6701294-1963_31_04.jpg
Digital In Arbeit

Konfrontation mit Brüssel

Werbung
Werbung
Werbung

Anfang Juli ist der Zollkrieg, den die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegen alle Drittländer führt, in ein neues Stadium getreten, weil neben der zufälligen weiteren Senkung der Binnenzölle auch der gemeinsame Außenzoll in Kraft getreten ist, der manche Zollerhöhungen verfügt.

Für den Export Österreichs, der um seine Konsolidierung an vier Fronten kämpfen muß - gegenüber der EWG und der EFTA, in Übersee und in Osteuropa —, bedeutet der 1. Juli 1963 ein quasi historisches Datum. Jedenfalls beginnt eine neue Bewährungsprobe. Nachdem wider Erwarten und entgegen allen Voraussetzungen der Außenhandel alle Belastungen der vergangenen Jahre sehr gut überstanden hat, steht man jetzt vor der offenen Frage, wie sich die Dinge weiterhin gestalten mögen. Erfahrene Diplomaten und verschiedene Nationalökonomen vertreten bekanntlich die Auffassung, die Wirkungen der Zölle würden vielfach überschätzt, eine These, die in manchen Belangen richtig ist; ihr Einfluß auf die Preisgestaltung bleibt aber trotzdem bestehen. Obwohl die erste Fühlungnahme in Brüssel nur eine gegenseitige Orientierung bezweckte, müssen Handel, Gewerbe und Industrie doch mit Rückfragen und Verzögerungen rechnen. Selbst im günstigsten Fall sind offizielle Verhandlungen über ein „Arrangement“ erst im Spätherbst zu erwarten.

Analyse des Warenverkehrs

Der augenblickliche Stand des Warenverkehrs mit den sechs Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (siehe Tabelle „Unser Handel mit der EWG“) lehrt, daß durch die allgemeine Importschwemme, die mit einiger Verspätung auch über Österreich hereingebrochen ist, von Jänner bis April die Importe um zehn, dagegen die Exporte nur um vier Prozent gestiegen sind. Gegenwärig entfallen daher auf die EWG 57,9 Prozent des Gesamtimportes und 49,7 Prozent des Gesamtexportes. Von leichten Schwankungen abgesehen, entsprechen diese Relationen auch den Jahren der Hochkonjunktur von 1960 bis 1962. Der Handel mit Italien und Holland verläuft überaus befriedigend. Auch die Exporte nach Westdeutschland vermochten sich sehr gut zu halten. Trotz der Diskriminierung war dank den Anstrengungen aller wirtschaftlichen Faktoren bisher von einer Verschlechterung der Position Österreichs nichts zu bemerken. Einen seit jeher katastrophalen Übelstand bilden nur die Exporte nach Frankreich und Belgien, die in der Rangordnung der Bestimmungsländer an 11. und 14. Stelle stehen.

Aus diesem Fehler ergibt sich allerdings eine groteske Einseitigkeit; denn Westdeutschland beansprucht derzeit nicht nur 51,9 Prozent aller Exporte nach der EWG, sondern auch 69,6 Prozent aller Importe aus der EWG.

Die Schlußfolgerungen liegen auf der

Hand. Neben dem angestrebten „Arrangement“, das die Benachteiligung der Exporte mildert, muß der Export nach allen anderen Staaten verstärkt werden, besonders nach Übersee, eine Aufgabe, der sich Österreich keinesfalls entziehen kann, wenn es nicht einfach in einen toten Winkel des Kontinents abgedrängt werden soll.

Krieg unter der Decke

Ungemein aufschlußreich gestaltete sich in jüngster Zeit die Entwicklung der einzelnen Warenkategorien (siehe Tabelle „Die Warengruppen des EWG-Handels“). Bei den Importen führten der lange Winter, der Wohlstandskonsum und die Wandlungen auf den Metallmärkten zu hohen Zuwachsraten bei Kohle, Koks und Briketts, Obst, Gemüse und NE-Metallen, während Eisen und Stahl natürlich rückläufig waren. Alle anderen Warengruppen bewegten sich unter der durchschnittlichen Importerhöhung. Die Textilien zeigten nach beiden Richtungen die gleiche Tendenz. Die Ausfälle beim Export betrafen neben Holz und Zellulose, Eisen und Stahl erstmals auch Maschinen, während Papier, Kleidung. Metallwaren, elektrischer Strom und elektrische Apparate noch immer eine stellenweise beachtliche Expansion aufwiesen, ähnlich den Kunststoffen (+ 35,2 Prozent), den Molkereiprodukten (+ 15,4 Prozent) sowie den Leder- und Kautschukwaren. Stabil blieben Glaswaren. Rückläufig war Feinmechanik.

Dagegen nahmen dank den Bezügen Italiens lebendige Tiere einen Aufschwung ohnegleichen, der zunächst allerdings als Sonderfall erscheinen mag, weil die Importsperre Italiens erst Anfang April des Vorjahres aufgehoben wurde. Jedenfalls sind lebende Tiere in die ersten Ränge des Exportes nach der EWG vorgerückt, eine Umgruppierung, die allen wirtschaftspolitischen Prognosen widerspricht. Zweifellos illustriert die Liste der Exportwaren die Mannigfaltigkeit der Positionen, die für eine Aufhebung der Diskriminierung in Betracht kommen. Eingehüllt in die bestechenden Thesen einer angeblichen wirtschaftlichen Einheit des freien Europa herrscht unter dem Vorwand der Integration in Wahrheit ein Handelskrieg. Ungeachtet dieser Tatsache ist aber schon heute erkennbar, daß die Kennedy-Runde des GATT zahlreiche Erfolge erzielen dürfte, die im Sinn einer weiteren Liberalisierung des Außenhandels viel tiefgehender und umfangreicher sein dürften als die Ergebnisse eines etwaigen Separatabkommens zwischen den einzelnen Staaten in Brüssel.

Brüssel zwischen Paris und Washington

Der Besuch General de Gauiles in Bonn war für den Kurs der Wirtschaftsgemeinschaft von größter Wichtigkeit. Als Ergebnis ist festzustellen, daß bis zum nächsten Frühjahr eine Einigung über die Agrarpolitik erzielt werden soll, damit Frankreich, Italien, Westdeutschland und die drei Benelux-Länder im GATT als eine geschlossene Einheit auftreten können. Voraussetzung bleibt der absolute Vorrang der „Innenpolitik des Gemeinsamen Marktes“, die eine vollständige Koordinierung erreichen soll, bevor überhaupt die nächsten außenpolitischen Entscheidungen getroffen werden. In diesem Sinn sind auch die wichtigsten Sätze des Bonner Kommuniques über die Integration zu interpretieren, in dem es wörtlich hieß: „Die wirtschaftlichen Fragen des Gemeinsamen Marktes gaben Anlaß zu einem gründlichen Meinungsaustausch. Dieser erstreckte sich vor allem auf die Landwirtschaft und die Verhandlungen über Handelsfragen, die im Mai 1964 in Genf beginnen sollen .. . Für die Erarbeitung der gemeinsamen Landwirtschaftspolitik wurde von beiden Regierungen die Inkraftsetzung der Regelungen für Reis, Rindfleisch und Milcherzeugnisse während der ersten drei Monate des Jahres 1964 als ein wesentliches Ziel angesehen. Die Vielgestaltigkeit der schwierigen Probleme, die sich aus der Festlegung einer europäischen Politik für landwirtschaftliche Preise — besonders für Getreide — ergeben, hat die beiden Regierungen veranlaßt, sich darüber zu einigen, im Rahmen der EWG eine Arbeitsmethode vorzuschlagen, die Studien und Untersuchungen zwecks Ausschaltung der Schwierigkeiten und Erarbeitung geeigneter Lösungen zum Gegenstand hat. Die im Rahmen des GATT geführten Verhandlungen auf dem Gebiet des Handels scheinen eine günstige Gelegenheit zu bieten, den internationalen Handelsver-

Beziehungen zwischen den regionalen Gruppen zu erleichtern.

Taktische Zwischenlösung

Mit anderen Worten, für Brüssel gilt bereits die Priorität der GATT-Verhandlungen, da die Vereinigten Staaten eine Diskriminierung ihrer Exporte nach dem europäischen Kontinent, besonders ihrer Lieferungen ifon Lebensmitteln, keinesfalls hinnehmen. Die EWG erstrebt daher auf dem Weg der „Synchronisierung“ eine Konsolidierung ihrer innneren Struktur, bevor sie, unbeschadet ihrer hohen Grundsätze, an eine Erweiterung ihrer

Beziehungen zu dritten Staaten denkt. Brüssel gerät damit in einen inneren Zwiespalt. Während die zentrale Kommission eine Expansion erhofft, um ihre Kreise und ihr Arbeitsfeld zu erweitern, bremsen die Hauptmächte, die ihre Defensive gegen die Vereinigten Staaten vorbereiten müssen. Diese Situation erklärt die schwankende Haltung der Brüsseler Funktionäre, die einerseits alle ausländischen Delegationen ermuntern, anderseits eine Desavouierung ihrer Studien und Vorschläge befürchten.

Die taktische Zwischenlösung liegt anscheinend in der Umkehrung de bisher üblichen Verfahrens. Die Kommission wird künftig keine eigenen Vorschläge ausarbeiten, sondern es angesichts der „komplexen Probleme Österreichs“ der österreichischen Regierung überlassen, Entwürfe und Anregungen zu unterbreiten, die geprüft, studiert und kritisiert, teilweise gebilligt und teilweise verworfen werden. In dieser schwierigen Rolle kann sich

Brüssel auf eine vorbildliche Pressepolitik verlassen, die das Konzert der kontinentalen Zeitungen meisterhaft dirigiert, während es sich in Wirklichkeit um höchst materielle Probleme und die Konkurrenz auf allen Märkten

EuroDas handelt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung