6697909-1963_15_14.jpg
Digital In Arbeit

Kirche der „Misdizone“

Werbung
Werbung
Werbung

Der katholische Glaube in Lateinamerika stellt eine der größten Trumpfkarten der Kirche dar, wenigstens in der Theorie: Ein gutes Drittel sämtlicher Katholiken der Welt lebt zwischen dem Rio Grande und Feuerland einschließlich der Westindischen Inseln, also insgesamt eine Bevölkerung von 185 Millionen Menschen. Es wäre vollkommen falsch, sich in dieser eindrucksvollen Zahl alles praktizierende Katholiken vorzustellen, wie es verfehlt wäre, diese Menschen, wie man dies so oft hört, als Christen überhaupt abzuschreiben und sie als Heiden oder Apostaten klassieren zu wollen, weil viele von ihnen weder den Katechismus kennen noch eine klare Vorstellung des christlichen Lebens besitzen und sich vor allem nicht vom Aberglauben ihrer Vorfahren zu lösen vermögen.

Teilen wir das festländische Lateinamerika etwas willkürlich in drei Hauptgebiete ein: die rassisch gemischte Zone von den Grenzen der Vereinigten Staaten bis hinunter nach Paraguay, die „rein weiße“ Zone des Südens, bestehend aus Chile, Argentinien und Uruguay, und schließlich der brasilianische Subkontinent, der mit seiner portugiesischen Kultur eine Welt für sich bildet.

Kultur- und Sozialniveau der Misdizone

Es ist allgemein bekannt, daß sich die Kirche in Lateinamerikas gemischter Zone — mit Ausnahme von Puerto Rico und Costa Rica — fast überall in einer schweren Krise befindet. Welches ist der Schlüssel zum Verständnis des Übelstandes bzw. der Übelstände? Man darf vor allem nicht vergessen, daß das Christentum in diesem Gebiet nicht schon, sondern erst seit 400 bis 500 Jahren existiert. Und das ist nicht viel, sondern sehr wenig Zeit. Um zu dieser Situation eine europäische Analogie zu finden, muß man also an das Christentum in Mitteleuropa um das Jahr 950 oder 1000 oder 1050 denken.

Was geschieht nun in einem „jungen

Glauben“, der erst wenige Jahrhunderte alt ist? Das erste, was vom Glauben stark berührt wird, ist das Gemüt. Das Gemüt, das Herz, ist die Fassade des Glaubensbaues. Es ist kolossal wichtig und soll von echt religiösen Menschen nicht geringgeschätzt werden. Der Glaube in der amerikanischen Mischzone sitzt im Blut, aber er ist den Menschen nicht ins Hirn — in das Denken —, nicht in Mark und Bein, nicht tn das üherlegungslose ethische Handeln übergegangen.

Mangel an „Arbeitsethos“

In einer Höhle, zitternd vor Kälte, in Furcht vor wilden Tieren und dem Hunger periodisch ausgesetzt, kann man kein christliches Familienleben führen. Das heißt mit anderen Worten, daß in weiten Teilen Südamerikas das Christentum „vor seiner Zeit“ gekommen ist.

Nun wird der Besucher Lateinamerikas, der aus Europa oder Nordamerika kommt, auch von den krassen sozialen Gegensätzen unangenehm berührt. Das wirkliche Problem Lateinamerikas und besonders der Mischzone ist das, was man gemeinhin „Arbeitsethos“ nennt, aber besser „Arbeitswillen“ nennen sollte.

Die große Tragik der Mischzone liegt darin, daß dort die Leute zwar unseren Lebensstandard haben wollen — wenn nicht gar den nordamerikanischen —, aber so angestrengt wie wir oder die Nordamerikaner wollen sie keineswegs arbeiten. Lateinamerika bewirbt sich unentwegt um das nordamerikanische Kapital, das aber wiederum Lateinamerika nicht recht traut; denn welcher Kapitalist begeistert sich für ein Land ohne stabile Währung und ohne stabile Regierung? Die ganze Geschichte Lateinamerikas ist eine Geschichte der „Nationalisierung“, des „Staatsdiebstahls“, das heißt der Enteignungen: Enteignung der Ausländer, Enteignung der Grundbesitzer, Enteignung der Sparer, Enteignung der Kirche, die zum materiellen Kirchenelend geführt hat. Der Schlüssel zum Erfolg der politischen Parteien im Wahlkampf ist nicht zuletzt das spezifische Enteignungsversprechen.

Der „südamerikanische Glaube“

Nun aber zurück zur Kirche. Der Glaube an und für sich ist hauptsächlich in der Mischzone stärker als bei uns. In Mexiko sah ich im Dezember 1958 eine Riesenwallfahrt von 150.000 Arbeitern nach Guadalupe, dem Nationalheiligtum, das nicht.einmal in der Zeit der ärgsten Kirchenverfolgung angetastet wurde. (Ein Freimaurer gestand mir einmal, daß

Guadalupe der psychologische Motor Mexikos sei. Kein Guadalupe — kein Mexiko.) Von der Einfriedung bis zum Altar bewegte sich diese endlose Masse auf den Knien. Die Gesichter sind mir unvergeßlich. Oder: In Cuzco (Peru) sah ich eines Morgens eine Männergruppe mit Flöten, Geigen, Cellos zur Kathedrale ziehen und eine Stunde später vor einem Altar musizieren. Niemand hat sie „organisiert“; sie kommen ganz aus eigenem Antrieb. Der Altar ist so dunkel, daß man das Bild des Heiligen nicht sehen kann. Ein Mann lehnt sich über das Kommuniongitter mit ausgebreiteten Armen, verzückt betend, die Wangen tränen-übergossen. Doch derselbe Mann ist imstande, 24 Stunden später jemandem die Gurgel von Ohr zu Ohr durchzuschneiden oder auch eine Woche später kommunistisch zu wählen. Der Glaube, wie man sieht, ist stark im Gemüt. Anders steht es mit dem Intellekt und dem Ethos.

Darum liegt auch in der evangelischen Anschuldigung, daß hier doch kein wirkliches Christentum existiere, viel Wahres. Natürlich fehlt der systematische LInterricht in den meisten Staatsschulen. Strenggläubiges Christentum? Man nehme als Beispiel die restaurierte Mercedarierkirche in Antigua (Guatemala). Dort stehen zwölf Statuen der Gottesmutter und nur eine von Christus unter dem Kreuz zusammenbrechend — die übliche und so typische Darstellung des Gottessohnes in Lateinamerika. (Die Alternative? Der Schmerzensmann an der Säule.) So ist der Glaube in Lateinamerika exzentrisch, traurig, melancholisch. Er ist aber auch radikal nationalistisch. Obwohl Stammessymbole am Tisch des Herrn wahrlich unangebracht sind, gibt es hier fast überall Staatsfahnen am Altar — wie übrigens in den Vereinigten Staaten.

Weltpriester im Elend

Nun zum Problem des Klerus in Lateinamerika. Es darf vor allem eines nicht vergessen werden: die namenlose Armut der Kirche in diesem Teil der Welt. Immer wieder sieht man den naiven Touristen, der nach Lateinamerika kommt und die prächtigen Kathedralen, von Spaniern erbaut, mit offenem Munde bestaunt. Doch der Priester, der ihnen das Meßopfer darbringt, lebt mit zweihundert, zweihundertfünfzig oder dreihundert Schilling im Monat, wenn er überhaupt über einen solchen Betrag verfügt. Mit anderen Worten: die Orden leben in Armut, die Weltpriester im Elend.

Ich habe die Zimmer von Kuraten gesehen. Sie hatten kein Bett; sie mußten auf dem Boden schlafen. Sie besaßen jeder nur eine Soutane. Wenn diese vom Regen naß war, konnten sie das Zimmer nicht verlassen, bis die Soutane wieder trocken war. Die Sammlungen während der Messe ergaben nur fünf, zehn oder fünfzehn Schilling. Diese entsetzliche Armut des Klerus ist auch für den verheerenden Mangel an Berufungen verantwortlich, wobei allerdings auch ganz andere Faktoren mitspielen. Der Mangel an Berufungen ist katastrophal. Vor zwei Jahren wurden in der Erzdiözese Buenos Aires — die nicht mehr in der Mischzone liegt — bei fast vier Millionen Gläubigen nur vier Männer zu Priestern geweiht. Ohne den konstanten Import europäischer — hauptsächlich spanischer — und nordamerikanischer Priester wäre die Kirche Lateinamerikas längst zusammengebrochen. Peru hat jahrzehntelang keine Weltpriester gehabt (heute gibt es dort 800 im Ausland geborene und 700 einheimische Priester). In Guatemala fallen auf einen Priester 11.000 Gläubige, in E.asilien sind es 6000. Die Lösung dieses schwerwiegenden Problems ist keineswegs einfach.

Zölibat

Dann kommt das Zölibat, das allerdings in ganz weiten Teilen der Mischzone nicht gehalten wird, vor allem im Hochandengebiet, wo mancherorts der Priester suspekt werden würde, wenn er mit keiner Frau zusammenlebte (der er allerdings zeitlebens die Treue halten wird). Aber rein „existenziell“ ist das Zölibat in diesen Gegenden auch wirklich ein Unding. Man stelle sich vor, daß jemand, der in einem Seminar studiert hat und irgendwie doch ein Intellektueller geworden ist, in ein Dorf geschickt wird, das vielleicht vier Tagreisen auf dem Maultier von der nächsten Autobusstation entfernt ist. So ein Mann hat praktisch Einzelhaft. Er muß doch ein Du, ein „Gegenüber“ haben. Die Indianer? Man muß sie gesehen haben, diese chthonischen Gestalten, spätes Neolithikum, gerade belebte Erde, ohne Lächeln und Differenzierungen. Der Priester wird wahnsinnig, wenn er keinen menschlichen Anschluß findet. Wie man sieht, ist dies nicht ein Problem des Sexus, auch nicht einmal des Eros, sondern ganz einfach der menschlichen Existenz. Man muß sich also ehrlich fragen, ob das Zölibat für den Weltklerus in Lateinamerika, insbesondere in der Mischzone, wirklich sinnvoll ist.

Zum Schluß muß ich noch über ein betrübliches Kapitel Lateinamerikas freimütig sprechen: über die evangelischen Missionen. Sind diese evangelischen Missionen Vertreter der Lehren der Reformatoren? Ich bin überzeugt, daß man von den unter katholischen Christen wirkenden Missionaren nur ein Siebentel, im allerbesten Fall ein Fünftel, als evangelisch oder reformatorisch bezeichnen kann.

Wer ist schuld an der Verlotterung?

Um aber nun abschließend auf die Lage der katholischen Kirche zurückzukommen: Wer ist schuld an der Verlotterung, dem trotz aller Erklärungen zu langsamen Fortschritt der Kirche, dem verschleppten profectus ecclesiae? Sehr viel an diesem Zustand ist historisch zu verstehen, sehr viel kann logisch nicht anders sein. Vierhundertfünfzig Jahre in Dingen der Glaubensentwicklung und der Glaubensvertiefung sind eben nur ein Anfang. Was nun Lateinamerika betrifft, liegt aber doch beim Hauptquartier — also in Rom — ein gerütteltes Maß an Schuld. Dort bringt man keineswegs das richtige Verständnis für diese sprachlich und kulturell größte Domäne der Kirche auf. Man weiß von den Übelständen, aber man ist im Grunde ratlos und hat nicht einmal den richtigen Mut zum Experimentieren. Anderseits macht man verzweifelte Versuche ä distance, ein konkretes Bild von diesen fernen Ländern zu bekommen. Ich weiß von Reportern und Rechercheuren, die in Berichten, Memoranden, Statistiken usw. Hervorragendes geleistet haben. Unter diesen gibt es erstklassige Leute. Ich kenne einen soziologisch glänzend geschulten Ordensmann, der in Bergwerken gearbeitet hat, nicht als pretre ouvrier, sondern als Kumpel, nur um ein akkurates Bild von der Mentalität des lateinamerikanischen Grubenarbeiters zu bekommen. Was aber wird man in Rom mit diesem Material anfangen? Man vergißt dort nur zu oft, daß die Menschheit nicht aus einem Stück ist.

Vom Kommunismus bedroht

Denn die Italiener haben eine wahre Menschlichkeit — umanitä wie auch umanesimo —, das ist ihre Stärke. Aber die Schwäche der Italiener liegt darin, daß sie auf einer exponierten christlichen Halbinsel zwischen den Minaretts von Sarajewo, Tirana, Tunis und Bizerta wohnen und nicht in den großen Weltmeeren zu Hause sind. Daher der Provinzialismus selbst der Kurie, der auch nicht durch Ad-limina-Besuche lateinamerikanischer Bischöfe gemildert wird, denn die meisten Bischöfe Lateinamerikas sind zu eng mit ihren lokalen Problemen verwachsen und verfügen über keine Perspektiven.

Lateinamerika ist ein wichtiger, ein neuralgischer Kontinent, der heute vom Kommunismus bedroht wird. Sind die Kommunisten dort sehr zahlreich? Keineswegs, aber die Maximalisten unter den russischen Sozialdemokraten, die Bölschewiki, waren auch eine kleine Minderheit, und doch ergriffen sie die Macht in der russischen demokratischen Republik. Polizeilich-politisch läßt sich der Kommunismus in Lateinamerika nur in einem mechanischen Sinn aufhalten. Die Überwindung des materialistischen Kommunismus ist hingegen wie überall ein geistig-spirituelles, ein religiöses Problem. Und auch da ist die rein gemütvolle Vertiefung des Christentums zur Abwehr ungenügend. Das Nein zur roten Sklaverei muß aus Herz und Hirn kommen. Hier können keine Sentimentalitäten, sondern nur das Vollchristentum des Gebets, der Überlegung und der Tat wahren Schutz und eine wirkliche Abhilfe bringen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung