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Kremlperspektiven 1961

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Am Vorabend des Treffens Chruschtschow-Kennedy in Wien wiesen wir darauf hin, daß sich hier in Wien zwei „Gefangene” treffen, reich beladen und belastet mit den Schwierigkeiten je ihrer Weltmacht und dem Druck der Interessenverbände und Machtgruppen in je ihrem Lande. In den letzten Wochen sind in allen Ländern der westlichen Hemisphäre in der freien Presse Aufsätze und kritische Untersuchungen über Kennedys Schwierigkeiten in seinem eigenen Lande und mit seinen alliierten Freunden erschienen. Freund und Feind, Gegner und aufgeklärte Freunde des amerikanischen Präsidenten sind sich darüber einig: der Druck einer gewissen öffentlichen Meinung, die gesteigerte Neigung von Millionen, reaktionär zu denken und von „ihrer” Regierung dementsprechende Handlungen, das heißt, weithin ein Nicht- handeln (und Nicht verhandeln) zu fordern, beengen und bedrängen in beängstigender Weise die Handlungsfreiheit Kennedys. Noch ist es keineswegs so weit wie jüngst in Bonn, als vor Eröffnung des westdeutschen Bundestages dessen ältester Abgeordneter, der Kölner Bankier Robert Pferdemenges, auf eine Frage, was er sagen werde, da es ja noch keine Regierung gebe, erklärte: „Da kann Ich nur mit der Antwort eines alten Freundes aufwarten: 10.000 Mark demjenigen, der in meiner Rede auch nur eine einzige neue Idee findet.”

An Ideen fehlt es dem Gefangenen in Washington gewiß nicht: nur ist die Diskrepanz zwischen seinen neuen Ideen und alten Taten (Nichttaten), zwischen vielen Worten und wenig Handeln, erschreckend sichtbar geworden.

An Ideen fehlt es dem Gefangenen im Kreml ebenfalls nicht. Seine sechseinhalbstündige Marathonrede zur Eröffnung des 22. Parteitages der KPdSU in Moskau am 17. Oktober bot der Welt das einzigartige Schauspiel eines weitoffenen Blickes in die Werkstatt dieses großen Gefangenen, der sich seit 1953, seit dem Tode Stalins, freispielen möchte. Freispielen, um seine Politik treiben zu können. Was Chruschtschow will, offenbaren die rund einhundertfünfzig Seiten des Entwurfes des neuen Parteiprogramms, der seit Monaten vorliegt, recht genau. Genau in allen den Punkten, von denen da eben gesprochen wird. Chruschtschow selbst faßt den Kern seines Inhalts in seiner Eröffnungsrede etwa in folgende Momente zusammen: Nach innen soll die UdSSR möglichst bald die höchstentwickelten kapitalistischen Länder in der Pro-Kopf- Produktion einholen und überholen. „In der Sowjetunion werden drei Viertel des Nationaleinkommens dafür verwendet, die persönlichen Bedürfnisse der Werktätigen zu befriedigen. In

Umfang und Tempo des Wohnungsbaues nimmt die Sowjetunion den ersten Platz in der Welt ein. In der Sowjetunion haben jetzt 40 Prozent der Arbeiter und mehr als 23 Prozent der Kolchosbauern Mittel- und Hochschulbildung. In den nächsten Jahren werden weiter mindestens 8,000.000 Hektar Neuland urbar gemacht werden.”

Und so weiter. Chruschtschow verspricht den breiten Massen eine konkrete Hebung des gesamten Lebensstandards — den Massen der Völker der Sowjetunion, die heute, Ende 1961, trotz vielfacher Behinderungen, sich weithin ein recht gutes Bild vom westlichen Lebensstandard machen können. Auch wenn nicht alle 5000 Delegierten des 22. Parteitages wissen mögen, daß der Hauptteil der technischen Einrichtungen des neuen Saales, in dem dieser hochbedeutsame Kongreß soeben eröffnet wurde, aus dem Westen importiert wurde.

Wer soll die Kosten für diesen Fortschritt bezahlen? Wer soll und muß den politischen Preis dafür bezahlen? Chruschtschow sprach da seine Gegner offen an, wie nie seit der berühmten Rede zur Entlarvung Stalins am 20. Parteitag: cs sind die „Stalinisten”, es ist eine Militärbürokratie, und es sind auswärtige Verbündete beider Gruppen, in Albanien und andernorts, wobei ein Teil der gegenwärtigen Parteiführung in Peking mitzudenken ist. Chruschtschows Bericht über die Machtkämpfe im Kreml, in der Sowjetunion und im Weltkommunismus zeigt deren Schwere auf — und nicht zuletzt die Tatsache, daß sie lange noch nicht beendigt sind. Dies ist beunruhigend für ihn, und es ist beunruhigend für uns, je aus verschiedenen Gründen und Motiven. Chruschtschow wählte als Symbolfiguren für den mächtigen Stalinismus die Namen Molotow. Bulganin, Kaganowitsch, Malenkow, Schu- kow, Perwuchin, Saburow und Sche- pilow. Große Namen, hinter denen und um die nach wie vor einflußreiche Gruppen stehen. Diese Parteibürokratie braucht den innenpolitischen Schrecken, die politische Terrorisierung, um an der Macht bleiben zu können, um ihre Macht ausbauen zu können, ln einem innerlich befriedeten, wohlstandsgesichcrten russischen Raum würden ihre Eiskerne schmelzen wie Hagel an der Sonne. Als Verbündeten dieser Parteibürokratie, die Chruschtschow zufolge die Machtübernahme im Zentralkomitee anstrebte. spricht er selbst eine Militär- biirokrati- an, wobei er als Chiffren für viele die Namen Schukow und Woroschilow nennt.

Die Militärbürokratie braucht den äußeren Schrecken, die Drohungen der „Imperialisten”, um sich als einzige Verteidiger des Kommunismus und des heiligen Rußlands aufspielen zu können. War es in diesem Zusammenhang eine denkwürdige Assoziation oder eine bedeutsame Spekulation Chruschtschows, daß er unter dem Beifall der Fünftausend ausrief — in Ankündigung des letzten Atombombentests im Oktober: „Wir besitzen auch eine 100-Megatonnen-Bombe. Aber wenn wir sie zur Explosion bringen, bin ich nicht sicher, ob nicht auch noch die Fensterscheibei. in Moskau kaputt gingen. Möge Gott uns davor bewahren, daß wir diese Waffe jemals anwenden müssen.”

Die stalinistische Parteibürokratie braucht den inneren Schrecken, die Militärbürokratie braucht den äußeren Schrecken.

Chruschtschow möchte beide überspielen, er möchte die bedeutenden Mittel des Mammutstaates für seine Pläne in Dienst stellen. Wobei er unerschütterlich überzeugt ist, auf diese Weise die Welt mitzugewinnen.

Wer wird in diesem Ringen siegen? Endgültig siegen? Vielleicht ist diese Form der Frage falsch gestellt. Partei, Wehrmacht und Volk sollen ja nicht nur nach dem Willen Chruschtschows zu einer unteilbaren und einer Vollmacht verbunden werden. Wichtiger ist im Moment vielleicht ein anderes. Wen sehen Chruschtschow und seine Freunde als gefährlicheren inneren Gegner an? Wohl in keiner Weise die Marschälle und Militärs: Deren wirkliches politisches Gewicht war in Rußland fast immer gering, sehr oft fiel es überhaupt nicht in die Waagschale: weder im Zarenreich noch im Sowjetstaat. Stark, einflußreich und seit Jahrzehnten eingewurzelt ist die „stalinistische” Parteibürokratie, gerade als Herrin des inneren Schreckens. Eben in diesem Punkt, der ihre stärkste Macht und ihre in den Augen der Mas sen und der neueren Intelligenz anfechtbarste Stelle ist, sucht Chruschtschow ihre Achillesferse zu finden. Er weiß sich, vielleicht auch aus taktischen Gründen, nicht berufen, selbst und persönlich als erster dieses Moment anzusprechen. Genau am Vorabend des 22. Parteitages brachte aber soeben das ideologische Organ der KPdSU, der „Kommunist”, eine scharfe Kritik an der sowjetischen Justiz aus der Feder des Professors Strogowitsch. Dieses prominente Mitglied der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, das jener jüngeren Intelligenz zuzurechnen ist, die Chruschtschow auf seiner Seite um sich zu scharen und für sich zu gewinnen sucht, erklärt: Das neue Parteiprogramm der KPdSU, das vom Parteitag beschlossen werden soll, garantiere nicht „die gesetzlichen Rechte des Individuums in der Sowjetunion”. Strogowitsch fordert die Aufnahme des Zusatzes in das neue Programm: „Die Partei übernimmt die Aufgabe des Schutzes der Rechte und Interessen aller Sowjetbürger in allen Sphären des Staates und des sozialen Lebens, sie wird diese Rechte erweitern, und sie garantiert darüber hinaus die Möglichkeit für alle Sowjetbürger, ihre Rechte einzuklagen und öffentlich geltend zu machen. Sie garantiert weiter, jeden Versuch zu zerschlagen, diese Rechte zu verletzen, einerlei gegen welchen sich ein solcher Versuch richten sollte.”

Nun, hier öffnet sich der Kreis der Probleme, nach innen und nach außen: Versuche, diese Rechte des Sowjet- bürgers zu verletzen, sind höchst erfolgreich in den Jahrzehnten des Stalinismus und seiner Epigonen gemacht worden. Von der Parteibürokratie alten Schlages und ihrer Justizverwaltung. Ein Sowjetvolk der Zukunft, in Frieden und Wohlstand, bedürfte der Befreiung vom inneren und äußeren Schrecken. Desselben bedarf die ganze Welt.

Hier setzt die ungeheure Verantwortung der führenden Staatsmänner des Westens ein: sie wissen, wie es Belgiens Außenminister Spaak soeben am 15. Oktober erklärte und Senator Humphrey unterstrich: Der Augenblick für Ost-West-Verhandlungen ist gekommen. Beide Partner und Gegner haben für den Weltfrieden der Zukunft Preise zu bezahlen, die sie gegenwärtig noch nicht bereit, teilweise nicht frei sind, zu bezahlen. Eben hier werden die Auseinandersetzungen der nächsten Zukunft ansetzen.

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