Leute

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Der amerikanische Senat hat das von Präsident Kennedy befürwortete Gesetz, dii Krankenfürsorge für über fünfundsechzdg Jahre alte Personen in die geltende Sozialversicherung mit ganz bestimmten Vorschriften einzu-beziehen, mit 52 gegen 48 Stimmen abgelehnt*.. | twrisifl aiusJ nsgai

Es (ist dabei nicht uninteressant, daß die Gegner der Vorlage, wie eine — typisch amerikanische! — Statistikergruppe sofort feststellte, rein zahlenmäßig nur 73 Millionen der Bevölkerung (41 Prozent) vertreten, während ihre Befürworter 105 Millionen (59 Prozent) repräsentieren!

Die amerikanische und auch die internationale Presse hat das Abstimmungsergebnis fast einhellig als eine Niederlage des Präsidenten auf dem Feld der Innenpolitik registriert. Das ist nur teilweise richtig.

Im November finden die alle zwei Jahre fälligen Ergänzungswahlen zum Kongreß statt. Die erste Ablehnung seiner sozialpolitisch wesentlichsten Initiative durch einen „reaktionären“ Kongreß gibt Kennedy, seiner Partei, vor allem aber dienen in ihr, die sich zu den „New Frontiers“ bekennen, deren Herzstück die „Medicare“ nicht nur während der Wahlkampagne war (das heißt, die Übernahme der Verantwortung durch den Staat für die „alten“ Staatsbürger!) Gelegenheit, sich direkt an dias Volk zu wenden und mit dem Versprechen die Gegenaktionen der amerikanischen Ärzteorganisation („American Medical Association“), die, wie es heißt, sieben Millionen Dollar in einer gegen Kennedys Vorlage gerichteten Propaganda investiert hat, durch eine Entscheidung für liberale Kennedy-Kandidaten zu konterkarieren!

Der Kampf um Medicare ist in keiner Weise entschieden!

Die Zwischenwahlen zum Kongreß — in denen der Präsident diesen Programmpunkt immer wieder als verpflichtend für seine Anhänger herauszustellen beabsichtigt — werden, wie man hofft, es ermöglichen, dieses Programm noch einmal den Volksvertretern vorzulegen, nachdem seine Bedeutung unmißverständlich klargemacht worden sein wird.

Und etwa die folgenden Tatsachen dem Wähler ins Bewußtsein gerückt worden sind:

Zur Zeit gibt es 17 Millionen Amerikaner, die das 65. Lebensjahr überschritten haben. Im Jahr 1967 wird ihre Zahl auf 20 Millionen, 1972 auf 23 Millionen gestiegen sein.

Ärztliche Statistiken zeigen, daß diese älteren Leute dreimal so oft Krankenhausbehandlung benötigen wie jüngere Bevölkerungsgruppen, daß ihre Ausgaben dabei — da die Zeit der Hospitalisierung im Durchschnitt doppelt so lang ist wie bei diesen — auch doppelt so hoch sind. ! “Ihr ' durchschnittliches „Jahreseini kommerr“ irtdessen ist nur-halb so hoch: zirka 2500 Dollar. Aber 55 Prozent derer, die allein leben, verfügen nur über weniger als 1000 Dollar im Jahr!

Dabei ist die Anfälligkeit älterer Leute für chronische Krankheiten (Herzkrankheiten, Krebs, Arthritis usw.) doppelt so hoch wie bei jüngeren. Drei Viertel aller nicht krankenhausreifen Personen, die über 65 Jahre alt sind, haben eine oder zwei chronische Krankheiten.

Neun von zehn Personen, älter ala 65 Jahre, müssen einmal vor ihrem Tode ins Krankenhaus; zwei von drei müssen das Hospital zwei- oder dreimal aufsuchet!. Kosten für Medizin und Pflege haben auf der anderen Seite ssit 1950 um 47 Prozent zugenommen: der Lebemslialnmgsindex im allgemeinen ist nur um 23 Prozent gestiegen.

Krankenhauskosten sind fast um da Doppelte gestiegen: durchschnittlich auf 35 Dollar pro Tag. Es steht zu erwarten, daß sie pro Jahr um acht bis zehn Pozent weiter Siteigen.

Arztkosten stiegen zirka um 39 Prozent.

Brechen wir ab. Kann man sich wundern, wenn die Altersrentner unruhig werden und das Gefühl haben, von den Vertretern der beiden großen Parteien im Kongreß praktisch im Stich gelassen zu werden, daß in Zuschriften an Zeitungen bereits der Gedanke einer „dritten Partei“ der sich verlassen vorkommenden Altersrentner aufgetaucht ist?

Das durchschnittliche „Einkommen“ aus der Altersrente von 74 Dollar monatlich erlaubt nirgends, in Krankheitsfällen sich sachgerecht behandeln zu lassen, wenn nicht der eine oder andere sich rechtzeitig eine private Krankenversicherung eingerichtet hat (für die er ja im übrigen auch aus einer Rente ungefähr dieser Höhe zahlen muß!).

Ungefähr 14 Millionen der über 65 Jahre alten Personen würden durch die von Präsident Kennedy angeregte sogenannte „Anderson-King-Bill“ als Teil der bereits gesetzlich geregelten Sozialversicherung in den Genuß folgender Erleichterungen gekommen sein — wenn der Kongreß zugestimmt hätte:

• Vollständige Krankenhausbehandlung — neben der Inanspruchnahme des Doktors — für 90 Tage, nach Bezahlung von zehn Dollar pro Tag für neun Tage (mindestens 20 Dollar).

• Geschulte Krankehschwesterpflege nach dem Krankenhausaufenthalt bis zu 180 Tagen.

• Ärztliche Sonderuntersuchungen, einschließlich Röntgenaufnahmen und Laroratoriumsdienst, nach Einzahlung von 20 Dollar.

• Ärztliche Aufsicht bis zu 240 Besuchen im Jahr, einschließlich Krankenschwester, Therapie und häuslicher Hilf.

Vergleicht man diese Vorschläge mit dem Status quo/ dem sich heute in den Vereinigten Staaten der ältere, nicht mehr arbeitende Staatsbürger in Krankheiitsfällen gegenüber-sieht, so begreift man die tiefe Enttäuschung, die einen nicht kleinen Teil der Wähler ergriffen hat, als der Kongreß sie ablehnte.

Präsident Kennedy kämpft für sie aus Gründen der Menschlichkeit, aber er weiß auch, daß an seiner Fähigkeit, sie im neuen Kongreß durchzudrücken, zu einem beträchtlichen Maß sich entscheidet, ob die Nation, das heißt der „kleine Mann“, ihm weiterhin Vertrauen schenken wird.

„Medicare“ ist — innenpolitisch gesehen — die Bewährungsprobe der „New Frontiers“. Gelingt es dem Präsidenten, sie gegen den Widerstand der (meisten) Republikaner und der ihn hassenden Süddemokraten im neuen Kongreß zur Annahme zu bringen, wird das ein Symptom dafür sein, daß das Weiße Haus sich in den nächsten zwei Jahren auf die Zusammenarbeit mit einem Kongreß verlassen kann, dem die Öbstruktionschancen des letzten zum großen Teil genommen sein werden.

Alle seine Freunde werden sich um ihre Sitze im Parlament mit dem Gelöbnis bemühen, „Medicare“ zu erzwingen. Es besteht die Hoffnung, daß Millionen von Wählern ihnen das „grüne Licht“ geben werden. Ändert sich die Zusammensetzung des Kongresses nicht, wird mit der „Bill- Anderson King“ möglicherweise Kennedy in der Tat sozialpolitisch von der Reaktion demonstrativ k. o. geschlagen.

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