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Kirche in der Bedrohung

19451960198020002020

DIE CHRISTEN IN DER UdSSR. Von Nikita Struve. übersetzt nach der weiten französischen Auflage von Karlhennann Bergner. Matthias-Grunewald-Verlar. Oktav, (46 Seiten. S 288.60.

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DIE CHRISTEN IN DER UdSSR. Von Nikita Struve. übersetzt nach der weiten französischen Auflage von Karlhennann Bergner. Matthias-Grunewald-Verlar. Oktav, (46 Seiten. S 288.60.

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Der Dozent für russische Sprache und Literatur an der Sorbonne und Sekretär der Schriftleitung des „Messager Orthodoxe“, Jahrgang 1931, legt in der Dokumentation die Lage der Gläubigen in der UdSSR und eine Art Weißbuch über die wiederholt angesetzten Liquidationsversuche der Sowjets vor. Der Verfasser gliedert den Stoff nach einem knappen Rückblick in 13 Kapitel auf (S. 11—367) und führt im Anhang Urkunden aus der Geschichte, Gesetzgebung und von der Lage an (S. 371—512). Unter den Belegstellen kehren russische wie Antireligiosnik, Besboznik, Izwestija, Journal des Moskauer Patriarchats, Kommunist, Literaturnaja Gaseta, Prawda, Sowjetskaja kultura, Woprosi fllo-sofli und westliche Gewährsmänner, wie Istina, Irenikon, SOEPI und andere wieder (ß. 515—540). Ein Personen- und Sachregister erschließt dem Interessierten den Zugang zu den wichtigen Fundorten (S. 541—546). Die Lage der orthodoxen Kirche war nach dem Umbruch 1917 nicht geregelt. Die drei Verfolgungswellen schnürten den Lebensraum der Kirche ein und schuf Märtyrer. Die Normalisierung der Beziehungen zum Staat war eine Auswirkung des zweiten Weltkrieges. Das Lokalkonzil im Herbst 1945 gab der Kirche einen neuen Status. Die Organisation der Kirche Ist zentralistisch. Der Patriarch leitet mit dem Heiligen Synod von sechs (seit 1961 acht) Mitgliedern die gesamtrussische Kirche. Er bestellt, versetzt oder enthebt die Bischöfe. Die ekklesiologische Einheit ist die russische Kirche als ganze, nicht die Einzeldiözese, wie es die orthodoxe theologische Auffassung will. Der Bischof verwaltet die Diözese allein oder mit dem Diözesanrat, der aus drei bis fünf Mitgliedern aus dem geistlichen Stand besteht. Die Laien sind auf der Ebene des Patriarchats und der Diözese aus der Kirchenverwaltung ausgeschlossen (S. 91). Auf der Pfarrebene wirken gewählte Laien im Exekutivausschuß als Kirchenverwalter und Kassenführer mit. Der Pfarrer ist Präsident des Exekiutivausschusses.

Die Kirche ist seit den Trennungsgesetzen zwischen Staat und Kirche im Jahre 1917 ohne Besitz und wird von dem Kultbeitrag der Gläubigen, den Schenkungen und dem Erlös für den Verkauf von Kerzen und Prosphoren erhalten. Eigentümer der Kirchen ist der Staat. Die Unterhaltung und Restauration der im Gebrauch befindlichen Kirchen, auch der als Denkmäler erklärten, fallen vollständig zu Lasten des Mieters.

Das Patriarchat — ein Drittel von den Einkünften der Pfarren steht ihm zur Verfügung — unterhält als Verwaltungsorgane die Verwaltung der Patriarchatsgeschäfte, das Außenamt für die Exarchate, Diözesen und Pfarren im Ausland, das Komitee für den theologischen Unterricht, die Altersversorgung und den Dienst für kirchliche Publikationen. An Publikationen scheint seit 1942 das 70 bis 80 Seiten umfassende Journal des Moskauer Patriarchats. Die (angeblich 20.000) Exemplare reichen nicht für alle Pfarren. Ferner erschienen seit 1942 15 „aktuelle“, der politischen Propaganda dienende, und zehn liturgische Bücher, eine Bibelausgabe (25.000 Exemplare), eine Evangelienausgabe, die Predigten des Metropoliten Nikolaj und zwei Nummern einer theologischen Zeitschrift. Als Grund für die geringe Zahl religiöser Publikationen schützen die Behörden Papierknappheit vor (S. 96).

Ein Schleier liegt über den russischen Klöstern. Die letzten Klöster in Altrußland wurden 1929 aufgehoben, nur die Wiedereröffnung des Dreifaltigkeits-Sergius-Klosters in Sagorsk wurde ausdrücklich erlaubt. Die 67 Klöster nach dem Krieg lagen in den 1945 annektierten Gebieten, ihre Zahl ging nach 1959 empfindlich zurück. Aufschlußreich sind die Ausführungen über die theologischen Studien und Lehranstalten Nach einer Zeit ohne theologische Lehranstalten errichteten die sieben größten Diözesen außer Moskau 1945 Seminare. Die Voraussetzung zum Eintritt ins Seminar ist der Abschluß der sieben-klassigen höheren Schule. Ein Drittel der Kandidaten setzt die theologischen Studien an geistlichen Akademien fort, um in den Seelsorgedienst einzutreten. Literatur aus dem Westen fehlt.

Über das Volk Gottes werden in der Presse keine genauen Ziffern genannt. Das Patriarchat sprach bei der Aufnahme in den ORK von 20 bis 30 Millionen Gläubigen. Der Verfasser nimmt 100 Millionen an. Auch meint er, es würde die Hälfte der Kinder getauft. Praktizierende Gläubige gibt es etwa 40 Millionen (S. 188—193). 1954 waren 22.000 Kirchen geöffnet. In Moskau kamen auf eine der 38 Kirchen 160.000 Seelen, in Leningrad auf eine der 14 Kirchen 160.000 und in Jaroslawl auf eine Kirche 407.000. Das Vorherrschen des weiblichen Elementes in der Kirche geht nicht bloß auf den Frauenüberschuß (114:94 Millionen) als Kriegsfolge zurück. Kein Mitglied der Armee (Millionen), des Komsomol oder der Partei (25 Millionen), kein Lehrer, Student oder Beamter kann ohne schwerwiegende Folgen häufiger zur Kirche gehen. Groß ist die Zahl der „Nikodemuschristen“.

Neben dem ausführlichen Kapitel über die Schismen und Sekten erscheint das Kapitel XI über die anderen Kirchen, darunter die römisch-katholische Kirche, kurz geraten, um den Titel zu rechtfertigen (39:15 S.).

Der fünfteilige Urkundenanhang veranschaulicht die Bilanz des Verfassers: „Die schwer getroffene orthodoxe Kirche Rußlands ist von neuem in ihrer Existenz bedroht“ (S. 364). Der Vergleich zwischen 1914 und 1962 in bezug auf Kirchen (54.174:11.500), Kapellen (25.593:0), Klöster (1025:32), Klosterinsassen (94.629:?), Geistliche Akademien (4:2) und Seminare (57:5) täuscht über billige Touristenberichte nicht hinweg. Pfarrschulen (37.528), Pfarrbibliotheken (34.797), Heime und Pflegeanstalten (1113), Krankenhäuser und Knabenseminare (185) sind seit 1917 gesetzlich verboten (Anh. III. Dok. A).

Struves Lagebericht ist gewissenhaft und ergänzt das Standardwerk von W. Kolarz über „Die Religionen in der Sowjetunion“ (1963, S. 540) durch jüngeres Tatsachenmaterial und den Urkundenanhang, ahne es entbehrlich zu machen. Er gibt einen guten Einblick und Durchblick durch die orthodoxe Kirche der Sowjetunion und ist dem Interessierten wegen des Urkundenanhanges unentbehrlich. Erst das Urkundenmaterial zerreißt die westliche Vorstellung von der Verankerung der russischen Seele im Religiösen auch mach deren atthefetiscihex Erziehung durch ein halbes Jahrhundert.

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