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Kohle, Stahl und - Religion

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In seiner denkwürdigen Erklärung vom 9. Mai 1950 machte Robert S c h u m a n vor der Presse in Paris den Vorschlag, die gesamte deutsche und französische Kohle- und Stahlerzeugung unter eine gemeinsame Hohe Behörde zu stellen. Zwei Jahre dauerte die Erledigung der politischen Formalitäten dieses „Schuman-Planes“, bis am 25. Juli 1952 das letzte der Parlamente der sechs beteiligten Staaten — Belgien, Deutschland, Frankreich, Holland, Italien und Luxemburg — den auf 50 Jahre befristeten Vertrag ratifizierte.

Mit der Gründung der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ haben in Europa bedeutsame Veränderungen begonnen. Nicht nur, daß ein gemeinsamer Markt für Kohle und Stahl den gemeinsamen Bedarf von 150 Millionen Menschen decken sollte. Nicht nur, daß die neue Gemeinschaft den Hauptteil des westeuropäischen Industriepotentials zusammenfaßte, mit einer jährlichen Gesamtproduktion von über 240 Millionen Tonnen Kohle, 76 Millionen Tonnen Eisenerz und über 50 Millionen Tonnen Rohstahl, einer Produktionsmenge, die sich mit der Amerikas und Rußlands messen kann. Vielmehr gelang es hiermit erstmals in Europa, eine übernationale Einrichtung zu schaffen.

Die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl" arbeitet nun bereits das fünfte Jahr. Wie weit ist es ihr in dieser Zeitspanne gelungen, ihre Ziele zu erfüllen? Welche Fortschritte konnte sie für die beteiligten Staaten erreichen? Bei aller Vorsicht im Urteil darf, wie es in einem offiziellen Bericht der Hohen Behörde heißt, die Antwort ermutigend aus- fallen. Zunächst sind einmal die politischökonomischen Rivalitäten vor allem zwischen Deutschland und Frankreich ausgeschaltet. Der Wegfall der Schutzzölle und künstlichen Tarife, die auf enge nationale Absatzgebiete zugeschnitten waren, förderte ferner die Produktion und hemmte Preissteigerungen. Vor allem aber wurden die Verkehrsströme rationalisiert. Der Käufer kann nun, ohne durch Zölle und überhöhte Tarife daran gehindert zu sein, frei und vorteilhaft einkaufen. Die Ruhr liefert deshalb heute verstärkt nach Holland und dafür weniger nach Süddeutschland. DasXiniburger Revier und Belgien liefern verstärkt nach Frankreich und dieses und die Saar wieder verstärkt nach Süddeutschland. Damit ist eine beachtliche Einsparung an Verkehr erzielt worden. (So haben sich z. B. die Frachtkosten für Steinkohle von der Saar nach Regensburg von 3187 ffrs auf 2341 ffrs verringert oder Schrottfuhren von Lyon nach Turin von 2159 ffrs auf 1852 ffrs.)

Der neue Markt hat bisher auch deutlich Konjunkturschwankungen ausgeglichen und die Preise stabilisiert. Auch eine „Angleichung des Fortschrittes" zwischen den einzelnen Regionen ist unverkennbar. Besonders Italien, das außerhalb des engeren Kerngebietes der Union liegt und noch große Industrialisierungsaufgaben vor sich hat, weist seit 1952 in der Rohstahlproduktion ein viel rascheres Fortschrittstempo auf (Erhöhung um 5 3 Prozent) als die übrigen Länder der Montanunion (23 Prozent). Schließlich bringt die wirtschaftliche Integration keine Autarkisierung mit sich, sondern eine zunehmende Aus- und Einfuhr mit der übrigen Welt und ist damit ein wesentlicher Schritt vorwärts zur Vertiefung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Europa und den anderen Kontinenten.

Alle diese günstigen Entwicklungen haben aber — und das wurde bisher noch viel zuwenig beachtet — daneben eine ganze Reihe von kontinentalen Problemen aufgerollt, deren Lösung noch aussteht: soziale, kulturelle und nicht zuletzt religiöse Spannungen und Veränderungen, die besonders mit den nationalen und innereuropäischen Wanderungen und mit der Verschmelzung des Arbeitsmarktes von Kohle und Stahl Zusammenhängen.

Eine Reihe von Produktionssparten, besonders der Bergbau, hatten in der Nachkriegszeit großen Mangel an Arbeitskräften. Jetzt wurde alles unternommen, um unter den Flüchtlingen der Landwirtschaft und anderen Wirtschaftszweigen des In- und Auslandes Arbeiter anzuwerben. Der deutsche Steinkohlenbergbau z. B. hatte im Jänner 1946 nur 191.857 Mann Untertagsbelegschaft, die bis Dezember 1955 unter großen Anstrengungen auf 329.200 aufgestockt werden konnte. Um diesen Zuwachs von 137.000 Mann zu erreichen, mußten aber insgesamt 802.000 (!) Neueinstellungen vorgenommen werden. Diese übermäßige Bewegung gibt einen Hinweis auf die soziale Unausgeglichenheit des Arbeitsmarktes. In Zukunft will

Deutschland, neben den 30.000 Landarbeitern, noch 17.000 Bergarbeiter aus Italien anwerben.

Die zwei Millionen italienischen Arbeitslosen stellen derzeit überhaupt neben dem holländischen Bevölkerungsüberschuß das Arbeiterreservoir der Montanunion dar. Aber auch Polen und Kroaten sowie zahlreiche Algerier sind als „Fremdarbeiter“ tätig, ln Frankreich gibt es bereits gegen zwei Millionen solcher Fremdarbeiter, in Belgien über 200.000, die bei den Untertagearbeitern teilweise 60 bis 70 Prozent der Arbeitskräfte ausmachen; eine Förderung ohne ihre Hilfe wäre unmöglich. Die Italiener herrschen unter den Fremdarbeitern im allgemeinen vor. In Belgien machen sie im ganzen 40 Prozent der Arbeiter in der Montanindustrie aus, gegenüber 43 Prozent Belgiern, während der Rest zum Großteil aus dem südholländischen Brabant stammt. Im französischen Bassin du Nord sind 13 Prozent der Arbeiter Polen, in Lothringen arbeiten sehr viele Nordafrikaner.

Eine Arbeiterwanderung dieses Ausmaßes schafft natürlich auch Komplikationen. Aus einer Enquete unter den italienischen Mineuren in Belgien geht z. B. hervor, daß drei Viertel wieder in die Heimat zurückkehren wollen, 70 bis 80 Prozent gegen eine Heirat mit einer Belgierin sind, 75 Prozent der Ledigen unter ihnen in eigenen Italienersiedlungen wohnen möchten, 90 Prozent die Kinder in eigene Schulen schicken wollen usf.

Noch viel tiefer gehende Spannungen aber ergeben sich aus den sozial-religiösen Verschiedenheiten der Ansässigen und der Zuwanderer. Dies gilt sowohl für die nationale Wanderung der Bauernsöhne in die Industriegebiete wie für die internationale Wanderung aus religiös-intensiven in entchristlichte Gebiete. Schon lange Zeit beobachtet man z. B. die Entchristlichung der Auswanderer vom katholischen Südholland nach dem wallonischen Südbelgien. Während einige Reviere ausgesprochen christlichen Charakter haben, so die Saar mit 80 Prozent Osterkommunion (allerdings besteht dort wieder ein Mangel an aktiven Eliten), Belgisch-Limburg und Holländisch-Limburg mit durchschnittlich 80 bis 85 Prozent praktizierenden Katholiken, gilt für das südbelgische (Charleroi) und die mei sten französischen Reviere, daß sie im vollen Sinne entchristlicht sind. Das Ruhrgebiet und Lothringen nehmen eine Mittelstellung ein. Wenn die Teilnahme der Arbeiter am Gottesdienst in manchen Zonen praktisch gleich Null ist, wird die Anpassung für die nach 1945 zugewanderten katholischen Polen oder Italiener in, solchen Gebieten um so schwieriger. Im Bassin du Nord und Pas-de-Calais z. B., wo der Prozentsatz der praktizierenden Katholiken nur 8 bis 10 Prozent ausmacht, leben gemeinsam mit ihren Seelsorgern ansehnliche Gruppen von Polen, unter denen eine dreimal so hohe Teilnahme am kirchlichen Leben herrscht.

Mit allen diesen Fragen befaßte sich vom

5. bis 8. Jänner in Luxemburg ein Kongreß des „Internationalen katholischen Instituts für kirchliche Sozialforschung (ICARES)', Genf, mit Unterstützung des Internationalen christlichen Gewerkschaftsverbandes (ICGJ, Brüssel, und der Hohen Behörde. Professor G. H. L. Z e e g e r s, dem Generaldirektor des ICARES, war es damit zum erstenmal gelungen, eine Tagung mit dieser

Themenstellung zu organisieren. Robert S c h u- m a n, der Vater der Montanunion, drückte ebenso wie die gegenwärtigen Mitglieder der Hohen Behörde ihre Freude über die Veranstaltung aus.

In intensiver Arbeit gelang es, eine ganze Reihe von Empfehlungen auszuarbeiten. Dazu gehört vor allem ein umfassendes sozialwissenschaftliches Studium der Verhältnisse. Fragen der Raumordnung und des Wohnungsbaues seien weit großzügiger als bisher zu lösen. Der sozialkulturellen Versorgung der Bergbau- und Industriegebiete solle ebensolches Augenmerk wie den wirtschaftlichen Fragen gewidmet werden. Die religiöse Betreuung der Immigranten sei im Sinne der Constitutio Exsul Familia zu sichern. Die sozial-hygienischen Maßnahmen seien weiter auszubauen. Die Tätigkeit der Arbeiterorganisationen sei zu koordinieren, die Anpassung der Fremdarbeitergruppen zu ermöglichen usw.

Die Arbeit des Kongresses, der von 150 Wissenschaftlern, geistlichen und weltlichen Würdenträgern, Direktoren der Montanindustrie und Gewerkschaftlern aus ganz Europa besucht war, wird in den verschiedenen Ländern und am Sitz der Hohen Behörde weitergehen. „Unser Ziel besteht darin“, sagte Prof. Zeegers in der Schlußansprache, „dafür zu wirken, daß aus einer Gemeinschaft der Güter eine Gemeinschaft der Menschen werde."

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