Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Kriegserlebnisse der Ewigen Stadt
Rom war bis zum Jahre 1942 eine Insel der Seligen, auf der man vom Krieg nicht mehr wußte, als in den Zeitungen stand. Der römische Kleinbürger verfolgte den Gang der Ereignisse „drunten, weit in der Türkei“ im wohligen Gefühle des Geborgenseins. Aber mit dem neuen Jahre wandelte sich das Bild und verdüsterte sich immer mehr.
Als anfangs September Waffenstillstand war, wenige Tage später Rom durch die Deutschen besetzt wurde und Requirierungen, Verhaftungen, Verschleppungen, Erschießungen und die Hinrichtung von 320 Geiseln auf der alten Gräberstraße Via Appia erfolgten, begann sich die Lage Roms auf das kritischeste zu gestalten. Im Jänner 1944 waren die Amerikaner in Nettuno, kaum 40 Kilometer vor Roms Toren, gelandet. Die amerikanischen Bomber konnten Rom nun in drei bis vier Minuten erreichen, so daß in den meisten Fällen gar kein Alarm gegeben werden konnte; im April zählte man täglich gegen 15 bis 25 Bombardierungen, der größte Teil davon ohne Alarm. Wohl hatte die Regierung Rom zur offenen Stadt erklärt, aber die Alliierten stellten Bedingungen (die Entfernung der deutschen Kommanden, Ablenkung des deutschen Nachschubverkehrs von Rom usw.), die wieder Hitler nicht akzeptierte, da ihm Rom als Etappenort viel zu bequem lag. Der Heilige Vater bemühte sich unablässig in Verhandlungen mit den Alliierten, Rom vor Straßenkämpfen und Zerstörungen zu bewahren, Und wenn Rom trotz aller Gefahren von Massenschäden verschont blieb, ist dies allein seiner väterlichen Fürsorge zu verdanken.
Rom gelangte jetzt an den Rand der Hungersnot. Die Stadt lebte buchstäblich nur mehr von ihren Vorräten, denn jeder Versuch, Lebensmittel heranzuschaffen, scheiterte. Die Zufahrtsstraßen wurden Tag und Nacht, ohne Unterlaß, bombardiert. Tagsüber durfte überhaupt kein Fahrzeug Rom verlassen, aber auch von jenen, die nachts das Wagnis unternahmen, kam kaum die Hälfte zurück. Die Umgebung Roms war zu einem Autofriedhof geworden, so daß selbst die höchsten Angebote die Auto-besitzer nicht lockten. Gemüse, Obst, von Fleisch nicht zu sprechen, waren Dinge der Erinnerung geworden, und wenn einmal ein Weiblein aus der Peripherie Roms es wagte, mit einem Korb voll Zichoriensalat die Stadt zu betreten, war sie im Nu von verhungerten Frauen ihrer Ware beraubt!
So kam der 5. Juni heran. Die deutschen Truppen in Rom waren in Gefahr, von Osten her umgangen zu werden, und nun erst entschloß sich Hitler, Rom zu räumen. Die Befreiung erfolgte geradezu wie ein Wunder: sie war eher eine Wachablösung, denn ein Abzug und Einmarsch einander feindlicher Kräfte; manche Straßen waren von den Deutschen noch
verlassen, als amerikanische Tanks sich am anderen Straßenende zeigten. Wenige Tage nach der erfolgten Befreiung veranstaltete das römische Volk eine Dankeskundgebung für den Heiligen Vater, wohl wissend, daß die Unversehrtheit der Stadt nur seinen väterlichen Bemühungen zu verdanken war.
Die Amerikaner brachten sofort Lebensmittel in die hungernde Stadt, die Rationen wurden erhöht, die Zufahrtstraßen frei, und Lebensmittel konnten aus der Umgebung herangeführt werden. Jetzt begann die Schwarze Börse zü funktionieren. Bald standen an allen Ecken und Enden Stände, an denen Weißbrot und Schinken, Schokolade und Kaffee, amerikanische Zigaretten und Butter öffentlich verkauft wurden, an jene . . , die es sich leisten könnten. Der Schwarze Handel — der Ausdruck war grundfalsch, denn der Verkauf erfolgte in aller Öffentlichkeit — ward bald zur Pest: viele Zehntausende von Flüchtlingen aus allen Teilen des Landes waren nach Rom geströmt, drängten sich, verschmutzt und in Lumpen gehüllt, bettelnd durch die Straßen oder befaßten sich mit der Heranschafffung und dem Vertrieb von Lebensmitteln und Bedarfsartikeln. Schon vor dem Kriege hatte sich Roms Bevölkerung übermäßig vermehrt. Mussolini hatte in seiner Großmannssucht geplant, aus Rom eine Dreimillionenstadt zu machen. Immer neue Menschenmassen waren herangepumpt worden, fast ausnahmslos aus den südlidien Teilen der Halbinsel, oft nur die Hefe des Volkes, die gehofft hatte, in Rom vom Faschismus erhalten zu werden. Dies rächte sich jetzt bitter: die Hilfe der Faschisten war weggefallen, und um sich über Wasser zu halten, ergab sich ein Teil dieser wurzellosen Masse dem Schwarzhandel, ein Teil aber dem Verbrechen Die gesteigerte Kriminalität ist eine bekannte Nachkriegserscheinung; in Rom aber hatte sie ihre besonderen Ursachen. Während der deutschen Besetzung waren Nichtablieferung der Ernte, Fahnenflucht, Überfälle auf Transporte eine nationale Tugend gewesen Was früher Verdienst war, ward jetzt zur Gewohnheit. Dazu kamen noch andere Umstände: Mangel an Verdienst, die Verelendung Hunderttausender durch Verlust von Haus und Hof, die Zusammen drängung enormer Menschenmassen und die Ohnmacht der öffentlichen Gewalt.
Bald gab es kein Geschäft der inneren Bezirke, in dem nicht einige Male eingebrochen worden war. Bei Beginn der Dunkelheit konnte man die Wohnung nur mit Lebensgefahr verlassen. Die Raubüberfälle auf den großen Straßen um Rom wurden von Banden ausgeführt, die Tanks, Maschinengewehre und Geschütze besaßen, so daß sogar alliierte Militärtransporte mit Erfolg angegriffen wurden.
Aber noch waren die Leiden der Römer nicht erschöpft: die Deutschen hatten vor ihrem Abzüge alle Elektrizitätswerke zerstört, Waggons, Lokomotiven und Fabrikseinrichtungen verschleppt. Rom blieb Monate hindurch ohne Licht, ohne Gas, ohne Eisenbahnen, teilweise sogar ohne Wasser. Anstatt 120.000 Kilowatt standen 12.000 Kilowatt zur Verfügung; die Stadt wurde in vier Zonen geteilt, die abwechselnd hätten spärlich beleuchtet werden sollen . . ., wenn auch nicht diese geringe Menge gefehlt hätte. Mangels an Waggons — Rom sah über ein Jahr keinen Eisenbahnzug — mußte alles per Auto herangeschafft werden, und dies bedeutete nicht nur eine maßlose Verteuerung aller Waren, sondern auch neue Gelegenheiten für das Banditentum und den Schwarzen Markt.
Als es nun nach einem Jahr schweren Ringens gelungen war, wenigstens des aller-ärgsten Banditentums Herr zu werden und die öffentlichen Dienste auch wieder zu funktionieren begannen, da zeigte sich erst, welche Verheerungen die über-standenen Zeiten zurückgelassen hatten. Rom war — materiell — im großen und ganzen unversehrt geblieben, in Trümmer gegangen aber war seine Moral. Der vor und während des Krieges zugewanderte Mob war rmr allzu leicht den Versuchungen unterlegen. Sowohl auf politischem, sexuellem als wirtschaftlichem Gebiete ist die Moral auf eine, Stufe gesunken, die für die Zukunft wenig Gutes erwarten läßt. Eine grenzenlose Vergnügungssucht hat die Jugend erfaßt. Alle Kinos sind überfüllt, Vergnügungslokale zweifelhafter Natur, wie sie früher in Rom unbekannt waren, sind an allen Ecken und Enden entstanden, pornographische Zeitschriften finden reißenden Absatz, die Stadt faßt nicht mehr die neugegründeten „Tanzlokale“; sogar jenseits des Tiber mußten solche gebaut werden. Die Teilnahme breitester Volkskreise am wucherischen Zwischenhandel hat die Geschäftsmoral untergraben. Die Korruption der Beamtenschaft, schon immer ein Krebs-übel Italiens, hat nunmehr infolge der in den Zeiten der Inflation ganz und gar ungenügend gewordenen Hungerlöhne erschreckende Formen angenommen. Ein schier grenzenloser Egoismus hat die Massen ergriffen. Jede Hoffnung auf Besserung, jeder Optimismus ist geschwunden, Jeder Versuch, Besserung zu schaffen, jeder Aufruf wir Sammlung wird ak Harlekinismus verspottet. Von großem Schaden war die Schwäche der verschiedenen Regierungen, die allzu lange tatenlos zugesehen haben. Heute liegt ein tiefer Abgrund zwischen dem wahrhaft katholischem Teile der Bevölkerung und den übrigen: hier Aufopferung, tätige Nächstenliebe, dort zynischer Egoismus, der auch vor der drohenden .i'elbstvernichtung nicht zurückschreckt, wenn nur augenblicklicher Vorteil lockt. Der Übermut einer siegestrunkenen Gesellschaft ist abstoßend, aber der Übermut einer anderen, die nach einem furchtbaren Zusammenbruch zwischen Trümmern und Gräbern tanzt, ist schreckenerregend.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!