Konstruierte Kontinuitäten

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Die These, dass die Nationalsozialisten die Wissenschaften missbraucht hätten, gilt längst als überkommen. Das Verhältnis war vielmehr von gegenseitigem Geben und Nehmen geprägt.

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Die These, dass die Nationalsozialisten die Wissenschaften missbraucht hätten, gilt längst als überkommen. Das Verhältnis war vielmehr von gegenseitigem Geben und Nehmen geprägt.

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Am Anfang steht ein tiefgreifender Bruch: Infolge der rassistischen NS-Beamtenpolitik verloren nach 1933 insgesamt mehr als 2.500 Wissenschafter an den Hochschulen im so genannten Altreich ihre Stellen. Für die Hochschulen handelte es sich um zirka 15 Prozent aller Professoren und Dozenten im damaligen Deutschen Reich. Von diesen emigrierten die allermeisten. Die Auswirkungen fielen aber nicht an allen deutschen Universitäten gleich aus. So kamen 40 Prozent der bis 1934 entlassenen Professoren und Dozenten von nur drei Universitäten - Berlin, Frankfurt und Breslau.

Die Situation der Wissenschaften in Österreich nach der NS-Machtübernahme war anders gelagert. Die politischen Entlassungen zwischen 1934 und 1938 hatten in Einzelfällen zwar bedeutende, doch im Endeffekt nur eine punktuelle Auswirkung auf den Wissenschaftsbetrieb. Infolge der NS-Machtübernahme im Jahre 1938 kam es dann zur massenhaften Vertreibung jüdischer Wissenschafter. So wurde in einer viel kürzeren Zeit ein weitaus tieferer Riss im personellen Gefüge der Wissenschaften gezogen als im Altreich nach 1933. Allein an der Uni Wien verloren 82 Professoren (37 Prozent) und 233 Dozenten (49 Prozent) ihre Position. Am stärksten betroffen waren die Medizinische Fakultät (172 Mitglieder) und die Philosophische Fakultät (98 Mitglieder). Zum Vergleich waren es an der Uni Graz 35 Professoren (mehr als ein Drittel), aber prozentual viel weniger Dozenten.

Die Folgen für die einzelnen Disziplinen sind ebenso differenziert ausgefallen. Neuere Studien der Emigration aus den medizinischen Wissenschaften in Berlin reichen von der völligen Zerschlagung des von Magnus Hirschfeld gegründeten Instituts für Sexualforschung bis hin zur weitgehenden Kontinuität im Falle der Institute und Ämter für Gesundheitsfürsorge und Bevölkerungspolitik sowie an der Medizinischen Fakultät in Wien. Weshalb später von den Nazis als "Nichtarier" definierte Wissenschaftler in den verschiedenen Wissenschaften unterschiedlich vertreten waren, ist eine Frage für sich. Klar geworden sein dürfte es aber, dass die in diesem Zusammenhang häufig gebrauchten globalen Wendungen wie "Vertreibung der Vernunft" oder "Auszug des Geistes" nur noch mit Vorsicht zu verwenden sind. Sie lenken die Aufmerksamkeit davon ab, welcher "Geist" und welche "Moderne nach der Vertreibung im Nationalsozialismus zum Vorschein kam.

Begehrte NS-Projekte Um die Forschungsförderung zu sichern, kam es seitens der Wissenschafter vielfach zu Allianzen mit dem Regime; oft genug wurden NS-Projekte als Chance zur Verwirklichung eigener Forschungsziele wahrgenommen. So wurden strukturelle Entwicklungen, die lange vor 1933 einsetzten, in der NS-Zeit nicht etwa aufgehalten, sondern eher beschleunigt und umgelenkt. Die zwei wichtigsten davon sind die Auslagerung von Forschungsgebieten aus der Universität in die Industrie und in staatliche Forschungseinrichtungen sowie die beschleunigte Einbettung der Grundlagenforschung in technische Großprojekte. Dies geschah insbesondere auf jenen Gebieten, die den Kernprojekten des Regimes - der Erringung der Herrschaft in Europa und der Schöpfung eines "reinrassigen" Herrenvolkes - zugeordnet werden könnten.

Erst in letzter Zeit ist eine intensivere Forschung über die inhaltlichen Folgen der NS-Herrschaft in den Wissenschaften in Österreich in Gang gekommen. Viele Fragen bleiben noch immer ungeklärt, aber bestimmte Wandlungstypen lassen sich vorläufig feststellen. Im Falle des vom Mediziner Eduard Pernkopf herausgegebenen anatomischen Atlas handelt es sich um die Durchsetzung eines schon lange vor 1938 entwickelten Forschungsprogramms. Pernkopf trat schon 1933 in die NSDAP ein. Folgerichtig tat er sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten besonders stark hervor; schon 1938 wurde er zum Dekan der Medizinischen Fakultät ernannt, ab 1943 war er Rektor der Universität. In seinen Dekanats- und Rektorreden äußerte er sich in aller Deutlichkeit zugunsten einer "Ausmerzung" der "Minderwertigen".

Sein Atlas war lange vor der Machtübernahme konzipiert worden. Dass die letzten drei Bände des Werkes in kurzer Folge während der NS-Zeit erscheinen konnten, hat jedoch sehr wohl mit der ungeheuren Expansion der Todesstrafe in dieser Zeit zu tun; direkt vom Henker bekam Pernkopf nämlich eine ungeahnte Zahl von Leichen als Forschungsmaterial zur Verfügung gestellt. (Anm. d. Red.: Der Atlas wurde nach 1945 nicht eingestellt, sondern mit den selben Fotos in vier Auflagen weitergeführt. Erst jetzt überlegt der Strassburger Verlag eine Neuauflage.)

Bei den Institutsneugründungen an der Wiener Universität nach 1938 zeichnete sich eine Umschichtung der Forschungs- und Lehrschwerpunkte zugunsten einer NS-"Praxisnähe" ab. Beispiele für diese Tendenz sind unter anderem die Gründung des Instituts für "Rechtsvereinheitlichung" im Jahre 1939, die Gründung des Instituts für Zeitungswissenschaft im Jahre 1942 und die Einrichtung des Instituts für Dolmetschausbildung im Jahre 1943. In allen dieser Fälle kam die Initiative weniger "von oben" als von den Wissenschaftern selbst.

Einen starken Kontrast dazu bildet die breite Palette von Wissenschaftstransfers infolge der Vertreibungen nach 1933. Mit fast grotesker Ironie lässt sich hier von einer "List der Unvernunft" sprechen; denn ausgerechnet diese politische und menschliche Katastrophe bot vielen Wissenschaftern Karriere- chancen, die ihnen angesichts der weit geringeren Möglichkeiten in Deutschland oder Österreich verwehrt gewesen wären.

Am interessantesten dabei sind die Fälle, in denen die nach 1933 emigrierten Wissenschafter eine Begegnung und Synthese von lokalen und nationalen Forschungsstilen entschieden vorantrieben. Die bedeutendsten Beispiele aus den Naturwissenschaften sind das Manhattanprojekt zum Bau der Atombombe und die Entstehung der Computerwissenschaften. Grundlagenforschung, Technik und Industrie kamen in diesen beiden Fällen unter dem Erfolgsdruck des Krieges zusammen; Emigranten fanden sich auf allen Seiten dieser Kooperationen ein.

Auch nach 1945 fand im besetzten Deutschland und in Österreich eine Umverteilung wissenschaftlicher und technischer Ressourcen statt, die ganz offensichtlich mit politischen Umwälzungen einher ging. Gelegentlich nahm das recht grobe Züge an, etwa durch die Mitnahme einzelner Spitzenforscher durch amerikanische und britische Kräfte. Ebenso dramatisch war die Demontage ganzer Forschungsanlagen beziehungsweise die Abführung ganzer Forscherteams mitsamt technischer Belegschaften durch sowjetische Kräfte.

Entnazifizierung In den Besatzungszonen und in den beiden deutschen Staaten sahen sich Wissenschafter und Politiker derweil mit verschiedenen Versionen des selben Dilemmas - Entnazifizierung oder Wiederaufbau - konfrontiert. Die Größenordnung der politisch verursachten Entlassungen nach 1945 lag anfangs mehr als zweimal höher als nach 1933; die Internationalität der darauffolgenden Elitenzirkulation war jedoch weitaus geringer. Nach 1945 wurden insgesamt 4.289 Akademiker infolge der Entnazifizierung allein im Hochschulbereich entlassen. Doch statt den deutschsprachigen Raum zu verlassen, wie es einst die Vertriebenen tun mussten, betrieben die meisten dieser Wissenschafter ihre Wiedereinstellung, fanden Stellen in einer anderen Besatzungszone oder später in einem der beiden deutschen Staaten. Von den 3.479 dieser Wissenschafter, die sich im Mai 1950 in Deutschland befanden, war mehr als ein Drittel schon rehabilitiert.

In Österreich stellt der Abzug der aus dem "Altreich" ernannten deutschen Wissenschaftler wohl die wichtigste Diskontinuität in personeller Hinsicht dar. Davon abgesehen verlief die Entnazifizierung an den österreichischen Hochschulen durchwegs schneller als im besetzten Deutschland ab. Das Ergebnis blieb jedoch auf längerer Sicht dasselbe. In wenigen Jahren gelang es vielen der betroffenen österreichischen Wissenschafter, ihre alte Positionen wieder einzunehmen. Danach bestand offenbar ein gewisser Konsens zugunsten der Übernahme von nichtreichsdeutschen Kollegen vor Ort und zu Ungunsten einer Aufforderung an die vertriebenen Wissenschafter zur Rückkehr.

Bemühungen um die Rückgewinnung einiger Prominente blieben zwar nicht aus, doch waren sie kaum chancenreich. Es fragt sich zudem, warum die Vertriebenen, insofern sie nicht aus politischer Überzeugung handelten, hätten zurückkehren sollen. Sowohl die wirtschaftliche Situation als auch die wissenschaftlichen Arbeitsbedingungen in den ersten Nachkriegsjahren waren im Vergleich mit Großbritannien oder der USA katastrophal. Die jüngeren Emigranten hatten in der Zwischenzeit oft geheiratet und fragten sich, ob sie ihren neuen Familien solche Bedingungen zumuten sollten. Außerdem: Wer einen Großteil der eigenen Familie durch Mord verloren hatte, hätte sich ohnehin eine Entscheidung zur Rückkehr lange überlegt.

Mythos Neuanfang Derweil verliefen in den beiden deutschen Staaten wie in Österreich Versuche einer Wiederherstellung wissenschaftlicher Institutionen. So wurde etwa im besetzten westlichen Deutschland die Max-Planck-Gesellschaft als Rechtsnachfolgerin der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gegründet. Doch schaut man sich die Forschungsprogramme näher an, stellt man zumindest in den 1950er Jahren ein bemerkenswertes Ausmaß von konstruierten Kontinuitäten aus der NS-Zeit fest. Konstruierte Kontinuitäten, weil es sich keineswegs um eine "mühelose" oder "bruchlose" Kontinuität handelte, wie oft polemisch und pauschal behauptet wird, und auch nicht um einen Neuanfang von einem Nullpunkt aus.

Viele Wissenschafter versuchten, die eigene Karriere zu retten und die Forschungsmaterialien von früher mit Hilfe kollegialer Netzwerke zu erhalten. Mittels rhetorischer Strategien versuchten ebenso viele, die Vergangenheit und ihre eigene Verstrickung neu darzustellen - nach dem einfachen Strickmuster die "gute" Wissenschaft und Wissenschafter hier, die "bösen" Nazis und Pseudowissenschaft dort. Vor allem im Westen diente eine Rhetorik der Wertneutralität häufig zur Rechtfertigung ("Ich diente nur der Technik"). Ebenso nachhaltig ist jener "semantische Umbau", der vom Entfernen kompromittierender Passagen in Neuauflagen von Werken, die in der NS-Zeit erschienen sind, bis zur Umschreibung ganzer Kapitel reicht - etwa im letzten Teil von Arnold Gehlens Der Mensch.

Die Wissenschafter in beiden deutschen Ländern und Österreich nutzten die Chance, Forschungsprojekte zu instituationalisieren, die sie lange vor 1945 entwickelt hatten. Ob es jedoch in Österreich, wie Christian Fleck neuerdings gemeint hat, in allen Fächern zur "Katholisierung", "CV-isierung" und damit zur "autochthonen Provinzialisierung" - also zur selbstgestrickten Einigelung - kam, bleibt offen.

Insofern dies geschehen ist, fanden Entwicklungen außerhalb der beiden deutschen Staaten anfänglich nur wenig Beachtung. Gerade der Erfolg dieser Kontinuitätsversuche, stand einem Wissenschaftswandel längere Zeit im Wege. Die nunmehr international als "modern" geltenden Ansätze kamen häufig erst nach 1960 und auf Betreiben einer jüngeren Forschungsgeneration zum Zuge. Inwiefern solche konstruierten Kontinuitäten auch für Österreich feststellbar sind, bleibt für die Forschung eine offene Frage.

Der Autor ist Professor am Institut für Geschichte der Universität Wien

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