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Komödie ohne Irrungen

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In der UdSSR hat es wieder einmal Wahlen gegeben. Die Wahlberechtigten in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjet-Republik (RSFSR), in der Ukraine, in Weißrußland. Usbekistan, Moldavia, Tadschikistan, Turk- menien und Litauen gaben am 3. März den Stimmzettel mit der offiziellen Liste ab. die die Namen der Deputierten der Kommunisten und der sogenannten Parteilosen enthielt. Wie bei allen russischen Wahlen war der Ausgang im vorhinein festgelegt. Dafür war der Gang zur Urne mit Aeußerlichkeiten umgeben, die den Wahlen den Charakter eines Volksfestes geben sollten.

Die russischen Zeitungen berichteten demgemäß von leuchtenden Girlanden über den Häusern und Fenstern, von singenden und vor den Wahllokalen tanzenden Mädchen und Burschen, von strahlenden Augen und begeisterten Parolen, die im Augenblick der Stimmabgabe von den Wählern vorgebracht werden. Immer wieder tauchte auch das berühmte Mädchen, die Jungwählerin, auf, die den Stimmzettel mit den Worten entgegennimmt: „Ich stimme für den Frieden und für weitere Erfolge in der Wirtschaft.” Im Westen würde kein Mensch glauben, daß die Worte „Wir wählen die Arbeitsmenschen, die uns Brot, Kleider und Schuhe geben” dem Hirn der einfachen Arbeiterin Romanowna entsprangen. Aber man weiß, daß sich solche Aussprüche in den Zeitungen gut ausnehmen, wenn die Vertrauensleute während der Arbeitspausen den Belegschaften den Inhalt der Presse zur Kenntnis bringen.

Die Organisatoren und Manager dieser jüngsten Wahlen in Rußland werden von ihren Erfolgen befriedigt sein. Auch die Vorbereitung in der Form von Wählerversammlungen hat geklappt. Die örtlichen Parteistellen hatten genügend Leute instruiert, um der Oeffentlichkeit eine freie Volksmeinung vortäuschen zu können. Es gelang sogar, im kapitalistischen Westen den Eindruck hervorzurufen, als hätten die Wähler die Möglichkeit, auf die Aufstellung oder Abberufung von Deputiertenkandidaten Einfluß zu nehmen. In Wirklichkeit verschanzt sich jedoch das zuständige Zentralkomitee lediglich hinter einer Wählerversammlung, wenn es einen Deputierten erledigen will. Die Regie läßt ein paar genau instruierte Redner los, die gegen den Kandidaten Stimmung machen, worauf der schon vorbereitete neue Kandidat vom Versammlungsvorsitzenden vorgeführt wird. Diese Art der Abberufung eines Kandidaten vor aller Oeffentlichkeit ist eine sehr seltene und die schärfste Form der Zurückziehung eines dem ZK mißliebig gewordenen Funktionärs, weil er dadurch diskreditiert wird und damit sang- und klanglos — in einem Arbeitslager — verschwindet. Das ZK aber hat gleichzeitig die Möglichkeit, den Fall — im doppelten Sinn des Wortes — als eine Durchführung im Auftrag des Volkes hinzustellen. Im übrigen wird den Deputierten stets der eine oder andere Vorwurf gemacht, damit ja immer ein Anlaß gefunden werden kann, um sich seiner zu entledigen und sich dabei gleichzeitig auf die „Kritik des Volkes” zu berufen.

Aus .der russischen Prjsse selbst erhalten wir hinreichend Kenntnis davon, wie es in solchen Wählerversammlungen zugeht.

In Stenjotin z. B. wurde anläßlich der letzten Wahlen eine solche Wählerversammlung abgehalten, in der den Teilnehmern zuerst der Kandidat Pjotr Grigorewitsch Olischtschuk vom Vorsitzenden vorgestellt wurde, der ihn für die Wiederwahl empfahl, da er aktiv den Nachbarn geholfen hätte. „Er riet, wie die Arbeit zu verbessern sei, er teilte von seinen Erfahrungen mit, er prüfte sorglich die Ansuchen und Klagen der Wähler”, betonte der Vorsitzende. Nachdem der bisherige Deputierte und Anwärter bei den örtlichen Deputiertenwahlen erklärt hatte, daß er sich zu allen kritischen Bewertungen sowie gerechten Vorschlägen und Forderungen so verhalte, wie es einem Diener des Volkes zustehe, begann laut Bericht — wir folgen einer Darstellung des Sonderkorrespondenten W. Wu- kowitsch der „IsWiestfj’ä”—„eirtefhstes tiiid offenes Gespräch”. Die Leute machten „kühn kritische Bemerkungen, erzählt Wukowitsch den zweifellos staunenden Lesern. Zuerst sprach der Leiter der Schweinefarm des Kolchos „Iljitschs Vermächtnis”, der Krach schlug, weil die Kolchosarbeiter keine Ziegel bekämen und daher ihre Katen nicht bauen könnten, weshalb der Deputierte sich um die Errichtung eines Ziegelwerkes kümmern müsse; er möge sich das unbedingt in sein Deputiertenbuch schreiben. Ganz böse war der Vorsitzende des Kolchos „Lenin”, weil der Deputierte keinen Kontakt mit seinen Wählern halte, sie schlecht über die Beschlüsse des Obersten Sowjets informiere und sich um die Meinung der Leute nicht kümmere. Der Maschinist J. Pototzky wollte die Frage der Heiz- jnaterialbeschaffung gelöst wissen. Der Hauptschuldirektor J. Satschok leitete zu den viel weniger heiklen Fragen der kulturellen Betreuung über. Es gehe nicht an, wetterte er, daß in den Dörfern nur Amateurschauspieler und -musikan- ten zu hören seien, es müßten die Künstler des Lemberger Theaters und die Philharmoniker in die Dörfer kommen, aber auch für die Weiterbildung des Volkes qualifizierte Lektoren und Gelehrte. Die Schweinehirtin J. Pischowskaja lenkte nochmals zurück zu Wirtschaftsfragen und forderte den Anschluß der örtlichen Kolchosen an das staatliche Energienetz, da die schwachen Elektrostationen für die Mühlenbetriebe in keiner Weise ausreichten, wogegen die junge Medizinschwester E. Naliwo den Bau von Waschräumen in jedem Dorf forderte. Das Waschen brachte das Gespräch wieder auf kulturelle Angelegenheiten, man verlangte, daß die Schule in Barani Peretok endlich fertiggestellt werde, und urgierte Bau und Ausrüstung von sogenannten Klubs. Der Korrespondent der „Iswestija” hebt den umfangreichen Gesprächsstoff der Versammlung hervor, die mit dem Schlußwort des Deputiertenkandidaten endigte: „Eure kritischen Bemerkungen nehme ich zur Gänze an. Werde ich gewählt, sind eure Aufträge das Programm meiner Deputiertenarbeit. Ich werde mich bemühen, dieses Programm zu erfüllen.”

Pjotr Grigorewitsch Olischtschuk ist natürlich gewählt worden, da er auf der offiziellen Liste stand und keinen Gegenkandidaten hatte. Wie weit er sich um die Behebung des Ziegelmangels, um den Anschluß an das Staatsverbundnetz, um Waschräume und Lemberger Philharmoniker bemühen kann, hängt von den Beschlüssen ganz anderer Leute ab. Falls nichts geschieht, wird ihn der „Wille des Volkes” das nächste Mal absetzen. Vielleicht läßt man ihm aber auch die Möglichkeit, sich auf nicht erfüllte Plansolls auszureden. Oder es wird überhaupt alles großzügig übergangen.

Es gehört mit zu den schlimmsten Fehlern des Westens, daß er von der Mentalität in Rußland — trotz aller trüben Erfahrungen — noch immer keine Vorstellung hat, sonst wäre die Schlußfolgerung, die Bevölkerung der UdSSR könne irgendeinen Einfluß auf die Zusammenstellung der Deputiertenkandidaten nehmen, nicht möglich. Da setzt z. B. die Moskauer Presse ihren Hörern — die Zeitungen werden, wie erwähnt, weniger gelesen als vorgelesen (mit anschließender Diskussion, um festzustellen, ob alles wirklich „aufgepaßt” hat) — folgendes vor: „Auf dem Wege zum Wahllokal die alte Bekannte, die Kolchosarbeiterin Keutwall, begrüßend, erklärt der Minsker Arbeiter Baranow: ,Nie noch war unsere Heimat so stark und mächtig wie zur jetzigen Zeit. Mit Freude gebe ich meine Stimme für die Volkskandidaten, stimme ich für die Heimat, für Frieden, für den Kommunismus.”‘

Man darf dabei nicht übersehen, daß solche Denk- und Ausdrucksweise bereits ein fester Bestandteil aller seit Jahrzehnten dieser Propaganda ausgesetzten Gehirne in der UdSSR ist. Es ist ganz gleichgültig, ob es einen Baranow gibt oder nicht, die Masse glaubt an ihn, versucht es ihm gleichzutun, ihn womöglich noch zu übertrumpfen. Die Gehirne folgen den Parolen ohne Kritik, sie stimmen allem zu, was ihnen vorgesagt wird, sie werden auch den „Sieg” bei diesen Wahlen zum Anlaß nehmen, die Plansolls freiwillig zu überbieten.

Wer die Komödie um die jüngsten „Wahlen” in der Sowjetunion in den russischen Zeitungen verfolgt hat, der weiß, was man dem russischen

Volk ohne jede Gefahr eines auch nur geahnten Widerstandes zumuten kann. Es war eine Komödie ohne Irrungen, denn ein Irrtum bei der Stimmabgabe war ausgeschlossen. Und obwohl von einer Beendigung der Stimmenzählung noch keine Rede sein konnte, war es für die „Iswestija” am Tage nach der Wahl kein Risiko, auf die Kopfleiste zu drucken: „Stimmend für die Kandidaten des Blocks der Kommunisten und Parteilosen demonstrierten die Wähler ihre heiße Unterstützung der Innen- und Außenpolitik der Kommunistischen Partei und der Sowjetunion sowie die Bereitschaft, neue Siege im Bau des Kommunismus anzustreben.”

Das aber ist die Tragödie, daß das russische Volk die Komödie auch nicht annähernd empfindet. Und daß selbst die freie Welt die Moskauer Theatralik ernst nimmt, einen tiefer dringenden Blick hinter die Kulissen aber ängstlich vermeidet.

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