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Kettenreaktion Stalin

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Drei Meldungen vom Tage:

Auf dem Roten Platz vor dem Lenin-Mausoleum, auf dem Swerdlow- Platz vor dem neuen Karl-Marx-Denk- mal, in der Gorki-Straße vor dem Denkmal des Dichters Majakowskij, versammeln sich täglich Hunderte von Menschen zu politischen Streitgesprächen. In einer bisher undenkbaren Offenheit werden da heiße Eisen der sowjetischen Politik angegriffen. Moskau. 2. November 1961.

„Unter der Herrschaft des Stalinisten Walter Ulbricht sind heute 16 Millionen Angehörige der deutschen Bevölkerung den gleichen Terrormethoden ausgesetzt wie das sowjetische Volk unter der Regierung Stalins.” Dieser Satz steht in einem Brief der „Vereinigung der Opfer des Stalinismus”, Landesgruppe Berlin, an den sowjetischen Ministerpräsidenten Chruschtschow. Dieser Brief wurde über die sowjetische Botschaft in Bonn an den Kreml weitergeleitet.

In diesem Brief erklärten dessen Verfasser: Die Verurteilung der unter Stalins Regierung begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf dem XXII. Parteitag der KPdSU in Moskau habe der Vereinigung die Veranlassung zu ihrer Stellungnahme gegeben.

Berlin, am 5. November 1961.

„Sie haben soeben enthüllt, wie Stalin die Ermordung von Sergej Kirow als Vorwand zu Provokationen gegen die alten Bolschewiki benutzte. Ich fordere Sie auf, vollständig und öffentlich den Moskauer Prozeß zu überprüfen, in dem Leo Trotzld und mein Sohn Leo Sedow die Hauptangeklagten waren. Ich verlange eine umfassende und öffentliche Untersuchung der von der GPU gegen Trotzki angewandten Mittel, seiner Ermordung in Mexiko sowie über diejenigen, die das Verbrechen veranlaßten und ausführten.”

Das steht in einem Brief der Witwe Leo Trotzkis an den Obersten Sowjet und an das Zentralkomitee der KPdSU, der soeben über Paris bekannt wurde.

Moskau, Berlin, Paris, Sofia (wo soeben der „Stalin-Bezirk” in „Lenin- Bezirk” umbenannt wurde), Tokio, Peking, Washington, London, Rom, Wien…: Es gibt keine Wohnstatt von Menschen auf dieser Erde, die durch die Kettenreaktion Stalin nicht betroffen ist. Niemand weiß, in welchen Richtungen diese Reaktion als nächstes zünden wird. Niemand weiß, ob sie demnächst nach vorne oder nach hinten losgehen wird: welche Reaktionen sie im Raum der UdSSR, des Weltkommunismus, des chinesischen Reiches auslösen wird. Diese Reaktionen, mögliche und als „unmöglich” erachtete, unabsehbare Reaktionen, sind gewichtiger als das an sich bereits schwere Bündel von Fragen: Welche Koppeln von Hunden, von Sorgen haben Nikita S. Chruschtschow veranlaßt, die Kettenreaktion Stalin gerade jetzt mit Schnellzündungen voranzutreiben?

Wer den zweiten Weltkrieg im Ostraum miterlebt hat, vergißt nie diesen Eindruck: Raketen steigen auf, Leuchtspurgeschosse beleuchten einen eben noch in Nacht, Eis, Winterkälte erstarrten toddunklen Raum.

Mit der Großanklage gegen Stalin auf dem XXII. Parteitag, vor allem aber mit der Überführung Stalins aus dem Lenin-Mausoleum, hat Chruschtschow zunächst einmal eine Serie von Raketen abbrennen lassen, die die Winterlandschaft des in Nacht, Nebel, Blut und Schrecken erstarrten stalini- stischen Rußlands grausam offen beleuchtet.

Im Blick auf eine mit dieser Landschaft verglichen harmlos wirkende deutsche Situation schrieb Heinrich Heine „Deutschland, ein Winter- märchen”. Die Sprachgewalt eines Dostojewski), Tolstoj, Puschkin und Gogol reichte nicht aus, die Winterlandschaft des stalinistischen Rußlands in Worte zu bannen. Tausend Revisionsprozesse würden nicht genügen zur Rehabilitierung der Opfer, ganz abgesehen davon, daß sie keinen einzigen Menschen zu neuem Leben erwecken vermöchten.

Millionen Stalin-Bilder, bis jetzt als „rote Ikone”, als Schutzbilder verehrt, als Heilsbilder, verwandeln sich in Fallbeile, in anklagende, denunzierende Brandmale, Hunderttausende von höheren, mittleren und kleineren Dienstmännern des stalinistischen Systems könnten sich über Nacht bedroht sehen: seit der Nacht, die auf den ersten Tag der Angriffe Chruschtschows gegen Stalin folgte.

Inmitten dieser Betroffenen steht Nikita S. Chruschtschow, ein Mann, der jahrzehntelang Stalin diente.

„Den Alten soll man auf den Misthaufen schmeißen”, so riefen erregte Stimmen in den Diskussionen am Roten Platz in Moskau in diesen ersten Novembertagen. Sie meinten mit dem „Alten” Stalin. Georgische, Studenten, die ihren Landsmann zu verteidigen suchten, wurden aufgefordert, den Leichnam gleich mitzunehmen, man wolle ihn in Rußland nirgends haben. Hier, auf den Moskauer Plätzen in diesen End-Oktober- und frühen Novembertagen, wurden aber auch nicht wenige Stimmen laut, die Stalin verteidigten. Stimmen oft von Frauen. Stimmen von Menschen, die weder politisch, das heißt parteipolitisch, noch auch sonst näher mit Stalin und seinen Feuern in Berührung kamen. Es ist eine Tatsache, eine geschichtliche Wirklichkeit: Es gibt breite Schichten des russischen Volkes, für die Stalin an die Stelle des Zaren getreten war. Stalin verkörperte für sie die unerschütterliche Vatermacht des ewigen Rußlands. Stalins Bilder waren, ja sind immer noch eine Art von „Ikone”. Je ferner er selbst war, ja je fremder diese Menschen der Partei standen, um so strahlender erschien ihnen der Georgier, der „rote Zar”. Frauen, ältere Männer, viel Volk sieht in der Entfernung Stalins aus dem Lenin-Mausoleum schlechthin einen Vatermord.

Für Stalinisten, Gegner Chruschtschows, für Kommunisten in China, Japan, Indien, Afrika, Südamerika, in Europa, nicht nur in Albaniern, erscheint die Entfernung und Heilloserklärung Stalins als ein Versuch, die Achse des Weltkommunismus zu verrük- k e n. Als ein tödliches, gefährliches Experiment, das dem Weltkommunismus seine revolutionäre Dynamik, seine Kampfkraft, seinen Angriffswillen raubt.

Was immer an Motiven in der neuen sowjetischen Atombombenreihe bei ihrer Auslösung mitwirken mag: diese sollen Unter anderem auch diesen Akt von welthistorischer Bedeutung und Gefährlichkeit abschirmen: die Entfernung Stalins. Gefährlich ist dieser Akt für Chruschtschow und für die nichtkommunistische Welt. Chruschtschow kann in Hinkunft vieles tun, um die Kettenreaktion Stalin im Innern zu bremsen. Er braucht keine Massenverfolgungen starten, er kann es bei Drohungen belassen. Er kann selbst stalinistische Aktionen starten, als Anti-Stalinist, als Krypto-Stalinist. Vieles ist denkbar und möglich in dieser Welt… Eines aber ist ihm unmöglich: Er kann Stalin nicht wieder ins Lenin-Mausoleum aufnehmen. Dies ist erst nach seinem eigenen Tode möglich .. .

Der Kampf um Stalin , ist also entbrannt. Er wird wahrscheinlich noch größere Dimensionen annehmen als der bisher eineinhalb Jahrhunderte umfassende Kampf um Napoleon, der den Hintergrund der französischen Geschichte von 18X5 bis heute bildet. Nun, dieser erste Napoleon hinterließ ein in Scherben geschlagenes, ganz auf seine Person zugeschnittenes Kaiserreich, Stalin hinterließ seinen Erben ein Weltreich, das gerade in seinen Institutionen sehr entwicklungsfähig ist. Und Stalinisten gibt es in aller Welt…

Es ist uns nicht möglich, die Entfernung Stalins aus dem „Heiligen Grab” im roten Mekka einfach als einen Akt der Stärke Chruschtschows anzusehen. Jede In-Frage-Stellung Stalins rüttelt an den Grundfesten des ganzen Systems, ja stellt dieses selbst in Frage. Gewiß: der Kreml kann die unangenehmen Briefe der Witwe Leo Trotzkis und der Berliner in den Papierkorb werfen, kann Ulbricht halten, und kann die Rehabilitierung Trotzkis, des Erzketzers aller Stalinisten, ablehnen. Er kann wirklich versuchen, neue Wege zu gehen; er kann versuchen, einen Reformkommunismus zu entwickeln. Was aber geschieht, wenn dieser Reformkommunismus keine Erfolge zeitigt? Keine baldigen, sichtbaren Erfolge? Wo aber soll Nikita S. Chruschtschow diese Erfolge erringen? Ist ihm die Welt nicht verbaut, verstellt? In Asien durch Mao Tse-tung und Indien (das er, Chruschtschow, nicht allzusehr auf dem Weg in den Kommunismus weitertreiben darf, soll es nicht dem näheren Nutznießer, China, zufallen); in Südamerika und Afrika durch einheimische, sehr eigenwillige Führerpersönlichkeiten. Moskau träumt nicht davon, in diesen Kontinenten Sekundo- Genituren errichten zu können, wie sie einst das habsburgische Österreich in Italien besaß, ln Europa sind die abhängigen Staaten in sich schwach, bedürfen ständiger „Unterstützung”, bilden wenig Hilfe. Bleibt als offene Frage und offene Wunde: Deutschland.

Das ist das Gefährliche an Chruschtschows Stalin-Aktion, nicht nur für ihn, sondern auch für die nichtkommunistische Welt: Chruschtschows Reformkommunismus braucht Erfolge, um Stalin überrunden und ihn etwa (auf eine gewisse Zeit hin) verdrängen und verdecken zu können. Eben diese Erfolge kann ihm die westliche Welt nicht gewähren, die ihrerseits oft mit einem Reformkommunismus, der sich in Generationen, im Wechsel der Generationen, entwickeln müßte, besser auskommen zu können glaubt als mit der Schreckensmühle Stalins, die die Völker und die einzelnen zermalmte.

„So können Sie heute nicht mehr mit uns reden!” Mit diesen Worten wiesen Studenten in Moskau bei den erwähnten Diskussionen über Stalin einen Parteitagsdelegierten ab, der ihnen (irgendwie noch in der Sprache Stalins) erklärte, sie, die Jungen, verstünden von dieser Vergangenheit nichts. Ohne Zweifel: diese russische Jugend, und auch eine ältere Generation, möchte nicht mehr in der Sprache Stalins angesprochen werden. Auch von Chruschtschow nicht. Ohne Zweifel: die nichtkommunistische.

Welt möchte von den Männern im Kreml nicht mit den Worten und Taten Stalins angesprochen werden. Auch vom Stalin-Erben und Stalin- Gegner Chruschtschow nicht. Um dies aber zu erreichen, bedarf es eigener Leistung und eigener Bewährung. Mit bloßen Reaktionen und dem zuweilen vorkommenden Rückfall in die Sprache der Anti-Stalinisten westlicher Provenienz ist dies nicht zu schaffen. Der Westen und die nichtkommunistische Welt, die weiter und größer als der Westen ist, könnten ihren eigenen Beitrag zur Entstalinisierung leisten. Stalin ist nicht nur in Rußland zu überwinden, genau so wie der „Hitler in uns”, von dem Max Picard nach 1945 sprach, nicht nur in dem „bphmischen Gefreiten” zugegen ist. Aus dem Teufelskreis des Stalinismus und Anti-Stali- nismus führen nur eine neue Sprache und neue Taten heraus. In unendlicher, unerschöpflicher Geduld ist beiden der Boden zu bereiten. Bei uns, in uns zunächst. Österreich kommt auch hier in eine neue Zone der Bewährung und Prüfung: für eine freiere Welt mit freieren Worten und auch mit selbständigen Unternehmungen einzutreten.

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