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Kolossalgemälde des alten Österreich

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Der Autor dieses monumentalen Werkes ist seit langem Hochschullehrer in Princeton, N. J., und hat dieses Buch im Jahre 1950 in erster Auflage unter dem Titel „The Multinational Empire“ herausgebracht. Schon damals war die Fachwelt davon tief beeindruckt. Wir stehen ja überhaupt vor dem erstaunlichen Phänomen, daß außerhalb Österreichs und überhaupt außerhalb des deutschen Sprachraums in immer rascherer Folge Werke über Österreich-Ungarn und seine Nationalitätenpolitik erscheinen, in denen das in Österreich selbst (so bei Julius Braunthal, „Auf der Suche nach dem Millenium“, Wien, Europa-Verlag, 1963) noch keineswegs ganz erstorbene Wort vom „Völkerkerker Österreich“ als historisch falsch und leeres Schlagwort aus der Zeit des ersten Weltkrieges erwiesen wird. Man braucht nur auf die Bücher zu diesem Thema von Jacques Droz, Fran Zwitter-J. Öidak-G. Bogdanov, Hans Mommsen, Francois Fontan, Yvan Morin, Janko Pleterski, Franchise Branchu, Marc Lengereau, Umberto Piccinini, Sergio Cella, Lina Galli, Bernd von Maydell, Inis L. Claude und G. A. Macartney hinzuweisen. Während im allgemeinen alle diese Werke in Österreich so gut wie unbekannt sind — nur die Publikationen im Bereich des Austrian History Yearbook der University of Texas in Houston machen hier eine erfreuliche Ausnahme, dies dank der engen Bindung an die Wiener Universität —, haben sich die Werke von Robert A. Kann dank seiner persönlichen Österreichbindung stets der Beachtung des historisch interessierten Österreichers erfreut, dies ausnahmslos immer mit Recht. Sein Buch „Kanzel und Katheder“ in deutscher Sprache hat ihm schon früher eine beachtliche Lesergemeinde bei uns eingetragen.

Kann nennt das vorliegende monumentale Werk im Untertitel „Geschichte und Ideengehalt der nationalen Bestrebungen vom Vormärz bis zur Auflösung des Reiches im Jahre 1918“. Es hat also keineswegs ein Nationalitätenrecht des alten Österreich (wie es in dem großen, von Kann leider zu Unrecht als einseitig national-deutsch apostrophierten Sammelwerk von K. G. Hugel-mann, Wien 1934, längst geschrieben ist) und auch nicht ein solches der ästerreidhisch-uingarischen Monarchie im Auge gehabt. Sein Werk ist aber auch nicht etwa durch das von Kann ebenso bedauerlicher- wie unverdienterweise nicht erwähnte, längst vor dieser Zweitauflage erschienene Buch des Tschechen Rudolf Wierer, „Der Föderalismus im Donauraum“ (im gleichen Verlag erschienen!), vorweggenommen, obwohl Wierer sehr vieles von dem behandelt, was man auch bei Kann behandelt findet. (Es sei zugegeben, daß Wierers Buch weithin eine Neukompilation all dessen darstellt, was vor Jahrzehnten im alten Österreich gesagt und diskutiert wurde, um über den Föderalismus die Nationalitätenprobleme zu meistern. Dennoch ist Wierers Buch eine wahre Fundgrube für Österreichs Nationalitätengeschichte und zudem zutiefst proösterreichisch gehalten. Unbegreiflich, daß das Unterrichtsministerium und die Wiener Universität von der Möglichkeit, den Tschechen Wierer an Wien zu binden, mit voller Absicht keinen Gebrauch machten, ihn vielmehr heuer nach Kalifornien, Pasadena, ziehen ließen.)

Kanns Werk verdient das Epitheton „monumental“ nicht so sehr wegen des gewiß auch sehr eindrucksvollen Unifanges, sondern wegen der [Souveränen Meisterschaft, mit der die kaum zu bändigende Fülle der Nationalitätenfragen der Donaumonarchie von 1848 bis zu ihrem Ende — 'also nicht nur in der westlichen Reichshälfte, die man sonst hier meist heranzieht — in ein geordnetes wiissenschaftliches System und in eine übersichtliche historische Darstellung gebracht werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf „historisch“. Das hat Vor- und Nachteile. So wie zum Beispiel das Buch von Hans Kramer über die Italiener unter der österreichisch-ungarischen Monarchie (Wien, Herold, 1954) für den Nationalitätenreohtler nahezu unbrauchbar ist, dem Historiker aber manch wertvolle Streiflichter, wenn auch wenig Neues, bietet, so liegt auch bei Kann das Schwergewicht auf der Geschichtsschreibung. Daß das Nationalitäten-Problem nicht zuletzt seine nationa-litätenrechtlicne Seite hat und hatte, wird nicht übersehen, aber wenig herausgearbeitet. Um so deutlicher wird aber die Nationalitätenpolitik, die das Geschick der Donaumonarchie bis zu ihrem Ende nicht zu begleiten, sondern auch bestimmen sollte, herausziseliert und in ihrer Problematik anschaulich gemacht.

Versuche, die Kann anstellt, Definitionen von Volk, Volksgruppe, Nationalität, ja sogar „nationaler Minderheit“ zu geben (zum Beispiel S. 42 ff. in Band I) sind lobenswert, aber zufolge Fehlens des zugehörigen volkswissenschaftlichen und nationalitätenreehtlichen Rüstzeugs nicht als geglückt anzusehen. Der Rezensent glaubt, daß hier die größten Schwächen des Werkes liegen, ziumal es nicht sinnvoll ist, moderne (obzwar auch schon wieder sich überlebende) Begriffe, wie „nationale Minderheit“, in das alte Österreich zu reprojizieren. Zur Theorie des Volksgruppenrechts vermag das Werk von Kann also nichts beizutragen. Aber: welche Überfülle von Bausteinen zu einer solchen Theorie! Die Donaumonarchie hat doch — und das wird aus diesem Werk ersichtlich — sozusagen jede Spielart des Zusammenlebens von Völkern und Volksgruppen in einem Staat versucht, ausprobiert, vorexerziert: nationalen Kataster, Kul-turautonomie, religiöse Autonomie, Föderalismus historischer Gebilde, Minderheitenschutz, Sprachenrecht, Scbulautonomie usw. Keineswegs waren Versuche, die da unternommen wurden, auch von Erfolg begleitet. Nicht alle „Volksistämtme“ im alten Österreich hatten zu aller Zeit das, worauf sie auch nur nach der geltenden Verfassung Anspruch hatten. Der lange geschichtliche Zeitabschnitt, den der Autor behandelt, nämlich vom Beginn des Konstitutionalismus in Österreich bis zum ersten Weltkrieg, konnte ja auch unmöglich von Anbeginn an durch eine volle Gleichberechtigung aller „Volksstämme“ (wie Artikel XIX des Staatsgrundgesetzes von 1867 die Nationalitäten der westlichen Reichshälfte nennt) gekennzeichnet sein. Der in anderer Form auch von Kann übernommene, auf Kaindl, Palacky und Seinacker (nebst vielen anderen) zurückgehende Ausdruck von den ,geschichtslosen Völkern“ war ja nicht nur der politischen Nomenklatur zuzuordnen, sondern lange Zeit eine Realität. Die ethnische und kulturelle Bewußtseinshöhe und Volkskultur der österreichischen Deutschen, der österreichischen Italiener, der gebildeten Schichten der Magyaren, eines großen Teiles des tschechischen Volkes und der Polen konnten durch die anderen Völker, eben die „geschichtslosen“ (der Ausdruck ist natürlich denkbar schief), wie Slowenen, Küstenland-Kroaten, Ruthenen, Slowaken, Rumänen, nicht über Nacht erreicht werden. Österreich (westliche Reichshälfte) verhalf ihnen aber fördernd ebenso dazu wie in Ungarn die Verfassungsrechtslage in die gleiche Richtung wies (daß die Wirklichkeit in der transleithanischen Reichshälfte anders war, wird von Kann nicht verschwiegen). Aber schon um die Jahrhundertwende stellte, allen auch weiterhin sichtbaren Mängeln zum Trotz, die Donaumonarchie einen wohlgeordneten Bund von Völkern und Volksgruppen („Nationalitäten“) dar, dessen einigendes Band zwar durch die Krone und deren großes Ausführungsorgan, die Armee (mit der Beamtenschaft), repräsentiert und symbolisiert wurde, die aber durchaus auch an die Notwendigkeit dieses Österreich glaubten. Die Italiener Welschtirols bildeten da wohl die einzige Ausnahme, und Kann sagt wohl mit Recht, daß Österreich besser getan hätte, Welsehtirol bis herauf nach Salurn aus dem Staatsverbande zu entlassen und dem Königreich Italien zu übergeben. (Wer heute die Talschaften des Trentino bereist, wird allerdings mit Überraschung die Österreichsehnsucht auch junger Menschen feststellen, sei es auch nur in der Erscheinungsform des Wunsches nach einem eigenen Paßstaat Tirol von Kufstein bis Ala.)

Kann hat mit diesen zwei Bänden ein Kolossalgemälde der österreichisch-ungarischen Monarchie unter dem Gesichtspunkt seiner Nationalitätenprobleme entworfen. Dies hat er als Wissenschaftler getan, als Historiker.

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