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Kontinent der Krisen

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Im Laufe des letzten Jahrzehnts schien Lateinamerika den Weg zu der „repräsentativen Demokratie“ gefunden zu haben. An die Stelle der Militärdiktatoren, die noch vor kurzem in den meisten Staaten regierten, waren frei gewählte Präsidenten getreten. In den wenigen „totalitären Herden“, der Dominikanischen Republik, Nicaragua und Paraguay übte die „Organisation amerikanischer Staaten“ einen erfolgreichen Druck auf freie Wahlen aus. Nur die kubanische Revolution folgte noch ihren eigenen Gesetzen. Aber diese Entwicklung dauert noch nicht lange genug, um zu einer echten Tradition, einer sogenannten Kulturnorm, zu führen. Der Verfassungsbruch ist nach lateinamerikanischem Rechtsempfinden immer noch kein Hochverratsverbrechen, sondern — wie etwa das Duell — ein „Gentlemandelikt". Nach der Verfassung ist der Präsident nur der „Chefingenieur der Regierungsmaschine“. Aber der ursprüngliche Charakter des lateinamerikanischen „Caudillo“, eines volkstümlichen, aber eigenwilligen und selbstherrlichen „Führers“, ist ebenso als lateinamerikanische Realität erhalten geblieben wie die — auf ihrem Fachgebiet glücklicherweise unbeschäftigte — Offizierskaste, die die Politik ihres Präsidenten kontrolliert, statt ihm zu gehorchen. Aus dieser halben Entwick lung zu demokratischer Gesinnung erklärt sich der Machtkampf zwischen Präsidenten und Offizieren, der zu der chronischen Krise in Argentinien und der akuten in Brasilien geführt hat.

Getulio Vargas Testament

Vor sieben Jahren war Getulio Vargas Präsident Brasiliens. Er ist als Nachahmer Mussolinis in die Geschichte eingegangen, aber wiederholt auch frei gewählt worden und wird als „sozialer Befreier“ noch heute von der Masse vergöttert. Sein fanatischer Schüler war der heute 44jäh- rige Joao Goulart. Damals mußte Vargas ihn als Arbeitsminister unter dem Druck der feindlichen Rechtskreise ausbooten, weil Goulart die miserablen Arbeitsgrundlöhne verdoppelt hatte. Der Hauptfeind der Vargas- Gruppe war der Journalist Dr. Carlos Lacerda, in seiner frühen Jugend Kommunist, der vom Herausgeber der vielgelesenen Nachmittagszeitung „Tribana da Imprensa“ in Rio zum Präsidenten der konservativen „National- demokratischen Union“ (U. D. N.) geworden ist. Eines Nachts wurde ein Attentat auf Lacerda verübt. Er wurde nur leicht verletzt, aber der ihn begleitende Fliegermajor Vaz getötet. Der Attentäter (Akino, ein früherer Schneider, der später zu 33 Jahren Gefängnis verurteilt wurde) gehörte zur Leibwache von Vargas. Seine Geg-

ner, Offiziere der Hugwaffe und Marine sowie die Konservativen, die seit langem gegen seinen Wirtschaftsnationalismus und die Korruption in seiner Verwaltung gekämpft hatten, siegten. Vargas erschoß sich. In seinem „politischen Testament“, das er seinem „Nachfolger“ Joao Goulart hinterließ, bezeichnete er sich als Opfer der „dunklen Kräfte innerhalb und außerhalb des Landes“, womit er die inländischen Großkapitalisten und die ausländischen Trusts meinte.

… und Quadros Programm

Sieben Jahre später hat Dr. Janio Quadros, als er seine Präsidentschaft nach sechs Monaten und 26 Tagen völlig überraschend beendete, in seiner Rücktrittserklärung fast die gleichen Wortd gebraucht, und wieder sind es Lacerda, Goulart und die Generäle, die um das Schicksal Brasiliens ringen. Aber Quadros, der sich „von der Reaktion besiegt“ nennt, ist erst von ihr gewählt worden. Lacerda war als Präsident der konservativen Partei sein wichtigster Wahlhelfer. In Brasilien werden Präsident und Vizepräsident auf getrennten Wahlzetteln gewählt. So bekam Goulart — als Kandidat der linksradikalen Arbeiterpartei —, im Privatleben übrigens ein reicher Großgrundbesitzer aus dem südbrasilianischen Staat Rio Grande do Sul! — die meisten Stim men als Vizepräsident. Quadros erfüllte auf wirtschaftlichem Gebiet das konservative Programm. Er ging von der „dirigierten“ zur „freien“ Devisenbewirtschaftung über, veranlaßte enorme Preissteigerungen, für die er zu Unrecht Spekulanten verantwortlich machte — und verdarb es dadurch mit der Masse. Lacerda und die Konservativen empörten sich über seine neutralistische Außenpolitik und setzten ihn unter Druck, als er dem kubanischen Handelsminister Che Guevara einen hohen Orden verlieh und die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion aufnehmen wollte. Freilich steht Goulart, der nach der Verfassung bis zu Neuwahlen amtieren müßte, weit mehr links. Er hat gerade Rotchina besucht, Mao Tse-tung gefeiert und die Gleichartigkeit der chinesischen und brasilianischen antiimperialistischen Befreiungsbewegungen hervorgehoben. Ein führendes Mitglied seine Partei, der Gouverneur des Staates Rio Grande do Sul, Leonei Drizzola, erklärte vor wenigen Tagen bei einer Versammlung in der Sao- Pauloer Rechtsfakultät, die ausländischen Gesellschaften, besonders die nordamerikanischen, deren Tätigkeit die Volkswirtschaft ausplündere, müßten beschlagnahmt werden. Es ist begreiflich, daß die Mehrheit der Offiziere so auch eine vorübergehend Amtszeit Goularts fürchtet.

Goulart ante portas?

Da Quadros der Hauptrufer für die „friedliche Koexistenz“ mit Fidel Castros pro-sowjetischem Regime war, ist die Entwicklung der brasilianischen Krise zunächst in dieser Richtung von großer Bedeutung. Während die auch nur vorübergehende Präsidentschaft Goularts befürchten ließe, daß er seine legale Macht mißbrauchen könnte, um Brasilien fidelistisch zu machen, dürfte die Machtergreifung der Rechten die Stellung Castros in Lateinamerika entscheidend schwächen.

Da Quadros mit dem argentinischen Präsidenten Dr. Frondizi eng zusammenarbeitete, hat sein Rücktritt die ständigen Gerüchte über einen Offiziersputsch in Argentinien noch ver- stigfc& tro fdsiff; tiöt’ ibottfellsMi

Der Rücktritt von Quadros hat den Gegnern von Kennedys Lateinamerikapolitik im nordamerikanischen Kongreß das zusätzliche Argument geliefert, daß die fehlende politische Stabilität langfristige Kreditzusagen nicht empfehle. Aber schon vorher haben sie sich geweigert, die Zehnjahrespläne Kennedys — Verhandlungsgegenstand der Konferenz von Punta del Este — zu billigen. Aber der Westen hat Brasilien in den letzten Monaten schon Darlehensverlängerungen oder neue Darlehen für zwei Milliarden Dollar zugesagt oder vorgesehen. Wie sich auch die Situation in Brasilien entwickeln mag, das Chaos würde am Ende nur den Kommunisten nützen.

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