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Klassenkampf und Geschichte

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Seiner Natur entsprechend hat der Mensch soziale und wirtschaftliche Interessen. Um diese durchzusetzen, bedient er sich auch des Mittels der Koalition. So entstehen in der Gesellschaft die Interessentengruppen. Haben diese Gruppen den Charakter von Großgruppen und sind ihre Angehörigen in einer besonderen Weise miteinander verbunden, spricht man von Klassen.

Die einzelnen Klassen, die sich auf Grund der verschiedenen Chancen der Güterversorgung bilden (M. Weber) und in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft einfach unvermeidbar entstehen, kommen notwendig in ein Spannungsverhältnis zu anderen Interessentengruppen, schon deswegen, weil es bisher nirgendwo eine gesellschaftlich gefestigte Ordnung gegeben hat, die das Aufkommen von Interessentenspannungen vorweg zu verhindern vermocht hätte. Wenn die Konflikte der gesellschaftlichen GroS-gruppen ein besonderes Ausmaß annehmen, spricht man vom Klassenkampf.

Alle geschichtlichen Ereignisse sind durch sozialwirtschaftliche Beweggründe und Konflikte mitbestimmt. Das zu leugnen, hieße die geschichtliche Wahrheit übersehen. Der Klassenkampf ist aber nicht das bewegende Element in der Geschichte, und schon gar nicht das einzige.

Jeder Sozialutopismus ist nun dadurch gekennzeichnet, daß er Teilwahrheiten in ihrer Gültigkeit für absolut setzt. Die Tatsache, daß Klassenkämpfe in allen Epochen der geschichtlichen Menschheit feststellbar sind, wird nun von Sozialutopisten zur Behauptung erweitert, daß die Klassenkämpfe allein Geschichte gemacht hätten und diese nur eine Summe von Klassenkämpfen sei. Dabei geht man davon aus, daß die Klassenkämpfe nur Tatbestand in einer vormarxistischen Gesellschaftsordnung seien. In einer marxistischen Gesellschaft aber, als einer Gesellschaft von Gleichen, kann es infolge allgemeiner Saturierung keine Klassen und daher auch keine Klassenkämpfe geben.

Wenn aber das Interessehaben und das Austragen von Interessekonflikten zur Natur des Menschen und der Gesellschaft gehören — wie man vermuten muß —, vermag weder eine sogenannte „christliche“ noch eine „sozialistische“ Gesellschaftsordnung das Entstehen von Interessentengruppen zu verhindern. Auch nicht den Klassenkampf. Das gilt auch dann, wenn es etwa die Institution des Privateigentums an den Produktionsmitteln nicht mehr geben sollte. Alle sozialen Konflikte dem Privateigentum anzulasten, bedeutet jedenfalls eine primitive Vereinfachung. Man sollte nicht übersehen: Neben der Eigentümer-Macht gibt es auch die Verwalter-Macht. Keine Wirtschaftsorganisation unserer Zeit kann den Unternehmer entbehren, den Unternehmer als Eigentümer eher noch als den Unternehmer als Funktionär. An die Stelle der Dissonanzen zwischen Eigentümern treten eben in einer „sozialistischen“ Gesellschaft die Auseinandersetzungen zwischen den mächtigen Funktionären und den machtlosen Nichtfunktio-nären („Po prostu“, Warschau, Nr. 50/1956).

Eine klassenlose Gesellschaft ist ein Denkmodell, aber keine Wirklichkeit, auch keine solche von morgen. Ebensowenig wie eine Gesellschaft von Gleichen. Nur eine primitive Horde (eine „Urgesellschaft“) vermag ohne hierarchisch* Schreh'ung und ohne Konven-

tionen über Rang und Einkommenschancen der Menschen auf Dauer zu bestehen.

Solange es nun Klassen gibt, wird es also den Klassenkampf geben, zumindest die Klassen-spannungen. Lediglich die Versuche, den Klassenkampf zu verdecken, werden andere sein.

Das sei allgemein festgestellt.

In einer Ansprache sagte in der letzten Woche Exz. Bischof Rusch :

„Der Klassenkampf ist nicht von den Arbeitern geschaffen worden, sie haben ihn vorgefunden und dagegen haben sie sich gewehrt.“

Dieser eindeutig formulierte Satz des Tiroler Oberhirten sagt aus, daß der informelle Klassenkampf von oben auch in unserer Gesellschaft eine geschichtliche Wirklichkeit war und nicht eine Erfindung von Geschichtsfälschern. Auch haben nicht die Arbeiter den Klassenkampf als erste provoziert und zu einem formellen Kampf gemacht. Die katholische Soziallehre hat übrigens nie geleugnet, daß schon, bevor überhaupt an die Gründung einer Arbeiterbewegung geschritten werden konnte, der Klasenkampf in der Art, wie er für die industrielle Gesellschaft bezeichnend War, dagewesen ist. Man hat auf katholischer Seite freilich das Wort „Klasse“ selten gebraucht, weil es auch eine parteipolitische Etikettierung war. Dem Klassenkampf der Arbeiter wurde auch die sittliche Berechtigung zuerkannt. (J. Messner, Soziale Frage, S. 139), ebenso wie man in der oftmals erwiesenen Solidarität der Arbeiterschaft durchaus den Beweis einer sittlichen Haltung sah.

In der „Arbeiter-Zeitung“ vom 28. Februar 1958 wird nun in einem bemerkenswerten Kommentar zur Rede des Tiroler Oberhirten unter

gleichzeitiger Anführung des obzitierten Satzes aus der Rede des Bischofs folgendes gesagt: „Deutlicher hätte kein Sozialist, kein an .veralteten Vorstellungen haftender Marxist' die Ansichten des Tfissenschaftlichen Sozialismus vom Klassenkampf ausdrücken können. ,Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.' Sagt dieser Satz, den Karl Marx und Friedrich Engels vor hundert Jahren in das Kommunistische Manifest schrieben, etwas anderes aus als der eingangs zitierte?“ Die Gleichsetzung der bischöflichen Feststellung, daß der Klassenkampf gegen die Arbeiterschaft schon da war, bevor es noch eine Arbeiterbewegung gab, mit der Annahme von Marx und Engels, daß alle Geschichte nichts anderes sei als ein Nacheinander von Interessentenkämpfen, kann nicht unwidersprochen bleiben. Die fatale Gleichsetzung des Inhalts zweier Behauptungen, die je für sich verschiedenes aussagen wollen, müßte auch den Widerspruch der Vertreter des Austromarxismus hervorrufen, der vor allem dem Problem der Willensfreiheit sein besonderes Augenmerk geschenkt hatte und davon ausging, daß die Menschen nicht allein das tun, was ihnen das harte Gesetz des Wirklichen (eine objektive Notwendigkeit) vorschreibt zu tun.

Die sozialen Auseinandersetzungen haben sicherlich ihre Bedeutung für den Ablauf und den Fortgang in der Geschichte gehabt, und vieles, was sich als Idee ausgibt, ist nur verdecktes Interesse. Die Klassenkämpfe aber zum bewegenden Motor der Geschichte und diese darüber hinaus noch zu einer Summe von aneinandergereihten Klassenkämpfen zu machen, heißt den Menschen als ein Bündel von Interessen disqualifizieren und alle großen Ideen (auch die sozialistische) auf Bedürfnisse, auf das

Photo: Gottfried

Güter-haben-Wollen zurückführen. Die Menschheit - Gottes Schöpfung — wäre dann als ein sich wild balgender Interessentenhaufen ver standen.

Gerade aber die Geschichte der Arbeiterbewegung und vor allem der Gewerkschaften wäre kaum zu verstehen, der Heroismus der Arbeiterführer im vorigen Jahrhundert kaum zu begreifen (es sei denn als „Konsumhysterie“), wollte man allen Kampf der Arbeiterschaft um eine neue Ordnung nur als einen Brotkampf ansehen. Oder als ein durch Ideen verdecktes Interessentenhandeln.

Wenn die Arbeiterschaft als Ganzes sich jemals als „Klasse“ gefühlt hat, dann nicht nur, weil sie ein Gemeinsames im Interesse an Mehreinkommen vorfand. Die „Arbeiterklasse“ ist nicht allein auf Grund gleicher Lebensbedingungen jener Menschen entstanden, die sich ihr zugehörig fühlen, sondern auch als Folge gleicher Anschauungen. Diese aber sind nicht allein der Reflex der ökonomischen Wirklichkeit, des „Unterbaues“, der dem Marxismus allein „real“' ist (siehe Marcel Reding, Der Politische Atheismus, S. 72). Wo hätten sonst die Generaldirektoren und die Eigentümer-Unternehmer, die sich zum Sozialismus bekennen, die Beweggründe für ihr Bekenntnis her? Das Bekenntnis zu einer Klasse ist eben nicht allein das Bewußtwerden einer bestimmten Interessenlage, sondern auch eine Sache des Klassenbewußtseins (Landshut), dessen Entstehen auf viele Ursachen — ökonomische und nichtökonomische — zurückzuführen ist.

Unbestritten aber bleibt, daß es in der industriellen Gesellschaft nicht die Arbeiterschaft war, die den Klassenkampf begonnen hatte, dessen Ergebnis eine grausame Dezimierung der

Arbeiterschaft war und die Verwandlung des Terrains des „christlichen Abendlandes“ in das Schlachtfeld einer uns heute unvorstellbaren Ausbeutung. Die Antwort der Arbeiterschaft und ihrer repräsentativen Vertretung, vor allem der unabhängigen Gewerkschaften, der Gegenangriff der an den Rand der Gesellschaft verwiesenen Massen der Fabrikarbeiterschaft war

beileibe nicht Notwehr allein, sondern oft und oft auch das freilich uneingestandene Bemühen der Arbeitermassen, das frivol von der „Gesellschaft“ in der Praxis ihres sozialökonomischen Handelns mißachtete Sittengesetz wiederherzustellen.

Will der Sozialismus in Oesterreich seine Abkehr von der ausschließlichen Fixierung auf den

orthodoxen und besonders in Europa anachronistischen Marxismus unter Beweis stellen, dann war das Bemühen des sozialistischen Zentralorgans, einen Bischof in Verbindung mit dem Sozialdeterminismus zu bringen und einen Satz aus einer bischöflichen Rede in einer bedauerlichen Weise fehlzudeuten, ein Rückschritt.

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